Читать книгу Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden - Selma Lagerlöf - Страница 16

Der große Kranichtanz auf dem Kullaberg

Оглавление

Dienstag, den 29. März

Obwohl man in Schonen viele prächtige Gebäude sehen kann, muss man zugeben, dass keins von ihnen so schöne Wände hat wie der alte Kullaberg.

Der Kullaberg ist niedrig, langgestreckt und ausgedehnt, ohne einen scharfen Kamm. Auf seinem flachen Rücken erstrecken sich Wälder und Felder und ein paar Heideflächen. Hier und da ragen runde Hügel mit Heidekraut und nackte Steinbuckel auf. Dort oben ist es nicht besonders schön und genauso wie in jeder anderen hochgelegenen Gegend von Schonen.

Wer auf der Landstraße wandert, die mitten über den Berg führt, wird von diesem Anblick ein wenig enttäuscht sein. Doch vielleicht weicht er vom Wege ab, geht an den Rand der Hochfläche und schaut die steilen Hänge hinunter. Dann entdeckt er auf einmal so viel Sehenswertes, dass er kaum weiß, wie er all das mit seinen Augen aufnehmen soll. Der Kullaberg liegt nämlich nicht von Ebenen und Tälern umgeben im Land, sondern hat sich so weit ins Meer hinausgestürzt, wie es ihm möglich war. Er hat nicht das kleinste Stückchen Boden an seinem Fuß, das ihn gegen die Meereswellen schützen könnte, die bis an seine Wände schlagen und sie abtragen und formen, wie es ihnen beliebt.

Daher sind diese Felsenwände auch so reich verziert, wie das Meer und sein Gehilfe, der Wind, es vermochten. Da gibt es schroffe Klüfte, die tief in die Hänge geschnitten sind, und schwarze Felsenvorsprünge, die von den ständigen Peitschenschlägen der Brandung blankgeschliffen wurden. Da gibt es einzelne Felsensäulen, die senkrecht aus dem Wasser ragen, und dunkle Grotten mit schmalen Eingängen. Es gibt senkrechte, nackte Felsenwände und sanfte, laubbekleidete Hänge. Es gibt stattliche Felsentore, die sich über dem Wasser wölben, es gibt scharfkantige Steine, die der weiße Schaum ständig bespritzt, und andere, die sich im schwarzgrünen, reglosen Wasser spiegeln. Es gibt in den Felsen gemeißelte Riesentöpfe und riesige Spalten, die den Wanderer locken, sich in die Tiefe des Bergs hineinzuwagen.

Und über alle diese Klüfte und Klippen, hinauf und hinunter, kriechen und winden sich Ranken und Wurzeln. Auch Bäume wachsen dort, aber die Macht des Windes ist so groß, dass auch sie sich in Ranken verwandeln müssen, um sich auf den Steilhängen zu halten. Die Eichen kriechen am Boden entlang, überragt vom Laub wie von einem engen Gewölbe, und in den Klüften stehen wie große Laubzelte kurzstämmige Buchen.

Die seltsamen Bergwände, davor das weite, blaue Meer und darüber die schimmernde, klare Luft, das alles macht den Kullaberg für die Menschen so verlockend, dass sie jeden Tag, solange der Sommer dauert, in großen Scharen dorthin ziehen. Schwieriger lässt sich wohl sagen, warum er für die Tiere so anziehend ist, dass sie sich Jahr für Jahr dort zu einem großen Spiel versammeln. Dies ist jedoch seit uralten Zeiten Brauch.

Um von den Menschen unbemerkt zu bleiben, machen sich die Rothirsche, die Rehe, die Hasen, die Füchse und die übrigen wilden Vierbeiner schon in der Nacht vor der Zusammenkunft zum Kullaberg auf. Unmittelbar vor Sonnenaufgang ziehen sie alle auf den Spielplatz, eine Heidefläche links vom Wege, nicht sehr weit vom äußersten Vorsprung des Berges entfernt. Da der Platz ringsum von runden Felskuppen umgeben wird, sieht man ihn erst, wenn man ihn erreicht hat. Und im Monat März ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich irgendein Wanderer hierher verirrt.

Wenn die Vierbeiner auf dem Spielplatz angelangt sind, lassen sie sich auf den runden Felskuppen nieder. Jede Tierart bleibt für sich, obwohl alle wissen, dass an einem Tag wie diesem allgemeiner Friede herrscht und niemand einen Überfall zu fürchten braucht. An diesem Tag sollte ein kleines Häschen über den Hügel der Füchse wandern können, ohne auch nur einen seiner langen Löffel einzubüßen.

Schließlich haben alle ihre Plätze eingenommen und halten nun Ausschau nach den Vögeln. An diesem Tag ist immer schönes Wetter. Die Kraniche sind gute Wetterpropheten und würden die Tiere nicht zusammenrufen, wenn Regen angesagt wäre. Doch obwohl die Luft klar ist und nichts die Sicht behindert, können die Vierbeiner keine Vögel entdecken. Das ist sonderbar. Die Sonne steht hoch am Himmel, und die Vögel müssten längst unterwegs sein.

Die Tiere auf dem Kullaberg bemerken jedoch hier und da eine kleine dunkle Wolke, die langsam über die Ebene schwebt. Sieh da, eine dieser dunklen Wolken fliegt plötzlich zur Küste des Öresunds und nimmt Kurs auf den Kullaberg. Als sie mitten über dem Spielplatz ist, hält sie inne, und auf einmal beginnt die ganze Wolke zu klingen und zu singen, als bestünde sie aus lauter Tönen. Sie schwebt auf und nieder, auf und nieder und singt und klingt die ganze Zeit. Schließlich lässt sich die ganze Wolke auf einen Hügel fallen, und der ist im nächsten Augenblick über und über mit grauen Lerchen, prächtigen rot-grau-weißen Buchfinken, gesprenkelten Staren und grün-gelben Meisen bedeckt.

Gleich darauf zieht eine zweite Wolke über die Ebene heran. Sie verweilt über jedem Hof, über Landarbeiterkaten und Schlössern, über kleinen und größeren Städten, über Bauernhöfen und Bahnstationen, über Fischerdörfern und Zuckerfabriken, und jedesmal saugt sie eine dünne, wirbelnde Säule aus grauen Staubkörnchen zu sich empor. Auf solche Art wird sie größer und größer, und wenn sie endlich vollständig ist und Kurs auf den Kullaberg nimmt, ist sie keine Wolke mehr, sondern ein ganzes Gewölk, so groß, dass es einen Schatten von Höganäs bis Mölle wirft. Wenn dieses Gewölk über dem Spielplatz schwebt, wird die Sonne verdunkelt, und lange muss es auf einen der Hügel Sperlinge regnen, bis jene, die im Inneren des Gewölks geflogen waren, wieder einen Schimmer vom Tageslicht erblicken.

Jetzt aber nähert sich die größte dieser Vogelwolken. Die Schwärme, aus denen sie besteht, sind aus allen Richtungen gekommen, um sich ihr anzuschließen. Sie ist von tief graublauer Farbe, und kein Sonnenstrahl dringt durch sie hindurch. Wenn sie sich düster und furchterregend wie eine Unwetterwolke nähert, hört man den schrecklichsten Lärm, das grässlichste Geschrei, das höhnischste Gelächter und das unheilvollste Gekrächze. Alle auf dem Spielplatz sind froh, wenn sie sich endlich in einen Regen von flatternden, krächzenden Vögeln auflöst, in Krähen und Dohlen und Raben und Saatkrähen.

Was dann am Himmel erscheint, das sind nicht nur Wolken, sondern vielerlei Striche und Zeichen, und im Osten und Nordosten zeigen sich gerade, gestrichelte Linien. Es sind Waldvögel aus der Gegend von Göinge: Birkhühner und Auerhühner, die in langen Reihen, mit einigen Metern Abstand voneinander, geflogen kommen. Die Schwimmvögel, die auf der kleinen Insel Måkläppen vor Falsterbo zu Hause sind, schweben in vielen sonderbaren Formationen über den Öresund und bilden Dreiecke und langgezogene Winkel, schiefe Haken und Halbkreise.

In jenem Jahr, als Nils Holgersson mit den Wildgänsen durchs Land reiste, kam Akka mit ihrer Schar später als alle anderen zum großen Treffen auf dem Kullaberg. Das war kein Wunder, denn sie hatte auf ihrem Weg ganz Schonen überfliegen müssen. Außerdem musste sie gleich nach dem Erwachen erst den Däumling suchen, der viele Stunden seine Pfeife geblasen und die grauen Ratten weit weg von Glimmingehus gelockt hatte.

Auf der ganzen Reise rasteten sie nur ein einziges Mal, und zwar auf dem Vombsee, wo sich Akka mit ihren Reisekameraden vereinte und ihnen zurief, die grauen Ratten seien nun besiegt. Danach flogen sie geradenwegs zum Kullaberg.

Dort ließen sie sich auf jenem Hügel nieder, der den Wildgänsen vorbehalten war. Als der Junge nun seinen Blick von einem Hügel zum anderen wandern ließ, sah er, dass sich über dem einen die vielzackigen Geweihe der Rothirsche und über einem anderen die Nackenbüschel der Fischreiher erhoben. Ein Hügel war rot von Füchsen, einer schwarz und weiß von Meeresvögeln, einer grau von Ratten. Einer war mit schwarzen Raben besetzt, die unaufhörlich krächzten, ein anderer mit Lerchen, die auch nicht den Schnabel halten konnten, sondern unablässig aufstiegen und vor Freude sangen.

Wie es immer auf dem Kullaberg Brauch gewesen ist, durften die Krähen die Spiele und Späße des Tages mit ihrem Flugtanz eröffnen. Sie hatten sich in zwei Gruppen eingeteilt, die nun aufeinander zuflogen, sich begegneten, umkehrten und wieder aufeinander zuflogen. Dieser Tanz hatte viele Runden und nahm sich für die Zuschauer, die sich in seinen Regeln nicht auskannten, allzu einförmig aus. Während die Krähen auf ihren Tanz sehr stolz waren, freuten sich alle anderen, als sie damit aufhörten. Er war den Tieren ebenso düster und sinnlos wie das Spiel des Wintersturms mit den Schneeflocken erschienen und hatte sie traurig gestimmt. Nun warteten sie sehnsüchtig auf einen Auftritt, der sie ein wenig aufheitern könnte.

Sie brauchten auch nicht lange zu warten, denn sowie die Krähen verschwunden waren, kamen die Hasen gehoppelt. Sie strömten in einem langen Zug ohne besondere Ordnung herbei, manchmal einer allein, dann wieder drei oder vier nebeneinander. Alle hatten sich auf die Hinterläufe erhoben, und sie liefen so schnell, dass ihre langen Löffel in alle Richtungen flatterten. Dabei drehten sie Pirouetten und vollführten hohe Sprünge. Einige schlugen eine ganze Reihe von Purzelbäumen, andere krümmten sich zusammen und rollten wie Räder, einer wirbelte auf einem Bein herum, ein anderer ging auf den Vorderläufen. Das Spiel der Hasen war zwar ohne jede Ordnung, jedoch so lustig, dass die vielen Tiere, die ihnen zusahen, jetzt schneller atmeten. Der Frühling war da, es sollte Lust und Freude geben. Der Winter war vorbei, der Sommer nahte. Bald war das Leben nur noch ein Spiel.

Als sich die Hasen ausgetobt hatten, begannen die großen Waldvögel ihren Auftritt. Hundert Auerhähne mit hellroten Augenbrauen und glänzend schwarzbraunen Gewändern warfen sich auf eine große Eiche, die mitten auf dem Spielplatz stand. Der auf dem höchsten Zweig plusterte die Federn, ließ die Flügel sinken und streckte den Schwanz in die Höhe, so dass die weißen Deckfedern sichtbar wurden. Dann reckte er den Hals vor, und aus seiner verdickten Kehle kamen ein paar tiefe Töne, die wie »tjäck, tjäck, tjäck« klangen. Mehr brachte er nicht heraus, es gluckste nur ein paarmal tief in seiner Kehle. Dann schloss er die Augen und flüsterte: »Sis, sis, sis. Hört, wie schön! Sis, sis, sis.« Dabei geriet er in eine solche Verzückung, dass er nicht mehr wahrnahm, was um ihn herum geschah.

Während der erste Auerhahn noch sein »sis, sis« machte, stimmten die drei, die ihm am nächsten saßen, ihr Lied an. Bevor sie zu Ende gesungen hatten, begannen jene zehn, die unter ihnen saßen, und so ging es weiter von Zweig zu Zweig, bis sämtliche hundert Auerhähne sangen und glucksten und sis-sis-ten. Alle gerieten dabei in dieselbe Verzückung, und gerade das wirkte auf die anderen Tiere wie ein ansteckender Rausch. Eben noch war ihr Blut lustig und leicht geströmt, jetzt wurde es schwer und heiß. »Ja, es ist wirklich Frühling«, dachten die zahlreichen Tiervölker. »Die Kälte des Winters ist vorbei. Das Feuer des Frühlings brennt auf der Erde.«

Als die Birkhühner merkten, welchen Erfolg die Auerhähne hatten, konnten sie nicht länger ruhig bleiben. Es gab aber keinen Baum auf dem Spielplatz, auf dem sie Platz nehmen konnten, deshalb stürmten sie dorthin, wo das Heidekraut so hoch stand, dass nur ihre schön geschwungenen Schwanzfedern und ihre dicken Schnäbel zu sehen waren, und sangen: »Orr, orr, orr.«

Die Birkhühner hatten den Wettstreit mit den Auerhähnen gerade begonnen, da geschah etwas Unerhörtes. Während alle Tiere an nichts anderes als an die Auerbalz dachten, hatte sich ganz leise ein Fuchs zum Hügel der Wildgänse geschlichen. Er gelangte ziemlich weit hinauf, ohne dass ihn jemand bemerkte. Plötzlich wurde er doch von einer Gans entdeckt, und weil sie es für ausgeschlossen hielt, dass sich ein Fuchs in guter Absicht bei den Gänsen einschlich, begann sie zu schreien: »Gebt acht, Wildgänse! Gebt acht!« Der Fuchs biss ihr die Kehle durch, vermutlich um sie zum Schweigen zu bringen, doch die Wildgänse hatten die Warnung schon gehört und erhoben sich allesamt in die Luft. Jetzt sahen die anderen Tiere, dass auf dem Hügel, den die Wildgänse verlassen hatten, Fuchs Smirre stand, mit einer toten Gans in der Schnauze.

Er hatte seine Rachgier nicht bezwingen können und auf diese Art versucht, endlich an Akka und ihre Schar heranzukommen. Doch dafür, dass er den Frieden des Spieltags gestört hatte, bekam er eine so schwere Strafe, dass er es sein Leben lang bereuen sollte. Sofort wurde er von einer Schar Füchse umringt und entsprechend der alten Sitte verurteilt, derzufolge jeder, der den Frieden des großen Spieltags störte, des Landes verwiesen wurde. Kein Fuchs wollte dieses Urteil mildern, denn alle wussten, dass sie bei einem entsprechenden Versuch augenblicklich vom Spielplatz vertrieben würden und ihn nie wieder betreten dürften. Also gab es keinen Widerspruch, als über Smirre die Acht verhängt wurde. Der Aufenthalt in Schonen wurde ihm verboten, er musste Frau und Verwandte, Jagdrevier, Wohnung, Rastplätze und Verstecke, seinen gesamten bisherigen Besitz verlassen und sein Glück in der Fremde suchen. Um alle Füchse davon zu unterrichten, dass Smirre in dieser Landschaft vogelfrei war, biss ihm der älteste Fuchs die Spitze seines rechten Ohrs ab. Sobald das getan war, brachen alle jungen Füchse in ein blutrünstiges Geheul aus und fielen über Smirre her. Da blieb ihm kein anderer Ausweg als die Flucht, und mit sämtlichen Jungfüchsen auf den Fersen entfernte er sich schleunigst.

Während all das geschah, waren Birkhühner und Auerhähne mit ihrem Spiel beschäftigt und setzten es unverdrossen fort, ohne sich stören zu lassen.

Kaum hatten die Waldvögel ihren Wettstreit beendet, da ging ein Raunen von Hügel zu Hügel: »Jetzt kommen die Kraniche.«

Und dann erschienen die grauen, dämmergekleideten Vögel, mit Federbüschen an den Flügeln und rotem Federschmuck im Nacken. Mit ihren langen Beinen, den schlanken Hälsen, den kleinen Köpfen glitten die großen Vögel den Hügel hinunter wie in einem geheimnisvollen Rausch. Dabei drehten sie sich, halb fliegend, halb tanzend, hoben anmutig die Flügel, und all das mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Ihr Tanz hatte etwas Sonderbares und Fremdes und glich einem Spiel grauer Schatten, dem das Auge kaum zu folgen vermochte. Es war, als hätten sie diesen Tanz von den Nebeln gelernt, die über einsamen Mooren schweben. Darin lag Zauberei, und alle, die zum ersten Mal auf dem Kullaberg waren, verstanden, warum die ganze Zusammenkunft nach dem Tanz der Kraniche benannt war. Obwohl er etwas Wildes hatte, erweckte er ein Gefühl von süßer Sehnsucht. Keiner dachte jetzt mehr an Spielen. Dagegen wollten alle, Gefiederte und Federlose, unendlich hoch, bis über die Wolken steigen und suchen, was es dort oben gäbe. Sie wollten den schweren Körper, der sie zur Erde zog, verlassen, um zum Überirdischen davonzuschweben.

Eine solche Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, nach dem, was sich hinter dem Leben verbirgt, spürten die Tiere im Jahr nur einmal, und zwar an jenem Tag, an dem sie den großen Kranichtanz sahen.

Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden

Подняться наверх