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Der große Schmetterling
ОглавлениеMittwoch, den 6. April
Die Gänse flogen an der langgestreckten Insel entlang, die deutlich unter ihnen sichtbar war. Der Junge erkannte nun, dass sie im Inneren aus einer kahlen Hochebene bestand, mit einem breiten Kranz von gutem, fruchtbarem Land an den Küsten. Da wurde ihm der Sinn einer Erzählung klar, die er am Abend zuvor gehört hatte.
Er hatte gerade an einer der vielen Windmühlen auf der Hochebene gesessen und sich ausgeruht, da waren zwei Schäfer mit ihren Hunden und einer großen Schafherde im Gefolge herangezogen. Der Junge hatte keine Angst gehabt, denn unter der Treppe der Mühle war er gut versteckt. Doch nun ergab es sich, dass die Hirten auf eben dieser Treppe Platz nahmen. Da blieb dem Jungen nichts weiter übrig, als sich still zu verhalten.
Der eine Schäfer war jung und sah aus wie die meisten Leute. Der andere aber war ein seltsamer alter Kauz. Er hatte einen großen, knochigen Körper, jedoch einen kleinen Kopf und weiche, sanfte Gesichtszüge. Es schien, als wollten Körper und Kopf überhaupt nicht zusammenpassen.
Als er eine Weile stumm dagesessen hatte, begann er mit seinem Kameraden ein Gespräch. Dieser holte Brot und Käse aus seinem Beutel und machte sich an seine Abendmahlzeit. Er antwortete kaum, hörte jedoch sehr geduldig zu.
»Jetzt will ich dir etwas erzählen, Erik«, sagte der alte Schäfer. »Mir ist der Gedanke gekommen, dass in früheren Zeiten, als Menschen und Tiere viel größer waren als heutzutage, wohl auch die Schmetterlinge eine ganz unglaubliche Größe erreichten. Und da gab es einmal einen Schmetterling, der war viele Meilen lang, und seine Flügel waren breit wie Seen. Sie waren blau und silberglänzend und so prächtig, dass ihm alle anderen Tiere nachschauten, wenn er durch die Luft flog.
Natürlich war es für ihn ein Nachteil, dass er zu groß war. Die Flügel konnten ihn nur mit Mühe tragen. Doch alles wäre noch gut gegangen, wäre er nur so klug gewesen und über dem Land geblieben. Das aber tat er nicht, sondern er begab sich hinaus auf die Ostsee. Und er war gar nicht weit geflogen, da kam ihm der Sturm entgegen und zerzauste ihm die Flügel. Ja, Erik, es lässt sich leicht vorstellen, was passieren musste, als der Ostseesturm die zarten Schmetterlingsflügel in die Finger bekam. Es dauerte nicht lange, da waren sie ausgerissen und davongewirbelt, und der arme Schmetterling fiel natürlich ins Meer. Zuerst schleuderten die Wellen ihn hin und her, dann warfen sie ihn auf ein paar Klippen vor Småland, und da blieb er liegen, in seiner ganzen Größe und Länge.
Nun denke ich mir, Erik, dass der Schmetterling auf dem festen Land bald verwittert und zerfallen wäre. Aber weil er ins Meer gefallen war, wurde er von Kalk durchsetzt und so hart wie Stein. Du weißt ja, dass wir am Strand Steine gefunden haben, die waren nichts weiter als versteinerte Würmer. Und ich glaube nun, dass es dem großen Schmetterlingskörper genauso erging. Ich glaube, als er da in der Ostsee lag, da wurde er zu einer langen, schmalen Klippe. Meinst du nicht auch?«
Er wartete auf eine Antwort, und der andere nickte ihm zu. »Erzähl weiter und lass mich hören, worauf du hinaus willst!«, sagte er.
»Jetzt pass mal auf, Erik, diese Insel Öland, auf der wir beide leben, die ist nichts anderes als der alte Schmetterlingskörper. Man braucht nur nachzudenken, dann merkt man, dass sie ein Schmetterling ist. Im Norden hat man den schmalen Oberkörper mit dem runden Kopf und im Süden den Unterkörper, der erst breiter und dann schmaler wird und in einer scharfen Spitze endet.«
Hier machte er wieder eine Pause und sah den Gefährten an, als sei er unsicher, wie diese Behauptung aufgenommen würde. Aber der Jüngere forderte ihn nur nickend zum Weitersprechen auf.
»Als nun der Schmetterling in einen Kalksteinfelsen verwandelt war, kamen mit dem Wind vielerlei Samen von Kräutern und Bäumen zu ihm geflogen und wollten Wurzeln schlagen. Doch auf dem kahlen, glatten Stein fanden sie schwer einen Halt. Es dauerte lange, bis dort etwas anderes als Riedgras gedieh. Dann kamen Schafschwingel, Sonnenröschen und Dornengebüsch. Auf Alvaret, der Kalksteinebene, ist die Pflanzendecke heute noch so dünn, dass der Fels nicht überall bedeckt ist, sondern hier und da hervorschimmert. Und niemand kann davon träumen, auf dieser dünnen Erdschicht zu pflügen und zu säen.
Wenn du mir nun darin zustimmst, dass die Kalksteinebene und die Strandwälle rundherum aus dem Schmetterlingskörper entstanden sind, dann kannst du mit Recht fragen, woher das Land unterhalb davon gekommen ist.«
»Ja, genau«, sagte der Schäfer kauend, »das hätte ich gern gewusst.«
»Du musst bedenken, dass Öland schon seit vielen, vielen Jahren im Meer liegt, und in dieser Zeit hat sich alles, was in den Wellen treibt, Tang und Sand und Muscheln, rings um die Insel angesammelt und ist liegen geblieben. Und vom östlichen wie vom westlichen Strandwall fielen Kies und Steine. Auf diese Weise sind die breiten Uferstreifen entstanden, und darauf können Getreide und Blumen und Bäume wachsen.
Hier oben, auf dem harten Schmetterlingsrücken, weiden nur Schafe und Kühe und Ponys; hier wohnen nur Kiebitz und Brachvogel, und an Bauten gibt es nur Windmühlen und ein paar armselige Steinunterkünfte, in denen wir Hirten uns verkriechen. Doch unten am Strand gibt es große Bauerndörfer und Kirchen und Pfarrhöfe und Fischerdörfer und eine ganze Stadt.«
Er sah den anderen fragend an. Der hatte aufgehört zu essen und knüpfte gerade seinen Proviantbeutel zu. »Ich frage mich, worauf du mit alledem hinaus willst«, sagte er.
»Ja, ich möchte nur eins wissen«, sagte der Schäfer und senkte die Stimme fast bis zum Flüstern, während seine kleinen Augen in den Nebel blickten, müde vom Spähen nach allem, was es nicht gibt, »ich möchte nur wissen, ob die Bauern, die in den viereckigen Höfen unterhalb der Strandwälle wohnen, oder die Fischer, die den Strömling aus dem Meer holen, oder die Kaufleute in Borgholm oder die Badegäste, die jeden Sommer herkommen, oder die Reisenden, die in den Ruinen von Schloss Borgholm herumstreifen, oder die Jäger, die hier im Herbst Rebhühner jagen, oder die Maler, die auf der Kalksteinebene sitzen und die Schafe und die Windmühlen malen – ich möchte gern wissen, ob einer von ihnen versteht, dass diese Insel einmal ein Schmetterling war, der mit großen, schimmernden Flügeln über das Meer geflogen ist.«
»O doch«, sagte der junge Schäfer plötzlich, »von denen, die abends am Rand des Strandwalls saßen und die Nachtigallen im Gebüsch der Wiese schlagen hörten und auf den Kalmarsund schauten, dürfte es wohl manch einem aufgegangen sein, dass diese Insel nicht auf dieselbe Art entstanden sein kann wie die anderen.«
»Ich möchte wissen«, fuhr der Alte fort, »ob wohl ein Einziger den Wunsch verspürt hat, die Windmühlen mit so großen Flügeln zu versehen, dass sie bis in den Himmel reichten und imstande wären, die ganze Insel aus dem Meer zu heben, damit sie fliegen könnte wie ein Schmetterling unter Schmetterlingen.«
»Vielleicht ist an deinen Worten etwas dran«, entgegnete der Jüngere, »denn in den Sommernächten, wenn sich der Himmel hoch und riesig über der Insel wölbt, da ist es mir manchmal so vorgekommen, als wollte sich die Insel aus dem Meer erheben und davonfliegen.«
Doch als der Alte den Jungen nun endlich zum Reden gebracht hatte, hörte er ihm kaum zu. »Ich möchte so gern wissen«, sagte er noch leiser, »ob jemand erklären kann, warum über der Kalksteinebene so eine Sehnsucht liegt. Ich habe sie alle Tage meines Lebens empfunden, und ich glaube, dass sie einem jeden, der sich hier aufhält, ins Herz dringt. Ich möchte wissen, ob denn kein anderer verstanden hat, woher all dieses Sehnen kommt – nämlich daher, dass die ganze Insel ein Schmetterling ist, der sich nach seinen Flügeln sehnt.«