Читать книгу Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden - Selma Lagerlöf - Страница 9

Die Nacht

Оглавление

Es ist eine Tatsache, dass Eis stets trügerisch ist und niemals zuverlässig. Mitten in der Nacht geriet die schwimmende Eiskruste des Vombsees in Bewegung und berührte an einer Stelle das Ufer. Da geschah es nun, dass Fuchs Smirre, der zu jener Zeit am östlichen Ufer im Park von Övedskloster wohnte, eben diese Stelle bei seiner nächtlichen Pirsch entdeckte. Er hatte die Wildgänse schon am Abend bemerkt und begab sich sofort aufs Eis.

Er war ihnen schon ganz nahe, als er ausrutschte, so dass seine Krallen über die blanke Fläche schurrten. Die Gänse erwachten, flatterten mit den Flügeln und wollten sich in die Luft erheben. Doch Smirre war schneller als sie. Wie ein Blitz stürzte er los, bekam eine Gans am Flügelknochen zu fassen und eilte in Richtung Land.

In dieser Nacht waren die Wildgänse jedoch nicht allein auf dem Eis, ein Mensch war bei ihnen, auch wenn er noch so klein war. Der Junge war davon aufgewacht, dass der Gänserich mit den Flügeln geschlagen hatte. Er war aufs Eis gefallen und schlaftrunken sitzen geblieben. Die Unruhe um ihn herum war ihm gar nicht zu Bewusstsein gekommen, bis er einen kleinen, kurzbeinigen Hund erblickte, der mit einer Gans in der Schnauze übers Eis davonlief.

Sofort rannte der Junge hinter diesem Hund her, um ihm die Gans wegzunehmen. Er hörte zwar den Gänserich hinter sich rufen: »Sieh dich vor, Däumling! Sieh dich vor!«, doch er glaubte nicht, dass er sich vor so einem kleinen Hund zu fürchten brauchte.

Die Wildgans, die Fuchs Smirre wegschleppte, wollte kaum ihren Ohren trauen, als sie die Holzschuhe des Jungen auf dem Eis klappern hörte. »Will dieser Knirps mich etwa dem Fuchs entreißen?«, fragte sie sich. »Als Erstes wird ihm passieren, dass er in eine Eisspalte fällt.«

Doch trotz finsterer Nacht erkannte der Junge alle Risse und Löcher im Eis genau und sprang kühn über sie hinweg, denn er besaß jetzt die guten Nachtaugen der Kobolde und konnte auch im Dunkeln sehen.

Als Fuchs Smirre die Stelle erreichte, wo das Eis ans Ufer stieß, sprang er an Land, und gerade als er sich den Hang hinaufarbeitete, rief ihm der Junge zu: »Lass die Gans los, du Strolch!« Smirre, der nicht wusste, wer da gerufen hatte, nahm sich zum Umblicken keine Zeit, sondern lief nur noch schneller.

Er eilte in einen großen, prächtigen Buchenwald, und der Junge folgte ihm, ohne an irgendeine Gefahr zu denken. Stattdessen dachte er unentwegt daran, mit welcher Verachtung die Wildgänse ihn vor ein paar Stunden empfangen hatten, und jetzt wollte er ihnen so gern beweisen, dass ein Mensch doch ein bisschen besser war als alle anderen Geschöpfe.

Immer wieder rief er dem Hund zu, er solle seine Beute loslassen. »Was bist du bloß für ein Hund, dass du dich nicht schämst, eine ganze Gans zu stehlen?«, sagte er. »Lass sie sofort los, oder du kriegst eine ordentliche Tracht Prügel!«

Als Fuchs Smirre merkte, dass er für einen Hund gehalten wurde, der sich vor Prügeln fürchtete, wurde er so vom Lachen gekitzelt, dass er die Gans fast verloren hätte. Smirre war ein großer Räuber, der sich keineswegs damit begnügte, auf den Feldern Ratten und Wühlmäuse zu fangen, sondern der sich auch bis auf die Höfe wagte und Hühner und Gänse stahl. Er wusste, dass er in der ganzen Gegend gefürchtet war. So etwas Verrücktes hatte er seit seiner Kinderzeit nicht mehr gehört.

Aber der Junge lief schnell genug, um gegen ihn aufzuholen. Endlich war er dem Fuchs so nahe, dass er seinen Schwanz erwischte. »Jetzt nehme ich dir die Gans doch weg!«, rief er und zerrte, was er nur konnte. Seine Kräfte reichten jedoch nicht aus, um Smirre aufzuhalten. Der Fuchs schleifte ihn hinter sich her, dass um ihn herum das trockene Buchenlaub aufwirbelte.

Doch jetzt war es Smirre wohl aufgegangen, wie ungefährlich sein Verfolger war. Er blieb stehen, legte die Gans nieder und stellte seine Vorderpfoten darauf, damit sie nicht wegfliegen konnte. Aber bevor er ihr die Kehle durchbiss, musste er diesen Knirps doch noch ein bisschen ärgern. »Nun lauf zum Herrn und beschwere dich, jetzt beiße ich die Gans nämlich tot!«, sagte er.

Als der Junge die spitze Nase des Hundes sah, den er verfolgt hatte, und seine heisere, böse Stimme hörte, konnte er sich vor Staunen erst gar nicht fassen. Doch als sich der Fuchs nun über ihn lustig machte, packte ihn eine solche Wut, dass er an Angst gar nicht dachte. Er griff noch fester zu, stemmte sich gegen eine Buchenwurzel, und gerade als der Fuchs den Rachen über der Gänsekehle aufriss, zog er mit aller Kraft an seinem Schwanz. Das kam für Smirre so überraschend, dass er sich ein paar Schritte rückwärtsziehen ließ und die Wildgans freigab. Sie bewegte sich schwerfällig, denn einer ihrer Flügel war verletzt und kaum zu gebrauchen. Hinzu kam, dass sie im nächtlichen Waldesdunkel nichts sah. Sie konnte dem Jungen deshalb nicht im Geringsten helfen, sondern schlüpfte durch eine Lücke im Geäst und flog hinunter zum See.

Smirre aber stürzte sich auf den Jungen. »Kriege ich die eine nicht, dann kriege ich eben den anderen«, sagte er, und seiner Stimme war anzuhören, wie groß sein Zorn war.

»Glaub bloß nicht, dass du das schaffst!«, sagte der Junge und war sehr vergnügt, weil er die Gans gerettet hatte. Er hielt den Schwanz noch immer fest, und als der Fuchs ihn zu fangen versuchte, schwang er sich damit hinüber zur anderen Seite.

Es gab einen Tanz im Wald, dass das Buchenlaub wirbelte. Smirre drehte sich fortwährend im Kreis, und sein Schwanz drehte sich mit, und der Junge hielt sich daran fest, und der Fuchs konnte ihn nicht fassen.

Zu Anfang lachte der Junge nur und machte sich über den Fuchs lustig, doch Smirre war ein alter Jäger und beharrlich, und es sah so aus, als sollte er den Jungen am Ende doch erwischen.

Da entdeckte der Junge eine kleine Jungbuche, die schmal wie eine Gerte in die Höhe geschossen war, um möglichst schnell in die freie Luft oberhalb des Daches zu kommen, das die alten Buchen mit ihren Ästen über sie ausgebreitet hatten. Blitzschnell ließ er den Fuchsschwanz los und kletterte an der Buche empor. Der Fuchs tanzte in seinem Übereifer noch lange Zeit seinem Schwanz hinterher. »Brauchst nicht mehr zu tanzen!«, sagte der Junge.

Für Smirre war es eine unerträgliche Schmach, dass er einen so winzigen Knirps nicht besiegt hatte, und deshalb legte er sich unter den Baum und lauerte ihm auf.

Der Junge saß auf einem dünnen Zweig, was nicht allzu angenehm war. Er konnte zu keinem der anderen Bäume klettern, und auf den Boden zu springen getraute er sich nicht.

Er fror so sehr, dass er fast erstarrte, und entsetzlich müde war er auch, doch aus Angst, er könnte dann hinunterstürzen, wagte er nicht einzuschlafen.

Es war grauenhaft, nachts draußen im Wald zu sitzen. Zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr der Junge, was Nacht eigentlich bedeutet. Ihm war, als sei die ganze Welt versteinert und könne nie wieder zum Leben erwachen.

Endlich dämmerte der Morgen, und der Junge freute sich, dass alles sich wieder ähnlich wurde, obwohl die Kälte jetzt noch grimmiger war als in den Nachtstunden.

Als schließlich die Sonne aufging, da war sie nicht gelb, sondern rot. Dem Jungen kam es so vor, als wäre sie böse – aber warum sollte sie böse sein? Vielleicht weil die Nacht, als sie nicht da war, die Erde so kalt und düster gemacht hatte.

Die Sonnenstrahlen jagten in großen Bündeln heran und wollten sehen, was die Nacht angerichtet hatte, und alles schien zu erröten, als hätte es ein schlechtes Gewissen. Die Wolken am Himmel, die seidenglatten Buchenstämme, die kleinen, ineinandergeflochtenen Zweige des Walddaches, der Raureif, der das Buchenlaub am Boden bedeckte – alles erglühte und wurde rot.

Immer mehr Strahlenbündel jagten durch den Raum, und bald war das Grauen der Nacht restlos vertrieben.

Die Versteinerung war aufgehoben, und es war seltsam, wie viel Lebendiges jetzt zum Vorschein kam. Der rotnackige Schwarzspecht hämmerte mit seinem Schnabel auf einen Baumstamm los. Das Eichhörnchen huschte mit einer Nuß aus dem Nest, setzte sich auf einen Zweig und begann sie zu schälen. Der Star kam mit einer Wurzelfaser geflogen, und im Wipfel des Baumes sang der Buchfink.

Nun wusste der Junge, dass die Sonne zu all diesen kleinen Wesen gesagt hatte: »Wachet auf und kommt aus euern Nestern! Jetzt bin ich hier. Jetzt braucht ihr euch nicht mehr zu fürchten.«

Vom See waren die Rufe der Wildgänse zu hören, die sich zum Flug vorbereiteten. Gleich darauf flogen alle vierzehn Gänse über den Wald. Der Junge versuchte sie anzurufen, aber sie flogen so hoch, dass seine Stimme sie nicht erreichte. Sicher glaubten sie, der Fuchs hätte ihn längst gefressen. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, nach ihm zu suchen.

In seiner Angst hätte der Junge fast geweint, doch jetzt stand die Sonne am Himmel, goldgelb und fröhlich, und erfüllte die ganze Welt mit Mut. »Du brauchst dich vor nichts zu fürchten oder zu ängstigen, Nils Holgersson, solange es mich gibt«, sagte die Sonne.

Noch eine Weile blieb alles im Wald unverändert, bald aber kam unter dem dichten Dach der Zweige eine einzelne Wildgans geflogen. Sie schien zwischen Stämmen und Zweigen umherzuirren und bewegte sich sehr langsam. Sowie Fuchs Smirre sie entdeckte, verließ er seinen Platz unter der Jungbuche und pirschte sich an sie heran. Die Wildgans wich ihm nicht aus, sondern flog ganz dicht an ihm vorüber. Smirre machte einen hohen Sprung, verfehlte sie jedoch, und die Gans flog weiter zum See.

Smirre kehrte zur Buche zurück, um den Knirps zu bewachen, doch als er in den Wipfel hinaufschaute, da war es dort leer. Der Knirps hatte die Gelegenheit genutzt und war geflohen.

»Heute Nacht hast du Pech, Smirre«, sagte der Fuchs zu sich selbst. »Aber diese Gänseschar wirst du sicher noch einmal treffen.«

Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden

Подняться наверх