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Küchenbau für Anfänger
ОглавлениеAn einem See im Norden Alaskas,Mitte September
Eine halbe Stunde später hatten Valerie und Titus ihre mobile Küche aufgebaut: Sie hatten die Plane nicht nur an allen vier Ecken, sondern auch dazwischen mit Löchern versehen und Schlingen eingefädelt. Anschließend hatte Titus etwas über seiner Kopfhöhe an einer der Birken ein stabiles Seil angelegt und es durch die Schlingen am oberen Ende der Plane gezogen. Am anderen Ende wurde es durch einen fest in den Boden gerammten Pfahl gehalten. Valerie hatte ihm dann gezeigt, wie er zwei Drittel der Plane schräg nach hinten ziehen und sie mit den Heringen durch die Schlingen fixieren konnte. Das vordere, freie Ende bildete den Bodenbelag unter dem dadurch entstandenen Schrägdach. Doch bevor Titus es mit den restlichen Heringen befestigen durfte, rückten Valerie und er einigen Fichten zu Leibe. Sie sägte einhändig armlange Zweige ab, er hackte zwei junge Fichten um und befreite sie von ihren Ästen.
»Und was machen wir jetzt mit den Fichtenästen?« hatte Titus gefragt.
Valerie hatte es ihm erklärt: Die Äste dienen als Isolierung gegen die Bodenkälte. Sie wurden – jeweils so, dass ihre leichte Biegung nach oben kam – unter dem Bodenteil der Plane ausgebreitet. Die beiden von Titus entasteten Fichtenstämmchen dienten als Bodenstangen hinten und vorne an der Plane, danach wurden die Heringe eingeschlagen und noch zusätzlich mit Steinen beschwert. Das Schrägdach stand und schützte Valerie und Titus nicht nur vor Wind und Regen, sondern bot ihnen auch einen gut gepolsterten Sitzplatz. Dazu schleppte Titus einen oben flachen Stein an, auf dem der Kocher Platz fand.
»So, jetzt wird's Zeit zum Frühstück!« Valerie eilte zum Bach und füllte den Kochtopf und eine Pfanne mit Wasser. Der Topf kam aufs Feuer und Valerie lächelte Titus an. »Kennst du Cowboy-Kaffee?«
Er schüttelte den Kopf und grinste. »Nein, aber ich lerne gerne von dir – besonders, wenn dabei ein Kaffee für mich rausspringt.«
»Na, dann hoffe ich mal, dass du den Cowboy-Kaffee magst.« Valerie hatte eine der Feststoff-Brenntabletten in den Brenner gepackt und zündete sie an. »So – das Wasser kocht gleich. Dann haut man das Kaffeepulver und eine Prise Salz rein, rührt um, lässt noch einmal aufkochen, nimmt den Topf vom Feuer und lässt ihn drei, vier Minuten stehen. In der Zeit sinkt das Kaffeepulver nach unten und man kann dann – vorsichtig natürlich – von oben einschenken.«
»Klingt gut!« fand Titus. »Haben wir auch was zu essen?«
»Aber selbstverständlich!« antwortete Valerie. »Wenn dein Kaffee fertig ist, werde ich Porridge kochen.«
»Süß oder salzig?« fragte er.
»Salzig«, antwortete Valerie, ohne darüber nachzudenken. »Aber wenn du es süß magst, ist es auch okay. Dann machen wir halt noch eine Portion.«
»Nein, ich mag's auch rezent«, gab er zurück. »Gut gewürzt mit einem Schuss Milch – die beste Unterlage für den Tag! Das habe ich beim Studium in London gelernt. Ich hatte damals dauernd Probleme mit dem Magen. Meine Wirtin, eine sehr mütterliche, ältere Dame, hat mich dann mit Porridge gefüttert – und das hat tatsächlich geholfen.«
»Ich kannte Haferbrei lange nur süß und hab' ihn nicht sonderlich gemocht«, erzählte Valerie. »Aber dann war ich mal bei einer Tante zu Besuch, die ihn rezent gemacht hat – und das hat mir geschmeckt. Seitdem ist das mein Winter-Frühstück. Wenn ich weiß, dass ich danach raus in die Kälte muss, brauch' ich was Warmes in den Magen.« Das Kaffeewasser kochte, Valerie fragte: »Wie viel Kaffee möchtest du?«
»Mindestens zwei Becher!« erbat sich Titus.
»Ich mach' dir zwei und wenn du dann Nachschub brauchst, kriegst du frischen – er kühlt sonst so schnell ab.« Valerie löffelte Kaffeepulver in den Topf und schob ihn wieder auf den Kocher. Innerhalb von ein paar Sekunden brodelte die braune Flüssigkeit und ein aromatischer Geruch breitete sich aus. Valerie rührte mit dem Holzlöffel um, zog den Topf vom Brenner und stellte ihn vor der Plane ins Gras. »Ist gleich fertig. Jetzt kommt der Haferbrei.«
»Du verwöhnst mich!« stellte Titus fest, streckte sich auf der Plane aus und stellte fest: »Weißt du, eigentlich ist das hier sehr gemütlich. Wenn die Sache mit dem Piloten und meinen Damen nicht wäre ...«
Valerie schob die Pfanne aufs Feuer und gab zwei Löffel klare Fleischsuppe hinein. »Deine Damen?« fragte sie.
»Chantal und Stephanie«, antwortete Titus. »Chantal ist meine Freundin, Stephanie hast du gestern in Fort Yukon gesehen. Sie ist seit sechs oder sieben Jahren meine Agentin und inzwischen auch so etwas wie eine sehr liebe Freundin.«
»Die Damen machen sich sicher große Sorgen um dich«, sagte Valerie und schüttete Haferflocken ins kochende Wasser. »Dein Kaffee dürfte übrigens so weit sein.«
»Danke.« Er schüttete vorsichtig Kaffee in seinen Becher, legte beide Hände zum Aufwärmen darum und nahm den ersten Schluck. »Huh – schmeckt richtig gut!« Er nahm noch einen Schluck. »Gar nicht bitter – ich mag deinen Cowboy-Kaffee!«
»Das freut mich!« Valerie rührte fleißig in der Pfanne.
»Wie ist es mit dir? Kein Kaffee?«
»Ich bin nicht scharf auf Kaffee«, antwortete sie.
»Tee? Ich meine, ich hätte gestern auch Teebeutel gesehen. Soll ich dir einen holen?« bot Titus an.
»Nein, danke. Das ist lieb von dir, aber mir reicht morgens ein Schluck Wasser zum Porridge.« Valerie lachte. »Ich hab' mir überhaupt erst in Marbach angewöhnt, etwas zu frühstücken. Als Kind hat meine Mutter immer Kämpfe mit mir aufgeführt. Sie meinte, ich müsste unbedingt frühstücken, bevor ich in die Schule gehe. Aber mir war's da einfach zu früh und ich mochte nicht und wir haben uns morgens immer gestritten. Damals habe ich mir geschworen, dass ich nie mehr frühstücke, wenn ich erst erwachsen bin. Im ersten Marbacher Winter habe ich dann aber festgestellt, dass ich spätestens gegen elf schwächle, wenn ich mit leerem Magen starte. Seitdem gibt's Porridge.«
Titus lächelte. »Du erinnerst mich an meine erste Frau. Sie war auch so ein Frühstücksmuffel. Dafür hat sie allerdings, wenn sie morgens zu einer Probe musste, ein Vesper mitgenommen – und mir wird unvergessen bleiben, wie sie dann von Maestro Rothardt engagiert wurde. Das war so ein ganz würdiger, alter Herr, der wahrscheinlich schon ein wenig ein Problem damit hatte, so eine flotte, junge Frau engagiert zu haben. Und als sie dann auch noch in Jeans und Clogs zur Probe kam und da ihr Schinkenbrot auspackte – er sah aus, als ob ihn der Schlag treffen würde!« Er trank noch einen Schluck, schenkte sich Kaffee nach und sagte leise, mit einem sehr wehmütigen Lächeln: »Sophie war eine ungewöhnliche Cellistin. Die meisten Celli sind nicht so ganz von dieser Welt – eher so schwanengesangmäßig melancholisch. Aber Sophie war fröhlich und sehr witzig und sie lachte gerne und hat sich oft einen Spaß daraus gemacht, diese Leute in der Szene, die sich so schrecklich ernst machen, ein wenig durch den Kakao zu ziehen.« Er fiel ins Schweigen und trank seinen Kaffee.
Valerie kümmerte sich um ihr Porridge, das leise blubbernd vor sich hin kochte. Sie probierte es, salzte noch ein wenig nach und zog den Topf vom Kocher. Anschließend nutzte sie ihren Löffel, um die Flamme im Kocher zu löschen; nahm zwei nierenförmige Stahlschüsselchen und gab je einen ordentlichen Schlag Porridge in jedes. Ein kräftiger Schuss Milch dazu, dann reichte sie Titus seine Portion. »Hier – guten Appetit.«
»Danke. Riecht gut!« Er hatte seine langen Beine unter sich gekreuzt, stellte jetzt seinen Kaffeebecher zur Seite und parkte dafür die Schale mit dem Porridge auf seinem Knie. »Ich wundere mich gerade über mich selbst. Warum erzähle ich dir so viel?«
»Weil es mich interessiert?« gab Valerie zurück.
Titus steckte seinen Löffel ins dampfende Porridge und rührte nachdenklich darin. »Ich rede sonst nicht so viel von mir«, sagte er nach einer Weile. »Ich hoffe jedenfalls, dass ich nicht zu den Leuten gehöre, bei denen die eigene Person das absolute Lieblingssubjekt ist.«
»Glaube ich auch nicht«, beruhigte ihn Valerie und schob sich den ersten Löffel Porridge in den Mund. »Ich vermute, dass du sonst nicht so gesprächig bist, weil du gar nicht so viel Zeit zum Reden hast.«
»Stimmt«, gab er zu und atmete tief durch. »Das hätte mein erster richtiger Urlaub in vier oder fünf Jahren werden sollen«, erzählte er. »Sonst ist man ja immer im Hamsterrädchen – heute hier, morgen dort. Und wenn ich mal nicht über Flughäfen renne oder vor einem Orchester rumzapple, lerne ich ...« Er seufzte, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich red' schon wieder von mir. Schluss jetzt – ich esse jetzt und halt' die Klappe.«
Valerie schluckte, legte den Löffel in ihr Schüsselchen und schaute ihn sehr ernst an. »Sollen wir einen Deal machen? Ich sag's dir, wenn ich das Gefühl habe, dass du zu viel über dich redest, ja? Und bis dahin machst du dir darum keinen Kopf.«
»Du bist lieb – und dein Porridge schmeckt übrigens richtig gut.«
»Ja, ja, der Hunger treibt's runter!« lachte Valerie. »Nach so einer Nacht würdest du wahrscheinlich eingemachte Kellerstaffeln mit Salat mögen!«
»Das klingt sehr verlockend! Gibt's das bei dir öfter?« grinste Titus.
»Das gab's bei meiner Mutter, wenn sie die ewige Frage 'was gibt's heute zu essen' genervt hat. Bei meiner Großmutter gab's dann allerdings was anderes: A Nixle e'm a Büchsle ond a goldig's Wartaweile.« Valerie schob sich einen weiteren Löffel Haferbrei in den Mund.
»Wie bitte? Verzeih mir, ich bin zwar inzwischen schon eine ganze Weile in Stuttgart, aber so viel Schwäbisch habe ich dann doch noch nicht gelernt!«
»Eine Nixe – wie die Dame mit dem Fischschwanz in der Rusalka1«, erklärte Valerie. »Und die Nixe kommt in einer Büchse und als Beilage dazu gibt es ein goldiges Warte-eine-Weile.«
»Ich glaub', ich nehme lieber was nahrhafteres zum Abendessen!« lachte Titus. »Was meinst du – besteht die Chance, dass wir das Abendessen in der Zivilisation einnehmen?« Er schielte in den Himmel, als wenn er erwarten würde, dass dort im nächsten Moment das Rettungsflugzeugt auftauchte.
Valerie seufzte. »Ich bin da nicht so sehr optimistisch«, gestand sie ein. »Ich bin gestern auf der Suche nach einem Landeplatz ziemlich im Kreis rumgeflogen und wahrscheinlich ziemlich weit von dem Kurs, den die Seastar eigentlich nehmen sollte, abgekommen. Bei dem Wetter wird man uns aber über Satellitenbilder eher nicht finden, also müssen Suchflugzeuge in die Luft – und die haben auch wieder das Problem mit dem Wetter. Die Sicht ist schlecht, ergo können sie im Lauf des Tages nicht so ein sehr großes Gebiet abdecken.«
»Hmm.« Titus rührte in seinem Porridge, aß noch einen Löffel voll und sagte: »Das habe ich befürchtet. Können wir irgendwas tun, um uns bemerkbar zu machen?«
»Ja«, antwortete Valerie. »Wir sollten Feuer machen. Das hat zum einen den Vorteil, dass wir nicht so frieren und zum anderen wird uns ein Suchflugzeug eher finden. Nebenbei kommt noch dazu: Wenn hier jemand im Umkreis von 10 oder 11 Meilen unterwegs ist, riecht er den Rauch. Und wenn's ein Trapper oder Ranger ist, weiß er, dass die Ecke eigentlich nicht bewohnt ist – und kommt entweder nachgucken, wer da ein Feuer angezündet hat oder informiert zumindest die Behörden, dass da irgendwo in der Wildnis jemand zündelt.«
»Das klingt logisch.« Titus kratzte den letzten Rest Porridge aus seinem Schüsselchen und schob den Löffel in den Mund. Er kaute, schluckte und fragte: »Aber kriegt man bei diesem Wetter überhaupt an?« Er deutete mit dem Daumen in den Himmel. »Bei so viel Wasser von oben? Außerdem bräuchten wir doch einigermaßen trockenes Holz ...«
»Nasses Holz raucht schön!« grinste Valerie. »Aber zum Feuermachen brauchen wir in der Tat erst mal trockenes Material. Ich denke aber, wenn wir etwas tiefer in den Wald gehen, finden wir was. Da hat's genug große Nadelbäume. Wenn unter denen Totholz liegt, dürfte es einigermaßen trocken sein. Außerdem haben die unten ja oft abgestorbene Äste, die wir verwenden können. Schließlich und endlich wäre es vielleicht ganz gescheit, wenn wir uns noch eine Plane holen, die aufspannen und Holz darunter lagern. Wenn wir dann da in der Nähe das Feuer machen, trocknet es ein bisschen ab und wir können das Feuer damit speisen.«
»Ja, wenn das so ist ...« Titus schaute in seinen leeren Kaffeebecher und den Kochtopf mit dem Kaffee-Satz. »Machst du mir noch einen Kaffee, wenn ich brav Holz sammeln gehe?« fragte er.
»Ich komm' mit zum Holzsammeln! Vorher darfst du aber Geschirr spülen!« grinste Valerie, räumte Töpfe, Schüsseln und Becher zusammen und deutete auf den Bach. »Ersetze Spülmittel durch sauberen Sand, die Spülbürste durch Moos und es klappt. Ich geh' unterdessen schon mal Zunder für unser Feuer holen.«
»Falls ich mal alleine in der Wildnis landen sollte – verrätst du mir, wie du hier zu Zunder kommst?« fragte Titus.
»Gerne. Ich sammle ihn – ich guck' jetzt erstmal, ob hier an den alten Bäumen der Feuerschwamm wächst. Das ist ein Pilz, der ganz trocken wird. Den rupft man ab, macht ihn klein und verwendet ihn als Zunder. Außerdem werde ich die älteren Birken hier angehen. Unter der Rinde steckt da nämlich eine Art 'Haut', die immer ganz trocken ist. Die kann man abschälen und zerreiben – das gibt hervorragenden Zunder. Und wenn ich genug Zunder habe, werde ich einen Feuerstab schnitzen ...« Sie brach ab, seufzte und korrigierte sich: »Oder besser gesagt: Ich werde dich darum bitten. Verflixt – nur eine Hand zu haben, ist echt doof!«
Titus schaute sie besorgt an. »Ich glaube, du solltest dich ein wenig schonen. Du bist sehr bleich ums Näschen. Was hältst du davon, dass ich dir deinen Schlafsack hole und du dich hier unter's Schrägdach setzt und mir anweist, was zu tun ist?«
»Nicht so viel!« widersprach Valerie. »Abgesehen davon, dass mir da langweilig würde, kommen wir zu zweit weiter. Und dann wäre da noch was ...« Sie zögerte einen Augenblick, atmete tief durch und griff nach der Waffe, die sie neben sich gelegt hatte. »Ich muss wohl mit dir in den Wald zum Holzsammeln. Ich habe nämlich vorher am Bach die Spuren eines Bären gefunden.«
»Brrrrr!« Titus schüttelte sich, dann lächelte er schief. »Sag, Superfrau, könntest du einhändig schießen?«
»Oh ...« Valerie nagte an ihrer Unterlippe.
»Gib her das Ding! Ich bin zwar nicht sonderlich geländegängig, aber mit einem Gewehr kann ich umgehen!« Er nahm ihr die Waffe ab, ließ das leere Magazin herausschnappen, schaute es an, drehte sie dann in den Händen, legte sie an die Wange und schaute durch das aufgeschraubte Zielfernrohr.
»Du offenbarst ungeahnte Talente!« grinste Valerie. »Wo hast du schießen gelernt, Maestro?«
»In der Kaserne, Vally!« gab er zurück. »Mein Vater war der Meinung, ein Mann müsse sich verteidigen können.«
»Ich mag's nicht, wenn man mich 'Vally' nennt!« meckerte sie.
»Und ich mag's nicht, wenn man mich mit 'Maestro' anspricht!« Titus schob zwei Patronen in das Gewehr und den Rest der Munition in die Hosentasche, dann sicherte er die Waffe, schnappte das Geschirr, stand auf und sagte: »Ciao, Signorina Dottoressa. Ich gehe Geschirr spülen und danach begebe ich mich in den Wald. Sollte mir dort ein besonders netter Bär begegnen, bringe ich ihn dir mit. Dann darfst du auf dem Bärenfell schlafen.«