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über dem Yukon, Alaska,

Mitte September

Titus hielt den Piloten fest, der immer wieder nach vorne zu rutschen drohte. »Können Sie fliegen?« fragte er dann.

»Ich hatte mal eine PPL, aber sie ist verfallen – keine Zeit mehr zum Fliegen. Und diesen Vogel kenne ich nicht ...«, antwortete Valerie abgelenkt. Sie schaute auf die Hebel und Knöpfe neben sich. »Okay«, sagte sie. »Schub, Propeller, Sprit ...« Ihr Blick ging nach oben auf die Instrumente vor sich hin. »Horizont, Höhenmesser, Kurs, Radar – so weit so schön. Verdammt, der Vogel ist ziemlich voll … und wo ist hier der Funk?«

»Kann es sein, dass Sie keine Ahnung haben, was Sie hier treiben?« fragte Titus nervös.

»Kann es sein, dass Sie besser die Klappe halten sollten?« fauchte Valerie. »Ich versuche gerade, diesen Vogel in den Griff zu kriegen – was auch in Ihrem Interesse sein dürfte! Oder können Dirigenten frei fliegen?« Sie griff nach der Schubkontrolle auf der Mittelkonsole und zog sie ein wenig zurück, gleichzeitig drückte sie den Steuerknüppel ein wenig nach vorne. »Erstmal wieder aus der Suppe hier raus ...« brummte sie. »Verflixt – ich seh' nix und ...« Sie schaute sich um, dann schüttelte sie den Kopf. Tatsächlich steckte die Maschine in den Wolken und es regnete auf ihre Scheiben. »Können Sie sich nützlich machen? Gucken Sie aufs Radar, während ich versuche, rauszukriegen, wo hier verdammt noch eins der Funk ist!«

»Radar?« Titus schien keine Ahnung zu haben.

Valerie tippte auf ein rundes Instrument in der Mitte der oberen Konsole. »Hier – das Ding tastet die Umgebung ab. Wenn Sie im Strahl einen Peep sehen, lassen Sie einen Schrei los!«

»Einen Peep?«

»Ein Lichtsignal!« fauchte sie ungeduldig. »Das würde bedeuten, dass da ein anderes Flugzeug ist!«

»Gibt's sowas hier?« fragte er.

»Weiß ich's?« gab sie zurück. »Ich hab' keinen Dunst, wo wir sind und was hier los ist!« Sie konzentrierte sich wieder auf die Instrumente, drehte an einem Regler und fand schließlich, was sie gesucht hatte: Seitlich an ihrem Sitz hing ein Kopfhörer mit einem Mikrophon. Sie stülpte ihn über ihre Ohren, drehte an einem anderen Regler, schimpfte leise: »Die Frequenzanzeige soll einer verstehen ...« Sie lauschte, drehte wieder, schüttelte den Kopf, suchte weiter und sprach schließlich »Mayday, mayday ...« Aus ihrem Kopfhörer ertönte ein Rauschen. »Verdammter Mist! Ich kriege keine Verbindung! Und ich habe keine Ahnung, wo ich hier suchen soll.«

Das Flugzeug wurde von einer Windböe erfasst und schüttelte sich. Valerie hielt den Knüppel fest und korrigierte die Lage, Titus hielt sich am Durchgang fest. »Sollten Sie sich nicht besser auf die Fliegerei konzentrieren?«

»Raten Sie mal, was ich hier mache!« Immerhin war die Maschine nun wieder stabil und sie waren unter den Wolken. Unter ihnen breiteten sich endlos Wälder und das Fluss Delta aus. »Tja – und jetzt wohin?« überlegte sie laut, beugte sich über die Mittelkonsole und nahm die Karte, die in einer Tasche an der Konsole hing.

»Wäre es nicht am klügsten, Sie würden umdrehen und versuchen, nach Fort Yukon zurück zu kommen?« fragte Titus.

Valerie lachte auf. »Wenn Sie mir sagen, wo Fort Yukon ist, fliege ich zurück.«

»Naja – am Fluss entlang?« schlug er vor. »Wenn ich es vorher richtig mitgekriegt habe, liegt Ihr Ziel flussabwärts. Also müssten wir nur aufwärts fliegen, um wieder an den Ausgangspunkt zurückzukommen.«

»Theoretisch ja«, sagte Valerie. »Nur praktisch habe ich gleich zwei Probleme. Erstens: Erkennen Sie von hier die Flussrichtung? Zweitens«, sie deutete mit dem Finger nach unten auf den Fluss, »sind Sie sicher, dass das der Yukon ist? Ich will an einen Nebenfluss und ich habe keine Ahnung, ob wir schon an dem sind.«

»Und was machen wir dann?«

»Wir bestimmen unsere Position und suchen sie auf der Karte. Und dann legen wir einen neuen Kurs fest und sehen zu, dass wir Richtung Fort Yukon fliegen – und eine Funkverbindung dorthin bekommen, damit man uns einweisen kann! Und wenn die dann noch jemand finden, der mir erklärt, wie ich an diesem Vogel das Fahrwerk rauskriege, haben wir sogar eine Chance, wieder runter zu kommen.«

Titus wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sind Sie sicher, dass unser Pilot tot ist?« Er schaut den in seinen Gurten hängenden Mann an, als ob er erwarte, dass er gleich wieder übernehmen würde.

»Falls er sich nur aus Gaudi tot stellt, ist es ein verdammt schlechter Scherz!« stellte Valerie fest. Das Flugzeug schüttelte sich wieder, als sie in eine dicke, graue Wolke hinein flogen. »Scheißwetter!« schimpfte Valerie. »Die Sicht wird schlechter, dafür wird der Wind stärker – nicht witzig.«

Jetzt zuckten auch noch Blitze und das Flugzeug tauchte mit der Nase ab. Valerie zog den Steuerknüppel zu sich, die Maschine schien fast nach oben zu hüpfen und Titus rutschte weg. »He – was wird das denn?«

»Ich muss aus der Suppe wieder raus!« Valerie zog die Maschine nach links und ließ sie etwas sinken. Es zeigte sich aber sofort, dass das keine gute Idee gewesen war, denn nun wurde sie vom Wind geschüttelt. »Oops – also gut ...« Sie zog wieder nach oben in die Wolken, wobei das Flugzeug immer wieder auszubrechen versuchte, bis es schließlich durch die Wolken brach und in strahlenden Sonnenschein getaucht war. Valerie lehnte sich zurück und atmete aus. »Uff – aus dem Gewitter wären wir erst mal draußen. Also Positionsfeststellung ...« Sie las die Koordinaten ab, schaute auf die Karte, folgte ihr einen Augenblick mit dem Finger und schüttelte dann den Kopf. »Ich müsste nach Süden, um in den Funkbereich von Fort Yukon zu kommen. Da ist aber jetzt dieses Gewitter. Also versuche ich jetzt, ob ich drum rum fliegen kann.«

»Und dann runter?« Titus merkte man an, dass ihm die Vorstellung, noch länger mit Valerie als Pilot unterwegs zu sein, nicht sonderlich angenehm war.

Valerie würdigte ihn keines weiteres Wortes, sondern konzentrierte sich auf den Flug – und auf den Versuch, per Funk jemanden zu erreichen.

Titus unterdessen, sich immer noch mit einer Hand an der Wand abstützend, ging in die Knie, nahm ein Tuch aus der Tasche und wischte dem Piloten fast zärtlich das Blut vom Mund. »Armer Kerl«, sagte er leise. »Wenn's einen so von jetzt auf plötzlich erwischt ...« Er fand den Hebel, mit dem er die Lehne des Pilotensitzes ein wenig nach hinten kippen konnte, legte den Kopf des toten Mannes gerade, ging zurück zu seinem Platz, wühlte in seiner Tasche und kam mit einem sauberen, großen Taschentuch wieder, dass er über dem Gesicht des Piloten ausbreitete.

Valerie drehte noch einmal am Regler des Funkgerätes. »Es ist zum Verrücktwerden – ich kriege nirgends Verbindung! Und ich kenn' mich in Alaska natürlich nicht aus! Ich habe keine Ahnung von der Notfrequenz – verdammt!« Jetzt klang sie nicht mehr wütend, sondern eher kleinlaut und als ob sie den Tränen nahe wäre.

»Was bedeutet es, wenn Sie keine Funkverbindung kriegen?« fragte Titus angespannt.

»Dass ich keine Ahnung habe, wo und wie ich diesen Vogel runterbringe!« antwortete Valerie. Sie schaute kurz zu ihm hoch. »Ich bin seit fünf Jahren nicht mehr geflogen – und davor nie so was wie diese Maschine! Und ich war immer nur in Deutschland unterwegs und meist sowieso mit Segelflugzeugen – das ist was ganz anderes!«

»Bisher haben Sie das aber ganz gut gemeistert!« lobte er sie. »Ich hätte überhaupt keine Ahnung, wie man so ein Ding in der Luft hält.«

»Sie sind also kein Karajan«, stellte Valerie fest.

»Hmm?«

»Der konnte fliegen!« beschied ihn Valerie knapp. Es regnete schon wieder und das Flugzeug wurde immer wieder von einer Böe geschüttelt. »Ich krieg' hier gleich die Krise! Ich kriege keine Funkverbindung, ich habe keine Ahnung, wo wir sind und wohin ich fliegen soll – was mach' ich denn jetzt?«

Titus trat etwas näher und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Keine Panik, Val…erie«, er hatte kurz gebraucht, um sich an den Namen zu erinnern. »Lassen Sie uns in aller Ruhe überlegen, ja? Welche Möglichkeiten haben wir?«

»Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, wie wir nach Fort Yukon zurückkommen können! Ich glaube nicht, dass hier irgendwo in der Nähe ein anderer Flughafen ist! Ich kriege keine Funkverbindung ...« Valerie war reichlich panisch. »Wir haben zwar jede Menge Sprit, aber ich kann doch nicht in der Hoffnung, dass ich durch Zufall irgendwo über einen Flughafen komme oder doch noch Funkverbindung bekomme, durch die Gegend tu….«

»He, Valerie!« Er hatte immer wieder einmal auf den Radar geschaut und rief: »Da ist was!« Tatsächlich erfasste der Strahl in seinem oberen Bereich einen grünen Punkt. »Ist das ein anderes Flugzeug?«

»Hmm.« Valerie schaute auf den Bildschirm. »Das ist was, was ziemlich hoch und sehr schnell unterwegs ist.«

»Gucken Sie mal!« Neben dem Punkt stand jetzt eine Kombination von Buchstaben und Zahlen.

Valerie schaute auf den Schirm. Der grüne Punkt war jetzt schon ganz nahe am Mittelpunkt. »Ich kenne die Kennzeichen hier nicht, aber ich schätze, das ist eine Militärmaschine«, sagte sie.

»Stößt der mit uns zusammen?« fragte Titus.

»Nein, der dürfte an die 5000 Foot über uns sein.«

»Sieht er uns?« Titus klang aufgeregt. »Wenn er uns sieht, dann haben wir vielleicht eine Chance ...«

»Und dann? Er kann nicht ahnen, dass wir in Schwierigkeiten sind. Verdammt, wenn ich nur funken könnte!« Valerie schaute auf das nutzlose Funkgerät. »Ich fliege nie wieder mit einer kleinen Maschine, ohne mich über die Funkfrequenzen zu informieren ...«

Nun war der grüne Punkt plötzlich im unteren Teil des runden Instrumentes. »Was bedeutet das?«

»Er ist über uns weg – und jetzt gleich verschwunden, außerhalb der Reichweite«, erklärte Valerie. »Und bevor Sie fragen: Nein, ich kann ihm nicht folgen. Der ist ungefähr dreimal so schnell wie ich. Zudem ist er Richtung Küste unterwegs – wer weiß, ob der nicht auf einen Träger gehört und da landet? Das würde mir dann also wenig nutzen.«

»Aber Sie könnten doch daneben runtergehen! Ich meine, das ist ein Wasserflugzeug!«

Valerie schaute ihn einen Augenblick an, dann hob sie die Hand zum Kopf und kratzte sich nachdenklich an der Stirn. »Auf dem offenen Meer wollte ich das Ding bestimmt nicht landen. Aber Sie haben Recht – das ist ein Wasserflugzeug«, sagte sie langsam. »Auf einem See kriege ich es wahrscheinlich runter.«

»Haben Sie so etwas schon mal gemacht?« fragte Titus misstrauisch.

»Nur am Simulator«, antwortete Valerie. »Aber haben Sie eine bessere Idee? Unter uns ist überall nur Wald. Ich sehe nirgends eine Fläche, die groß genug wäre, dass ich da ein Flugzeug runterbringen könnte. Aber wenn wir uns einen hübschen, glatten See suchen – der muss nicht mal so groß sein, weil das Wasser ja zusätzlich bremst ...« Sie fasste nach der Karte, zog sie aus ihrer Hülle und faltete sie auf. »An Seen mangelt es uns hier ja nicht«, sagte sie nach einem Blick auf die Karte.

»Und was machen wir, wenn wir auf einem See gelandet sind?« fragte Titus.

»Wir gehen an Land und dann gibt's zwei Möglichkeiten: Entweder ich knacke endlich dieses Funkgerät und kann um Hilfe rufen oder wir warten einfach ab, bis man uns findet. Wir sind ja hier nicht fernab jeder Zivilisation – selbst in Alaska gibt es Luftüberwachung. Unser Flug war angemeldet. Wenn sich die Maschine nicht irgendwann zurückmeldet, weiß man, dass sie vermisst ist und wird sie suchen.«

»Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie gefunden wird?« fragte Titus.

»Heutzutage? Mit Satelliten und Wärmebildkameras und weiß-was noch sind die Chancen sehr hoch! Länger als drei Tage würden wir nicht am See sitzen, schätze ich.«

»Na, dann sehen Sie zu, dass wir runter kommen! Ich wollte schon immer mal in der Wildnis stranden.«

Valerie drückte den Steuerknüppel wieder etwas nach vorne. Die Maschine sank und wurde von Regen und Böen geschüttelt. »Verdammte, elende Scheiße – könnte ich zu dem Stunt nicht wenigstens Schönwetter kriegen?« schimpfte sie.

Titus legte wieder seine Hand auf ihre Schulter und drückte sie ermutigend. »Sie schaffen das.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr!« Valerie studierte die Karte. »Schauen Sie mal!« Sie deutete auf einen dicken, blauen Fleck, in dem zwei kleinere grüne lagen. »See mit Insel und Abfluss – der Bach führt zum Fluss. Also kein stehendes Gewässer ...«

»Und das bedeutet?« fragte Titus.

»Dass das Wasser ziemlich sauber sein dürfte, aber nicht so sauber und unzugänglich, dass es darin keine Fische gibt«, erklärte Valerie. »Dann will ich mal versuchen, ob ich da runterkomme.« Sie schaute zu Titus hinauf. »Könnten Sie versuchen, unseren Piloten wieder anzuschnallen? Und dann sollten Sie sich selbst setzen und anschnallen – ich kann Ihnen nämlich nicht versprechen, dass die Landung sanft ausfällt. Wie gesagt: Ich hab' das bisher nur mal am Simulator gemacht.«

»Hat's da funktioniert?« fragte Titus.

»Beim fünften- oder sechsten Mal«, antwortete Valerie. »Davor habe ich aber zweimal eine Maschine mit zu steilem Anflugwinkel versenkt und einmal ist ein Flügel abgerissen.«

»Das sind ja gute Aussichten!« kommentierte Titus. Er bemühte sich, den Piloten anzuschnallen, dann legte er noch mal die Hand auf Valeries Schulter. »ich geh dann wohl mal nach hinten – eine Runde beten!«

Der Absturz

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