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Who’s who - mitten in der Nacht
ОглавлениеAn einem See im Norden Alaskas,Mitte September
Es war mitten in der Nacht, als Valerie aufwachte. Der Wind hatte offenkundig im Wald einen morschen Baum erwischt, der krachend umgestürzt war. Valerie war froh, dass es noch hell genug gewesen war, als sie den Lagerplatz ausgesucht hatte. Die Birken, von denen sie eine verwendet hatte, um das Zelt daran zusätzlich zu sichern, waren noch recht jung, voll im Saft und bogen sich im Wind, wobei ihre Blätter silbrig rauschten. Und dahinter am Waldrand waren ein paar kleine Nadelbäume, die noch zusätzlich von einer Brombeerhecke gesichert wurden. Sie musste nicht befürchten, dass irgendetwas auf ihr Zelt stürzen würde.
Aber was war das? Da lag etwas auf ihrem Bauch und von rechts wurde sie zusätzlich gewärmt! Das auf ihrem Bauch war ein Arm – und der gehörte zu Titus, der von seiner Luftmatratze gerutscht war und nun auf der Seite neben ihr lag, den einen Arm über ihrem Bauch, den anderen beschützend über ihrem Kopf. Sie spürte, wie sein warmer Atem über ihr Gesicht streifte und stellte fest, dass ihr seine Nähe nicht unangenehm war. Im Gegenteil – sie fühlte sich beschützt.
Es war sehr ungewohnt, denn Valerie hatte nicht erst seit ihrer Scheidung vor drei Jahren alleine gelebt, sondern war auch in den Jahren davor gewohnt gewesen, dass Sandro viel auf Reisen war. Und selbst wenn er zuhause gewesen war – er hatte Valerie nicht nur einmal dafür gelobt, dass sie so ein »guter Kumpel« und so »unkompliziert« war. Valerie verzieh, wenn er ihr eine Tür vor der Nase zuknallte, sie trug ihre Koffer selbst und wenn in der gemeinsamen Wohnung etwas zu reparieren war, holte sie den Werkzeugkasten und hielt sich gar nicht erst damit auf, ihren Ehemann um Hilfe zu bitten. Sie wusste viel zu gut, dass Sandro in seiner Freizeit keine Lust hatte, verstopfte Abflüsse in Ordnung zu bringen oder quietschende Türen zu ölen.
Titus dagegen schien Kavalier zu sein. Er hatte schon am Vortag bewiesen, dass er nicht nur gute Manieren hatte, sondern fürsorglich war. Dass er sie fürs Abendessen geweckt hatte, dass er ihr die Decke mitgebracht hatte – die Selbstverständlichkeit, mit der er solche Dinge ausgeführt hatte, zeigte Valerie, dass sie für ihn Routine waren.
Wie erste Eindrücke doch täuschen konnten! In Fort Yukon in der Baracke am Flughafen hatte Valerie ihn ziemlich arrogant gefunden. Doch spätestens seit dem Absturz bewährte er sich als guter Kamerad und hatte offenkundig noch nicht einmal Probleme damit, sich von einer Frau etwas sagen zu lassen. Er hatte ohne Debatte anerkannt, dass sie in Sachen »Survival« mehr Ahnung hatte und sich ihr untergeordnet.
Valerie wusste das zu schätzen. Sie hatte im Job schon genug mit Machos zu tun, die Probleme damit hatten, wenn ihnen Frauen – vor allem auch noch junge Frauen – etwas zu sagen hatten. Obwohl das baden-württembergische Haupt- und Landgestüt das erste gewesen war, das Mädchen als Auszubildende angenommen hatte und obwohl es schon seit einiger Zeit von einer Gestütsleiterin geführt wurde, hatte Valerie in ihren ersten Wochen ein paar Mal auf den Tisch hauen müssen, um klar zu stellen, dass sie mehr drauf hatte als Fohlchen zu impfen und Trächtigkeitsuntersuchungen vorzunehmen. Damit aber nicht genug. Gleichzeitig hatte sie sich nämlich auch mit den zwei Gestüts-Casanovas auseinandersetzen müssen. Die Beiden – der eine Bereiter, der andere Landwirt und für die Bewirtschaftung der gestütseigenen Felder und Wiesen zuständig – hätten der hübschen, jungen Tierärztin sicher gerne die einsamen Abende in ihrem Haus über den Koppeln vertrieben. Nur hatte Valerie überhaupt keine Lust auf routinierte Verführung. Und als ihr der Landwirt dann auch noch angeraten hatte, sich die Haare wachsen zu lassen, weil kurze Haare nun einmal »unweiblich" wirken würden, hatte sie ihm sehr deutlich die Meinung gesagt.
Mit dem Maestro schien sie diesbezüglich wirklich Glück gehabt zu haben. Ihm fiel kein Zacken aus der Prinzenkrone, wenn er sich in etwas einer Frau unterordnete und er hatte es offenkundig nicht nötig, mit Testosteron herumzuprotzen. Dafür war er anscheinend recht kuschelig – und in seiner Umarmung geborgen, beneidete sie seine Freundin fast ein bisschen. Sie war nun schon sehr lange alleine und so ein appetitliches Mannsbild, das dazu etwas im Kopf hatte – nein, den sie hätte vermutlich nicht von der Bettkante geschubst.
Apropos Bettkante: Titus war von seiner Luftmatratze gerutscht. Er lag jetzt nur noch auf der dünnen, harten Isomatte, die sie als Boden im Zelt ausgebreitet hatten. Valerie fummelte ihre gesunde Hand aus der Schlafsack-Umhüllung und legte sie neben ihrer Luftmatratze auf den Boden. Oh, oh – die alte Camperregel, das am meisten Wärme am Boden verloren geht, galt also immer noch. Und gegen Bodenkälte – auch das wusste Valerie – kommt der wärmste Schlafsack nicht an.
Titus schien noch nicht bemerkt zu haben, dass er langsam von unten auskühlte. Er schlief tief und fest und Valerie registrierte mit Wohlgefallen, dass er außerdem auch sehr ruhig schlief. Er schnarchte nicht, er sprach nicht im Schlaf, er strampelte nicht – man konnte ihn eindeutig als »guten Bettgenosse« etikettieren.
Valerie tat es fast leid, dass sie ihn jetzt wecken musste und dass er sich dann wieder auf seine Matte und damit auch auf Abstand begeben würde.
»Titus?« sagte sie leise und griff nach seiner Hand, die auf ihrem Bauch lag. Die Hand war schon eiskalt und sie legte die ihre darüber, um sie aufzuwärmen. Er rührte sich nicht. »Titus?« Valerie wurde etwas lauter und streichelte die Hand. »Es tut mir leid, Sie wecken zu müssen.«
»Hmm?« brummte er.
Valerie ließ ihm einen Augenblick, um vollends wach zu werden, dann sagte sie: »Sie sind von Ihrer Luftmatratze gerutscht. Das könnte auf Dauer sehr kalt werden.«
Es war offenkundig schon kalt, denn er zog schaudernd die Schultern hoch und machte: »Huach!« Dann entdeckte er, wo seine Hand lag und zog sie weg. »'tschuldigung!« Er tastete nach seiner Luftmatratze, zog sie näher zu sich und rollte sich darauf. »Es könnte nicht auf Dauer kalt werden«, klagte er. »Es ist schon saukalt!«
Valerie knipste die Taschenlampe an und sah, dass Titus seine Wolldecke als Kissen unter den Kopf gelegt hatte. Sie nahm die Fleece Decke, die er ihr als Kissen gegeben hatte. »Keine Sorge – wir kriegen Sie wieder warm! Haben Sie in Ihrem Schlafsack Platz?«
Er bewegte die Arme und Beine. »Nein, da geht nichts mehr rein außer mir. Für mich reicht es, aber mehr ist nicht.«
»Okay.« Valerie setzte sich auf und griff nach ihrem Rucksack, der in einer Ecke lehnte. Sie angelte einen dicken Wollpullover heraus und nahm dann ein kleines Päckchen aus der Vordertasche. Sie öffnete das Päckchen und brachte eine dünne Folie, auf der einen Seite Silbern, auf der anderen Seite Golden, zum Vorschein. Sie entfaltete die Folie, dann krabbelte sie aus ihrem Schlafsack. »Titus, ertragen Sie drei Minuten außerhalb vom Schlafsack?«
»Ich werde müssen«, lächelte er, streckte sich aus und öffnete den Reißverschluss. »Meiner Blase ist anscheinend noch nicht kalt genug – die möchte ins Freie.«
»Hier!« Valerie reichte ihm die Taschenlampe. »Vergessen Sie nicht, Ihren Anorak anzuziehen. Es regnet nämlich immer noch.«
»Ich hoffe, wir saufen hier nicht auch noch ab.«
»Das ist nicht zu befürchten. Wir sind weit genug vom See weg und zwischen uns und dem Strand ist ja auch noch ein bisschen ein Anstieg.«
»Wenigstens was.« Er atmete tief durch und kroch ins Vorzelt. Valerie hörte, wie er in seine Stiefel stieg und mit dem Anorak raschelte, dann das leise Geräusch, als er den Reißverschluss öffnete. Sofort wurde der Sturm lauter und Valerie hörte, wie der Regen rauschte. »Passen Sie auf die Abspannung auf!« rief sie.
»Ooops ...« Er war anscheinend fast gestolpert und hatte sich noch gerettet.
Während Valerie auf ihn wartete, überlegte sie. In der SAR Kiste hatte sie nicht nur Festbrennstoff-Tabletten gesehen, sondern auch eine große Flasche mit Petroleum. Dazu gehörte vermutlich eine Lampe – und wenn sie noch eine Nacht im Zelt verbringen mussten, würde es wohl ganz sinnvoll sein, die zu suchen. Außerdem hatte sie Titus zum Frühstück Kaffee versprochen, also musste sie sowieso an die Kiste, um den Hobo-Kocher und das Kochgeschirr zu holen. Immerhin würde es kein Problem sein, Wasser dafür aufzutreiben. Der See schien sehr sauber zu sein, aber noch besser war der Bach, der ungefähr 200 Meter von ihrem Lager entfernt in den See floss. Valerie hatte vorher gesehen, dass er im Wald als Wasserfall über einen Felsen kam. Es sah so aus als ob die Quelle nicht weit vom Wasserfall entfernt wäre und Valerie nahm sich vor, am nächsten Tag danach zu schauen. Außerdem würde sie Titus am Morgen bitten, ihr mit den Planen in der Seastar zu helfen. Sie wollte eine Feuerstelle anlegen und hoffte, im Wald genug einigermaßen trockenes Holz finden zu können, um ein Signalfeuer anzünden zu können.
Titus war wieder da, zitternd und mit den Zähnen klappernd. »Boah, ist das kalt!« klagte er und wollte so schnell wie möglich wieder in seinen Schlafsack.
»Ganz kleinen Moment!« Valerie war aus ihrem Schlafsack gekrabbelt und nahm ihm die Taschenlampe ab. Sie hängte sie an ihrer Öse an einer Schlaufe oben im Zelt auf, dann breitete sie die silberne Isodecke unter der Luftmatratze aus. Auf die Luftmatratze kamen die Fleecedecke und darauf der Schlafsack. »So – jetzt dürfen Sie reinkriechen! Und ich pack' Sie ein!«
»Das ist aber lieb!« dankte er schon vorab, schob seine langen Beine in den Schlafsack, arbeitete sich nach unten, zog den Reißverschluss zu und seufzte wohlig. »Ist das schön! Ich friere zwar immer noch wie ein Schneider, aber jetzt habe ich wenigstens die Chance, dass es bald besser wird.«
»Ganz bestimmt!« versprach ihm Valerie und zog die Fleecedecke links und rechts über ihn. »Haben Sie eine Mütze dabei?«
»Puuh – ja. Aber ich glaube nicht, dass ich die jetzt finde«, antwortete Titus.
»Dann sollten sie zuerst mal den Wärmekragen an Ihrem Schlafsack zumachen.«
»Wärmekragen?« fragte er.
Valerie fasste an seinem Hals vorbei nach dem gepolsterten Innenteil des Schlafsacks. »Hier – das ist der sogenannte ''Wärmekragen'. Der sollte zu sein, weil sie damit verhindern, dass die Wärme aus dem unteren Teil des Schlafsacks nach oben entweicht.«
»Ah – was es da alles zu beachten gibt!« Er hatte den Klettverschluss am Wärmekragen gefunden und machte ihn zu.
»So – und jetzt den Kopf in die Kapuze, bitte!« orderte Valerie.
»Hmm ...« brummte er. »Da fühle ich mich ein wenig eingeengt.«
»Kann ich verstehen. Ich mag die Vollverpackung auch nicht so sehr, darum trage ich eine Mütze, wenn ich in kalten Nächten draußen bin. Am Kopf verliert man nämlich viel Wärme«, erklärte Valerie.
Gehorsam steckte Titus den Kopf in die Kapuze und zog sie so zu, dass nur noch sein Gesicht herausschaute. »Danke für Ihr Taktgefühl! Sie hätten auch sagen können, dass bei meinem zunehmenden Mangel an Haaren der Kopf besonders schnell auskühlt.«
»Na, so schlimm ist es bei Ihnen doch noch nicht!« beruhigte Valerie. »Übrigens geht's noch weiter zu – wenn Sie immer noch frieren, ziehen Sie so zu, dass wirklich nur noch die Nase herausschaut.« Sie schlug nun die Alu-Decke über ihn und kniff die Ränder rundum zusammen. »So – damit würden Sie sogar eine Nacht auf dem Mount Everest überstehen!«
»Und Sie?« fragte Titus. »Sind Sie warm genug?«
»Aber ja doch! Ich trage Angora-Wäsche und Fleece, der kleine Schlafsack dürfte auch ein bisschen wärmer sein als Ihrer, ich liege auf meiner Luma – und falls es noch kälter werden sollte, ist in der erste Hilfe Ausstattung im Flieger sicher noch eine Iso-Decke. Und schließlich und endlich könnten wir auch unter dem Zelt noch isolieren oder das Zelt heizen.«
»Valerie – erschrecken Sie mich nicht! Sie klingen, als wenn wir uns hier häuslich einrichten müssten! Und das wäre nu' gar nicht mein Ding!« sagte Titus.
Valerie lachte und nahm die Lampe vom Haken. »Darf ich ausmachen?«
»Ja, natürlich – wir müssen wohl Strom sparen.«
»Ist besser.« Sie knipste die Lampe aus, steckte sie vorne in ihren Rucksack und zog ihn als Kopfkissen zu sich. Dann kroch sie wieder in ihren Schlafsack und schloss den Reißverschluss. »Gute Nacht, Titus. Ich hoffe, Sie können wieder einschlafen.«
»Das wird ein bisschen dauern«, seufzte er. »Wenn ich nachts wach werde, dauert es eigentlich immer eine Weile, bis ich wieder einschlafe.«
»Bei mir auch!« klagte Valerie. »Ich hatte schon richtig massiv Schlafprobleme und hab' dann unsere Stallwachen geschockt, wenn ich mitten in der Nacht noch rumgegeistert bin.«
»Was findet sich in Ihren Ställen?« fragte er.
»Pferde. Ich arbeite im baden-württembergischen Haupt- und Landgestüt Marbach an der Lauter.«
»Dann müsste ich Sie einmal mit meiner Patentochter besuchen. Sie ist jetzt 13 und Pferde sind das größte für sie.«
»Aber ja, Sie dürfen gerne mal mit ihr kommen! Am besten im Frühsommer, wenn wir Fohlen haben. Mai und Juni ist die schönste Zeit in Marbach«, erzählte Valerie.
Titus drehte sich vorsichtig zur Seite. »Jetzt wird's hier richtig nett.« Er schnurrte vor Behagen. »Sogar meine Füße werden wieder warm! Schön!«
Valerie kicherte. »Man lernt hier Kleinigkeiten zu schätzen, nicht?«
»Hmm!« bestätigte Titus. »Übrigens kann ich Ihnen nicht versprechen, dass ich Ihnen, wenn ich eingeschlafen bin, nicht wieder auf den Pelz rücke. Meine Freundin behauptet, ich würde mich nachts in eine 'heat seeking missile' verwandeln.«
»Ich werde mich zu erwehren wissen!« lachte Valerie. »Es sei denn, mir ist auch kalt – dann komme ich wahrscheinlich Ihnen näher.« Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich glaube, ich habe mich noch nie per 'Sie' mit einem Mann darüber unterhalten, dass wir uns im Schlaf näherkommen könnten. Kommt einem ein bisschen blöd vor, nicht?«
»Stimmt«, bestätigte Titus. »Vor allem, nachdem wir schon beim hanseatischen Du waren ...«
»Du bist Hanseat, nicht?« fragte Valerie. »Du klingst jedenfalls danach.«
»Ich bin dennoch keiner«, antwortete Titus. »Soviel ich weiß, reicht es dafür nicht, in Hamburg geboren zu sein. Man sollte außerdem aus einer Familie stammen, die da schon einige Generationen ansässig ist. Meine Sippe ist aber immer viel rumgekommen.«
»Der Name ' Charrier du Bois' ist Französisch, nicht?« fragte Valerie.
»Exactement«, bestätigte Titus. »Meine Vorfahren waren Hugenotten. Sie sind im 17. Jahrhundert aus Frankreich nach Preußen geflohen. Einer meiner Ahnen diente im Regiment zu Fuß Varenne, dem späteren altpreußischen Infanterieregiment No. 13, das komplett aus Hugenotten bestand. Er heiratete die Tochter seines Regimentschefs Jacques L‘Auiuonier Marquis de Varenne, kam durch sie zu einem Landsitz in der Nähe von Potsdam und damit war die Familie etabliert. Sie hat eine ganze Reihe Offiziere gestellt – es gibt kaum eine preußische Schlacht, in der kein Charrier du Bois gefallen ist. Mein Großvater war dann der erste, der nie gedient hatte. Er soll als junger Mann etwas schwächlich gewesen sein, was für ihn aber ein Vorteil war – er durfte Musik studieren und wurde Cellist eines Streichquartetts. Mein Vater hat dann aber die Scharte im Familien-Ehrenschild ausgewetzt – er war Offizier bei der Bundeswehr. Darum bin ich zwar in Hamburg geboren, aber quer durch die Republik aufgewachsen: Ich war in Erlangen im Kindergarten, bin in Marburg eingeschult worden und habe mein Abitur in Stetten am Kalten Markt gemacht ...«
Valerie kicherte. »Da hat das Haupt- und Landgestüt eine Deckstation, die immer im Februar wieder belegt wird. Der Gestüter, der da hin muss, wird immer schwer vergackeiert. Bei uns heißt das nämlich Stetten am kalten ...«
»Arsch!« vollendete er lachend. »In Stetten kann man sich wirklich die Kehrseite abfrieren. Ich war jedenfalls alles andere als unglücklich, als ich zum Studium abschwirren konnte.«
»Und du bist dann auf den Spuren Ihres Großvaters gefolgt und hast Musik studiert?« erkundigte sich Valerie.
»Ja – zuerst in Düsseldorf an der Robert-Schumann-Hochschule, dann bin ich ans Royal College of Music nach London gegangen und schließlich habe ich noch ein Jahr am Julliard in New York drangehängt. Mein Vater meinte, wenn ich mich schon auf so etwas seltsames wie Orchesterleitung verlege, soll ich es wenigstens richtig machen.«
»Und danach warst du Kapellmeister in Stuttgart, nicht?«
»Du bist gut informiert!« staunte Titus. »Aber jetzt erzähl du mal: Wo kommst du her, was hat dich auf die Idee gebracht, Tierärztin zu werden?«
Valerie lachte und machte es sich auf ihrem Rucksack ein bisschen gemütlicher. »Also, in der Familie lag's nicht. Die Gmelins sind eine schwäbische Pfarrersfamilie. Mein Vater war allerdings etwas aus der Art geschlagen. Er hat bei einer Bank gearbeitet. Meine Mutter war Lehrerin. Ich wurde in Schwäbisch Gmünd geboren und hab' dann als junges Mädchen angefangen, zu reiten. So kam ich auf die Idee, Tierärztin zu werden.«
»Hmm«, brummte Titus. »Und wie kamst du zur Fliegerei?«
»Mein Ex«, antwortete Valerie. »Wir sind zusammen aufgewachsen und als wir so acht oder neun waren, sind wir immer auf den Hornberg geradelt. Der ist von Schwäbisch Gmünd nicht weit weg und da oben ist ein Segelflughafen, auf dem mein Großvater als Werkstattmeister gearbeitet hat. Sandro – mein Ex – und ich durften dann natürlich bei Opa und Freunden von ihm mitfliegen und mit 12 habe ich dann das erste Mal mit dem Segelflugzeug meines Opas eine Platzrunde gedreht. Mit 18 habe ich – übrigens noch vor dem Führerschein – die PPL, die Privatpiloten-Lizenz, gemacht. Damals habe ich überlegt, ob ich auch die Pilotenausbildung machen soll, aber ist teuer und meine Eltern waren von der Idee nicht begeistert.«
»Du hast aber auch erwähnt, dass du zwischen Musik und Medizin geschwankt hättest«, erinnerte sich Titus. »Du hast eine schöne Stimme – einen Alt, nicht? Hast du gesungen?«
Valerie lachte. »Im Chor – aber für meine Stimme galt immer: Wenn ich in der Tiefe hätte, was mir in der Höhe fehlt, wäre es eine gute Mittellage. Außerdem trägt sie nicht besonders gut. Für den Chor hat's gereicht, darüber hinaus wäre es nichts geworden. Ich hatte da aber auch keinen Ehrgeiz. Ich saß lieber im Orchester.«
»Wo?« fragte Titus.
»Flöte.«
»Schön! Ich mag Flöten. Warum hast du nicht studiert?« wollte Titus wissen.
»Ich muss dir doch nicht erzählen, wie viele Flöten es gibt! Um da einen Job in einem anständigen Orchester zu kriegen, muss man nicht nur richtig gut sein, sondern auch Glück haben. Mein Lehrer zum Beispiel – der war gut! Er hatte bei Hänschel in Stuttgart und bei McKelly in London studiert. Er hat sogar einen großen Wettbewerb gewonnen und danach sollte er bei den Philis in Berlin vorflöten. Tja – auf dem Weg dahin ist er ausgerutscht und hat sich die Hand gebrochen. Bis die Hand wieder in Ordnung war, war die Stelle bei den Philis natürlich besetzt. Beim Vorspiel in Stuttgart an der Oper hatte er einen ganz schlechten Tag, bei deinem Verein – wobei das vor Deiner Zeit war – ist er bis in die Endrunde gekommen, aber da hat sich dann eine Lady durchgesetzt ...«
»Tja – es ist wohl tatsächlich auch von Glück abhängig«, sagte Titus. »Und du wolltest es nicht darauf ankommen lassen?«
»Richtig. Ich glaube nicht, dass ich wirklich supergut geworden wäre und ich hätt's nicht so toll gefunden, nachher an der Musikschule in Aichtal-Grötzingen zu landen. Du weißt, wie furchtbar schlecht Musiklehrer bezahlt werden.«
Titus seufzte. »Ja – leider. Es ist eine Schande, wie wenig wir in unserem reichen Land den Leuten, die an der Basis unterrichten, bezahlen. Dabei ist musikalische Früherziehung so wichtig für Kinder! Man kann nachweisen, dass es die Intelligenz fördert und dass Kinder, die ein Instrument lernen, auch in anderen Fächern besser zurechtkommen. Dennoch passiert da viel zu wenig ...«
»Aber du bemühst dich ja mit einer Stiftung, Instrumente in Schulen zu bringen, nicht?«
Titus' Schlafsack und die Decken raschelten, als er sich zur Seite drehte. »Du bist sehr gut informiert!« Er klang etwas skeptisch.
Valerie lachte. »Keine Angst – ich gehöre nicht zu deinen Groupies! Aber ich habe eine Freundin, die heftig für dich geschwärmt hat. Die hat mir dann immer die neuesten Artikel und Interviews vorgelesen.«
»Wie peinlich!« seufzte Titus.
»Muss dir doch nicht peinlich sein«, gab Valerie zurück. »Es gehört bei deinem Job wohl einfach dazu, dass man Verehrerinnen hat.«
»Mich trifft's aber ein bisserl massiver als andere«, klagte Titus. »Nicht, dass ich darüber jammern will. Ich sollte mich wahrscheinlich sogar geschmeichelt fühlen. Das Problem ist nur ...« Er verstummte und suchte nach Worten.
»… dass dir die Damen auf die Nerven gehen?« offerierte Valerie als Fortsetzung.
»Nein, nicht unbedingt. Die paar Minuten nach einem Konzert, in denen ich mit ihnen konfrontiert bin, halte ich aus. Aber … ich hoffe, das klingt nicht arrogant, aber mir tun die Mädchen manchmal leid. Ich denke, in vielen Fällen verknallen sie sich in mich, weil ich unerreichbar bin. Sie haben irgendeine Enttäuschung erlitten, sie sind für eine reale Beziehung blockiert und dann diene ich als eine Art 'Projektionsfläche', auf der sie ihre Träume und Wünsche vom idealen Liebhaber darstellen können. Als Künstler muss ich ja sensibler, einfühlsamer und gefühlsbetonter sein als 'normale' Männer.«
»Bist du es nicht?« Valerie lag auf den Rücken, aber hatte ihren gesunden Arm aus dem Schlafsack gezogen und unter den Kopf geschoben. Sie hätte Titus jetzt gerne gesehen, aber andererseits hatte die Dunkelheit wohl den Vorteil, eine Vertraulichkeit zu schaffen, die sonst sicher nicht so schnell aufgekommen wäre.
»Nein«, sagte Titus entschieden. »Ich bin sogar überzeugt, dass ich für meine Partnerinnen schwieriger bin als andere Männer – nicht, weil ich das unbedingt so wollte oder weil ich damit kokettieren würde, sondern weil ich zum Beispiel nie bereit wäre, eine Frau zur absoluten Priorität in meinem Leben zu machen. Für mich kommt immer die Musik zuerst und jede Frau, die in der Dame Musica eine Rivalin sehen und gegen sie angehen würde, hätte bei mir verloren. Ich wäre nicht da, wo ich bin, wenn ich nicht fähig wäre, mich durchzusetzen.«
»Das kann ich aber nachvollziehen«, gab Valerie zurück. »Wenn du meinen Ex-Mann fragen würdest, woran unsere Ehe gescheitert ist, würde er dir erklären, dass es an mir und meinem Unwillen lag, ihn an erste Stelle zu setzen. Der Auslöser für unsere Trennung war, dass er nach Frankfurt ziehen wollte und ich ihm sagte, dass ich da auf keinen Fall mitgehe. Abgesehen davon, dass ich nie in einer Großstadt leben wollte, hätte ich meinen Job in Marbach nicht aufgegeben.«
»Was sagst du, wenn dich jemand fragt, warum deine Ehe gescheitert ist?« fragte Titus.
»Ich denke, wir haben uns auseinander entwickelt«, antwortete Valerie. »Wir waren 16, als wir ein Paar wurden. Er war mein erster Mann, ich seine erste Frau und die ersten Jahre waren wir sehr glücklich miteinander. Aber dann haben wir ja studiert – er in Texas, ich in München und Wien. Und da fing's schon an – Sandro hat entdeckt, dass andere Mütter auch noch hübsche Töchter haben ...«
»Du nicht? Wobei ich natürlich in deinem Fall nicht die Töchter, sondern die hübschen Söhne meine.«
Valerie lächelte ein wenig bitter. »Ich war ein Schäfchen. Ich glaubte an die große Liebe und konnte mir gar nicht vorstellen, jemals mit einem anderen Mann als Sandro zusammen zu sein. Ich fand die Vorstellung, ein ganzes Leben lang nur einen zu lieben, sehr romantisch.«
»Ich auch!« sagte Titus leise. »Und auf die Gefahr hin, kitschig zu klingen: Ich halte bis heute nichts davon, möglichst viele 'Erfahrungen' zu sammeln. Manche Männer meinen ja, es sei besonders toll und spräche für ihre Männlichkeit, wenn sie so und so viele Frauen 'erobern'. Ich dagegen dachte immer, dass das keine große Leistung ist. Dagegen habe ich Hochachtung vor Menschen, die es schaffen, sich und ihrem Partner treu zu bleiben.«
»Darin habe ich wohl gefehlt«, sagte Valerie leise.
»Du? Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist dein Mann fremdgegangen«, sagte Titus.
»Ja, wobei ich seine diversen Geschichtchen während des Studiums nicht so hoch hängen wollte. Da waren wir ja teilweise monatelang getrennt, er war ein junger Mann – ich gestand ihm zu, dass er da ab und zu ausgerutscht ist.«
»Du bist außergewöhnlich tolerant«, fand Titus.
»Hmm – ich weiß nicht. Vielleicht bin ich auch nur realistisch? Ich denke, eine Frau, die sich einbildet, dass sie einen gutaussehenden jungen Mann monatelang alleine lassen kann, ohne dass irgendwas passiert, ist naiv. Allerdings habe ich mir eingebildet, er würde es schaffen, wenn wir wieder zusammen leben – und das hat auf Dauer nicht funktioniert, wobei mich dann gar nicht so sehr die Tatsache schockiert hat, dass er immer wieder mal eine Affäre hatte. Was ich daran wirklich übel fand, waren die Lügen und dass es oft so billig war. Ich habe den Respekt vor ihm verloren – und dann wurde es schwierig.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Titus leise. »Ich hatte eine Phase, in der ich auch von einem Blümchen zum anderen flatterte. Es hielt nicht lange an. Ich habe nämlich sehr schnell festgestellt, dass es mir nichts gibt und dass es vor allem nicht gegen Einsamkeit hilft. Im Gegenteil. Man fühlt sich nie einsamer als wenn man 'danach' neben der falschen Frau liegt und sich eigentlich für das, was geschehen ist, schämt.«
Beide schwiegen einen Augenblick, dann sagte Valerie: »Vielleicht sind wir beide ein wenig spießig, hmm?«
»Kann sein«, antwortete Titus. Damit kann ich aber ganz gut leben.« Er gähnte ausführlich. »Valerie, ich unterhalte mich sehr gerne mit dir. Aber bist du mir bös', wenn ich das weitere auf 'nach dem Frühstück' verlege? Ich werde jetzt richtig müde.«
»Dann schlaf!« sagte Valerie und gähnte aus Sympathie mit. »Ich schlaf' auch gleich wieder ein.«