Читать книгу Der Absturz - Sibylle Luise Binder - Страница 8
Am Lagerfeuer – zum ersten Mal
ОглавлениеAn einem See im Norden Alaskas,Mitte September
»Valerie? Bitte wachen Sie auf.«
Valerie hörte die dunkle Stimme und brummte. Sie hatte gerade so schön geträumt – sie war mit Juliano, ihrem Fuchshengst, über den Wiesenweg an den großen Koppeln geritten. Der laue Wind hatte ihr ins Gesicht geweht, Juliano hatte vergnügt geschnaubt – und jetzt lag sie in einem dunklen Zelt, auf das der Regen pladderte und das immer wieder vom Wind geschüttelt wurde. »Hmm?« brummte sie.
Titus schaltete die kleine Taschenlampe ein. »Ich wecke Sie wirklich nicht gerne, aber ich denke, Sie sollten eine Kleinigkeit essen.«
Jetzt, wo sie etwas wacher wurde, bemerkte sie, dass sie ein »Kissen" – die sorgsam zusammen gelegte Fleecedecke aus der Seastar – unter dem Kopf hatte. Sie war so gefaltet, dass sie nicht nur ihren Kopf polsterte, sondern eine Art schützenden Wall bildete. Dazu war der Reißverschluss ihres Schlafsacks ziemlich weit oben – und sie erinnerte sich daran, dass es ihr zu mühsam gewesen war, ihn zuzuziehen. »Oh, Sie haben mich eingepackt.«
Er lag in seinem Schlafsack auf der Seite neben ihr, den Kopf in die Hand gestützt. »Ihr Kopf war ein bisschen kalt. Aber jetzt sollten Sie wirklich was essen. Ihr Blutzucker-Spiegel ist wahrscheinlich schon ganz tief.« Er angelte nach der Plastikbox, die vorher noch im Flugzeug gestanden hatte. »Ich habe zwei durchgeweichte Fertigsandwiches oder noch herzustellende entweder mit Fisch- oder Wurstkonserve im Angebot.«
»Klingt verlockend!« lächelte Valerie. Sie hatte tatsächlich etwas Hunger, aber am meisten war ihr nach einer Schmerztablette für die Schulter. »Oh verflixt – ich muss in die Seastar. Ich brauch' meinen Rucksack.«
»Bleiben Sie liegen. Ich habe ihn geholt.« Titus öffnete das Innenzelt, griff nach außen und holte den Rucksack nach innen. »Bitt'schön!«
»Sie sind ein Schatz!« lobte Valerie, setzte sich auf und wühlte eine gepolsterte Erste-Hilfe-Tasche aus dem Rucksack. »Haben wir auch Wasser?«
»Ja.« Titus war offenkundig fleißig gewesen. Er öffnete wieder die Box, reichte ihre eine kleine Plastikflasche mit Wasser und erzählte. »Ich habe die Seastar noch an einem anderen Baum angebunden, unser Gepäck und die Box mit der Verpflegung geholt. Außerdem habe ich mir angeguckt, was unsere Maschine geladen hat. Das sind größtenteils Lebensmittel – jede Menge Konservendosen, Mehl, Reis, Zucker, Salz, Milchpulver, Eipulver, dazu ein Solarmodul, Werkzeug.« Er sah aus wie ein kleiner Junge, der gelobt werden will.
»Prima!« rühmte ihn Valerie. »Sie sind richtig brauchbar!« Sie schluckte zwei Tabletten, spülte mit Mineralwasser nach und lächelte ihn an. »Ich würde jetzt ein Sandwich nehmen.«
»Übrigens habe ich sogar Kaffee gefunden!« sagte er. »Mehrere Beutel sogar! Wenn ich jetzt nur noch wüsste, wie man hier zu heißem Wasser kommt!«
»Brauchen Sie's jetzt?« fragte Valerie und nahm das Sandwich, das er hinhielt. Es war wirklich schon etwas durchgeweicht, schmeckte ihr aber dennoch.
»Nein, nein – morgen früh. Morgens ohne Kaffee ist für mich übel.«
»Morgen früh kriegen Sie Ihren Kaffee!« versprach Valerie. »Ich habe in der Survival-Kiste einen Hobo-Kocher, Brennstofftabletten und ein Kochgeschirr gesehen. Damit kriegen wir das hin.«
»Ich kann wohl von Glück reden, dass ich mit Ihnen abgestürzt bin!« fand Titus. »Sie haben wenigstens solchen Dingen. Ich wüsste nicht, was ein Hobo Kocher ist und wie man ihn bedient.«
»Dafür können Sie aber schon ganz gut Zelte aufbauen!« lobte Valerie.
»Hmm ...« Er krabbelte aus dem Schlafsack, setzte sich im Schneidersitz darauf, holte sich eine Dose Cola aus der Proviant-Box und kaute versonnen an seinem Sandwich. »Valerie, müssen wir irgendetwas mit dem Piloten machen?« fragte er.
Valerie schluckte einen Bissen, spülte mit Mineralwasser nach und schüttelte den Kopf. »Nein, im Moment nicht. Der ist im Flieger gut gekühlt und hat seine Ruhe. Mehr können wir im Moment nicht für ihn tun.«
Titus angelte nach der Wolldecke und legte sie über seine Knie. »Brrr – Sie haben Recht, es ist kühl genug. Aber die Nacht stehen wir durch – oder?«
»Bestimmt! Wir sind im Zelt vor Wind und Wetter geschützt, wir haben warme Schlafsäcke und sogar doppelte Iso-Matten. Es dürfte kein Problem sein.«
Draußen knackte etwas, ein paar Steine kullerten, am See platschte es. Titus saß ganz steif, den Kopf leicht gedreht und lauschte nach außen. »Was war das?« fragte er leise.
»Der Wind hat irgendwas erwischt. Oder ein Tier ist am See ...««, antwortete Valerie.
»Apropos Tiere – hier gibt's Bären, nicht?« Titus' Stimme klang flach.
»Ja – Grizzlys und Braunbären. Aber wir passen nicht in ihr Beuteschema«, beruhigte Valerie ihn.
»Sind Sie sicher? Ich habe gelesen, dass Grizzlys, wenn sie im Herbst auf Futtersuche sind, recht brutal werden und sogar in Blockhütten einbrechen.«
»Ja, wenn man da Futter hat, können Bären aufdringlich werden. Man muss seinen Proviant am besten in einer geruchsdicht verschlossenen Tonne ein gutes Stück abseits vom Lager aufbewahren und man sollte keine Essensreste herumliegen lassen.«
»Toll!« sagte Titus. »Ich möchte ungern Besuch von den lieben Tieren bekommen!«
»Eigentlich sind Bären scheu – wenn man ihnen keinen Grund gibt, interessieren sie sich nicht für einen. Wenn wir hier länger wären, würde ich versuchen, einen stabilen Wall ums Zelt herum zu bauen und die Provianttonne zwischen zwei hohe Bäume hängen, so dass sie nicht daran kommen können. Aber wie gesagt: Heute Nacht haben wir nichts so schmackhaftes hier, dass wir den ansässigen Bären reizen dürften. Schon gar nicht um diese Zeit – jetzt gibt's nämlich noch jede Menge Beeren und Früchte in den Wäldern. Da werden sie sich dort vollfressen.«
»Und wenn's die nicht mehr gibt? Im Winter?«
»Halten sie Winterruhe. Wenn man sie da nicht gerade stört, wollen sie nichts von einem. Wenn aber doch, hat man ja auch ein Gewehr.«
»Das hätte ich vielleicht aus dem Flugzeug mitbringen sollen!« Titus sah aus als ob er überlegen würde, ob er noch einmal zur Seastar gehen sollte.
»Wie gesagt: Heute Nacht werden die nichts von uns wollen«, sagte Valerie. Sie griff nach der Taschenlampe. »Macht's Ihnen viel aus, wenn ich die Taschenlampe ausmache? Ich weiß nicht, wie fit die Batterien sind und ob wir sie mit diesem Solar-Gerät nachgeladen kriegen.«
»Natürlich. Ich räume nur noch unseren Abfall weg. Am besten wohl in die Box.«
»Ja, die dürfte dicht schließen und dann riecht man nichts«, bestätigte Valerie.
Titus räumte ordentlich alles in die Box, verschloss sie und stellte sie ins Außenzelt. »Und dann müsste ich wohl noch mal eine Runde ums Zelt drehen. Wie sieht's mit Ihnen aus?«
»Ich auch!« seufzte Valerie und lauschte nach draußen. »Blöderweise regnet es immer noch.« Sie krabbelte ins Außenzelt, zog ihre Gummistiefel an und seufzte. »Also – es muss sein. Darf ich die Taschenlampe haben?«
»Ich komm' mit raus.« Titus schob sich vor ihr aus dem Zelt, stand auf und hielt ihr die Hand hin. »Passen Sie auf ihre Schulter auf!«
»Danke!« Valerie ließ sich gerne von ihm auf die Füße helfen. Sie schaute sich kurz um, dann ging sie durch den strömenden Regen ein Stück zum Waldrand, schaltete die Taschenlampe aus, ließ sich nieder und erledigte ihr Geschäft. Ihr Anorak hielt dabei den Regen am Oberkörper ab, aber ihre Oberschenkel bekamen reichlich ab und sie begann wieder zu frieren. Fröstelnd eilte sie zurück zum Zelt und reichte Titus, der an der Birke lehnte, die Taschenlampe. »Sie sind dran.«
»Gehen Sie rein, bevor Sie total ausgekühlt sind!« empfahl er ihr.
»Ich fürchte, Sie müssen mir drinnen aus der Hose helfen.«
»Mach ich – gleich!« Er ging ein paar Schritte zur Seite.
Valerie krabbelte wieder ins Zelt, schlüpfte aus dem Stiefeln und öffnete ihre Hose. Einhändig war es wirklich schwierig, sie auszuziehen, aber Titus kam schon und half, worauf sie zähneklappernd wieder in ihren Schlafsack schlüpfte.