Читать книгу Der Absturz - Sibylle Luise Binder - Страница 7
Voll lagerfähig …
ОглавлениеAn einem See im Norden Alaskas,Mitte September
Valerie hatte sich das Blut von der Stirn gewischt und dabei festgestellt, dass sie da nur eine kleine Platzwunde abbekommen hatte, die sogar schon zu bluten aufgehört hatte. Also hatte sie mit den letzten, lauwarmen Kaffee aus der Thermoskanne getrunken und zwei ziemlich durchgeweichte Sandwiches gegessen, nun lächelte er sie ermunternd an. »Ich will nicht nerven und ich kann mir vorstellen, dass Ihnen jetzt nach einer Pause wäre. Aber ich habe das Gefühl, dass unsere Seastar ein wenig abgesackt ist. Abgesehen davon – es dürfte in nicht allzu ferner Zukunft dunkel werden.«
Valerie, die die Augen geschlossen und vor sich hin gedöst hatte, raffte sich auf. »Sie haben Recht. Wir sollten«, sie stemmte sich hoch, »gucken, was in der Wundertüte hinten drin ist.« Sie ging um den Sitz herum und krabbelte über die Lasten nach hinten.
Titus folgte ihr und sah zu, wie sie die SAR-Kiste öffnete. Über ihre Schulter schielte er hinein. »Was ist das denn?«
Valerie packte ein olivgrünes Bündel aus und faltete es auf. In einer alten Army-Decke war ein Leichtgewehr plus einige Schachteln mit Munition eingepackt. »Na, das werden wir wohl nicht brauchen – oder gehen Sie gerne auf die Jagd?«
»Bestimmt nicht!«
Valerie lächelte, wickelte das Gewehr wieder in die Decke und legte es zur Seite. Als nächstes nahm sie einen olivgrünen Kunststoffsack aus der Kiste. Sie zog ihn auf, schaute hinein und sagte: »Prima – da ist der erste Schlafsack. Sieht gut aus – Militär-Winterausrüstung, zwar Kunstfaser, aber das ist uns nicht unlieb.«
»Wären Daunen nicht wärmer?« fragte Titus.
»Ja, aber wenn Daunen nass werden, ist es schwer, sie wieder trocken zu kriegen. Darum mag ich Kunstfaser lieber.« Valerie hatte den Schlafsack neben sich gelegt und zog mehrere olivgrüne, mehrfach zusammen gefaltete Platten aus der Kiste. »Auch nicht schlecht – Isomatten.« Das nächste war ein knallrotes, ziemlich großes Paket, in dem es leise klapperte. »Halli-Hallo!« freute sich Valerie. »Das ist sogar ein Geodät mit allem Schnick und Schnack! Das ist ja Luxus.«
»Äh – wie meinen, gnä' Frau?« Titus hatte offenkundig kein Wort verstanden.
Valerie legte das Paket vor ihn und tippte auf ein Foto, das unter einer Plastikfolie darauf angebracht war. Es zeigte ein kleines Kuppelzelt. »Hier – diese Art von Zelten nennt man 'Geodät'. Ihr Gestänge kreuzt sich, so dass immer nur relativ kleine Zeltflächen entstehen. Das hat den Vorteil, dass sie zum einen sehr windsicher sind und zum anderen jede Menge Schnee verkraften.«
»Erschrecken Sie mich nicht!« Titus lehnte sich gegen die Kisten hinter ihm. »Wenn's schneit, möchte ich bitte wieder in der Zivilisation sein! Ich mag Schnee nur, wenn ich ihn aus einem gut geheizten Raum anschauen kann und nicht raus muss!«
»Ich bin bestimmt auch nicht wild darauf, im Schnee zu zelten. Aber wenn, dann bitte mit einem Geodät-Zelt.« Valerie hatte das Etikett gefunden und las es. »Wassersäule oben 7500 ml, am Boden 10.000 – das sollte uns heute Nacht trocken halten.«
»Und wer baut das Zelt auf? Ich kann sowas nicht ...«
Valerie lachte. »Wir machen das zusammen und wir schaffen das.«
»Im Regen? Und bei zunehmender Dunkelheit?« Titus schien sehr zu zweifeln.
»Ja, wir sollten wohl einen Zahn zulegen.« Valerie zog einen zweiten Schlafsack aus der Kiste, beugte sich noch einmal darüber und pfiff durch die Zähne. »Sehr gut – hier sind noch zwei Iso-Matten zum Aufblasen. Dann kann's ja gemütlich werden!« Sie schaute auf und Titus an. »Also, wir schnappen uns den Kram jetzt, gehen an Land, bauen das Zelt auf, breiten unsere Schlafsäcke auf, damit sie sich aufplustern können und dann gucken wir mal, was wir hier noch zu essen finden. In der Kiste ist Notproviant, da ist auch ein Hobo ...«
»Was ist ein Hobo?« unterbrach Titus.
»Ein Öfelchen für Feststoff«, erklärte Valerie, wühlte noch ein bisschen und nickte. »Brennstofftabletten, Kochgeschirr, Sturmstreichhölzer, Messer, Feuerstahl, Paracord«, zählte sie auf. »Da kann ja nichts mehr schiefgehen.« Sie schob das Zelt zur Seite, packte die Schlafsäcke und Isomatten zusammen und wickelte ihre Decke darum. »So – damit können wir das befördern.«
Titus schnappte sich das große Bündel. »Dann sollte ich wohl auch mal in die Gummistiefel springen«, kündigte er an, stapfte zu seinem Gepäck und zog eine Einkaufstüte mit dicken, grünen Gummistiefeln heraus. »Zum Glück bin ich einigermaßen auf Wildnis eingerichtet.«
Valerie klemmte sich das Zelt unter den Arm und schielte durch ein Fenster nach draußen. »Im Moment scheint es nicht ganz so stark zu regnen. Dennoch – geben Sie mir noch einen Augenblick.«
Valerie studierte die Bilder auf der Verpackung des Zeltes gründlichst. Dabei murmelte sie vor sich hin: »Also erst auslegen, dann die hinteren Heringe … hm, klar. Sauber abspannen – vielleicht noch zusätzlich was mitnehmen?« Sie schaute auf. »Ich hole noch ein bisschen Seil – und ein Messer. Taschenlampe brauche ich auch noch – ohne Taschenlampe ist Kokolores. » Sie stand auf, turnte nach hinten, holte ein zusätzliches Seil und ein langes Messer aus der Kiste, dann kam sie zu Titus. »Wir können.«
Es war höchste Zeit, denn es dämmerte schon. Titus und Valerie sprangen ins Wasser, er trug das große Bündel mit den Schlafsäcken und Isomatten, Valerie den Rest. Gemeinsam wateten sie zum Ufer. Titus schaute sich um und deutete auf eine Weide neben der, an die er die Seastar gebunden hatte. »Wie wäre es da?«
»Bisschen sehr im Wind«, fand Valerie. »Und für meinen Geschmack zu nahe am Wasser.« Sie drehte sich langsam einmal um sich selbst. »Schauen Sie mal – da vorne am Waldrand, die drei einzelnen stehenden Birken. Da hätte man den Wald im Rücken, an den Birken könnte man zusätzlich noch mal das Zelt nach oben abspannen, der Boden sieht schön trocken aus ...«
»Äh – für mich sieht hier alles nass aus!« stellte Titus fest.
Valerie stapfte auf die drei Birken zu. Über die Schulter sagte sie: »Achten Sie mal auf den Bewuchs. Hier wachsen nur ein paar relativ trockene Gräser, während da drüben«, sie deutete auf einen Baum ungefähr 50 m entfernt, »ziemlich viel Moos und Farn gedeiht. Sie können also davon ausgehen, dass der Boden da drüben feuchter ist als hier.«
»Mit Ihnen abzustürzen ersetzt offensichtlich eine Pfadfinder-Ausbildung!« grinste Titus. Valerie war den Birken angekommen, öffnete die Verpackung des Zeltes und versuchte, es mit einer Hand herauszuschütteln. Titus war zu ihr getreten und nahm ihr das Zelt aus der Hand. »Sagen Sie doch was, Mädchen! Ich hab' zwei gesunde Hände! Was soll ich machen?«
»Verpackung auf, das Außenzelt – das ist das grellrote – mit der Bodenseite nach unten auslegen. Und die Bodenseite erkennen Sie daran, dass sie grau und aus festerem Stoff ist. Und die Heringe geben Sie am besten mir.«
»Heringe?« fragte er zurück.
»Diese silbernen Metalldinger!« erklärte Valerie.
Titus kämpfte mit Stoff und Metallteilen und da war noch eine Kette aus ungefähr halbmeterlangen, goldfarbenen Stangen, die innen durch Gummiband verbunden waren und in die verschiedensten Richtungen zu streben schienen. Egal, wie Titus sie zu fassen versuchte – eine oder zwei Stangen entwischten ihm immer wieder. »Wozu ist der Kram denn gut?« schimpfte er.
»Das ist das Gestänge fürs Zelt. Das können Sie für den Augenblick weglegen.« Valerie musste lachen. Ihre Schulter fing zwar wieder an zu klopfen, aber Titus Kampf mit dem Zelt sah witzig aus.
»Okay.« Er legte das Gestänge auf den Boden und gab ihr das Säckchen mit den Heringen. »Jetzt lege ich das Ding hier mal aus.«
»Möglichst mit dem Ausgang zu den Bäumen«, empfahl Valerie.
»Bitt'schön, weiß ich, wo an einem Zelt hinten und vorne ist?« Er versuchte, den Stoff auszuwerfen, bekam ihn aber vom Wind zurückgetrieben. »Verdammt ...« Erneuter Versuch, dieses Mal näher am Boden. Ein Stück Stoff blieb liegen, er stellte den Fuß darauf, grinste, bückte sich und fing an, am anderen Ende zu ziehen. »'Wer langsam tut, kommt au ans Ziel!' pflegte der alte Bibliothekar an der Stuttgarter Oper zu sagen.«
Valerie half ihm, in dem sie eine Ecke des Zelts fasste und nach außen zog. Dabei stellte sie fest: »Glück gehabt – das Ding liegt richtig rum.« Sie hatte die Zeltheringe in die vordere Tasche ihrer Cargo-Hose gesteckt, nun zog sie einen Haken heraus, fummelte ihn durch eine Schlaufe am Zelt und steckte ihn in den Boden. Vorsichtig trat sie ihn in die Erde. »Darf man eigentlich nicht – dabei könnten sich die Dinger nämlich verbiegen. Aber ich mach' das mit viel Gefühl und bisher haben es meine Heringe immer ausgehalten.« Sie fasste wieder nach dem Stoff, ließ ihn zwischen den Fingern durchgleiten, als sie einen Schritt weiter ging. »So, da ist die andere Ecke.« Wieder fädelte sie einen Hering durch eine Schlaufe und trieb ihn in den Boden. »Fein – das war der erste Streich. Jetzt müssen wir sehen, dass wir das Gestänge reinkriegen.«
»Was soll ich tun?« fragte Titus.
Valerie kam zu ihm und hob die Kette mit den Stangen auf. »Zusammenstecken, bitte!« Sie klemmte sich eine Stange unter dem Arm und führte ihm vor, wie er die nächste an der Kette darauf stecken konnte. »Und das machen wir jetzt mit allen.«
Titus fing an zu stecken und stellte dabei fest, dass er keine einzige, große, zusammenhängende Kette hatte, sondern sechs einzelne, die zusammengesteckt jeweils eine ungefähr vier Meter lange Stange ergaben. »Faszinierend!« stellte er fest. »Was den Leuten so alles einfällt. Was mache ich jetzt damit?«
Valerie war in die Knie gegangen und hielt einen Zipfel des Zeltes etwas hoch: »Hier ist der Stangenkanal – da muss die Stange rein! Bitte langsam einfädeln!«
Titus fädelte die lange, biegsame Stange an der bezeichneten Stelle ein und schob langsam nach. Als er ungefähr die Hälfte des Metalls im Zelt hatte, richtete sich der Stoff auf. »Jetzt sieht's schon fast aus wie ein Zelt!« freute er sich.
Valerie fröstelte – beim Bücken war ihre Jacke nach oben gerutscht und der Wind hatte ihren Rücken ausgekühlt. Dazu klopfte es in ihrer Schulter und sie merkte, dass sie immer mehr gegen die Erschöpfung ankämpfen musste. Dennoch fädelte sie das Ende der Stange in die dafür vorgesehene Halterung. »Jetzt sind Sie wieder dran. Bitte gehen Sie auf die andere Seite und stecken Sie dort das Gestänge fest. Sichern Sie dann bitte Ihre Seite mit einem Hering an der Schlaufe – aber noch nicht ganz reintreten! Den müssen wir nachher garantiert noch mal nachspannen!«
Titus erledigte die aufgetragene Aufgabe und richtete sich auf. Er sah über das Zelt hinweg, das nun stand, wenn auch noch mit schlaffen Seitenteilen. »Vermute ich richtig, dass nun die gegenläufige Stange kommt?«
»Richtig!« Valerie hatte das Gefühl, dass es ihr gleich die Beine wegziehen würde. Sie zog sich zwei der zusammengefalteten Isomatten heran und setzte sich drauf. »Darf ich Ihnen das überlassen? Stange durchfädeln, an beiden Enden sichern, dieses Mal auf meiner Seite einen Hering setzen?«
»Gerne.« Titus war schon am Werk. »Ich sehe jetzt noch einen Kanal für eine Stange. Was mache ich mit den anderen drei?« wollte er wissen.
»Die verstärken die schon vorhandenen Stangen«, erklärte Valerie. »Wenn Sie die drin haben, spannen wir das Zelt ordentlich, hauen rundrum zur Sicherung Heringe in den Boden, hängen das Innenzelt rein und fertig.« Sie konnte nicht verhindern, fast sehnsüchtig zu klingen, denn in diesem 'fertig' lag ja, dass sie sich in warmen Schlafsack kuscheln und ausstrecken durfte! Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass sie Titus jetzt so alleine arbeiten ließ und wollte sich wieder aufraffen, aber zu mehr als zwei Heringe einzufädeln, reichte es nicht mehr.
»Lassen Sie mal gut sein!« sagte Titus. »Wir haben nichts davon, wenn Sie hier schließlich vor Erschöpfung umfallen. Sagen Sie mir einfach, was ich zu tun habe.«
Keine 10 Minuten später stand das rote Zelt und war auf allen Seiten befestigt. »Jetzt hängen wir das Innenzelt rein ...« Valerie öffnete den Reißverschluss, krabbelte ins Zelt, schaltete die Taschenlampe ein – es war mittlerweile ziemlich dunkel geworden – und leuchtete nach oben, wo der Stangenkanal nach unten offen war. »Da kommen die Schlaufen vom Innenzelt rein!« erklärte sie. Sie rutschte auf den Knien zum Ausgang und zog die gefalteten Isomatten nach innen. »Ich denke, die nutzen wir als Bodenmatten. So kalt wie es hier schon ist, kann man nicht genug unter sich haben.«
Titus unterdessen hatte nun schon ein bisschen Ahnung, was er zu tun hatte. Er krabbelte mit dem Innenzelt herein, faltete es auf und richtete sich auf, um es einzuhängen. »Klingt es für Sie sehr doof, wenn ich jetzt wissen will, warum wir zwei Zelte brauchen?«
»Gar nicht«, fand Valerie und zog mit ihrer freien Hand die Schlafsäcke und die aufblasbaren Matten ins Zelt. »Das Außenzelt schützt uns vor Regen und Wind. Außerdem hält es unsere Körperwärme ein wenig zusammen. Aber dadurch, dass es dann außen kälter ist als innen und dass wir atmen, entsteht Kondenswasser. Das würden wir abkriegen, wenn wir nur das Außenzelt hätten. Im Innenzelt aber sind wir davor geschützt. Das ist aus einem atmungsaktiven Stoff, der unser Kondenswasser nach außen befördert und uns innen trocken hält.«
»Fein.« Titus lächelte. »Ich habe gar nicht gewusst, dass Zelte inzwischen so hoch entwickelt sind.« Er hatte das Innenzelt installiert. »Soll ich diese Klappdinger da jetzt auf den Boden legen?«
»Ja, bitte.« Valerie versuchte, eine der Matten aufzublasen, schaffte es aber nicht und zog darum lieber die Schlafsäcke aus ihren Packtaschen. Sie fühlte sich wirklich wie gestrandet – nach langem, anstrengendem Kampf mit der See.
»Sie gucken schon ganz langsam und gleichmäßig!« Titus nahm ihr eine Matte ab und blies sie auf. »Gehe ich recht in der Annahme, dass die nicht zu fest werden soll?«
»Richtig«, bestätigte Valerie. Sie war selbst zum Reden zu müde.
Titus blies schweigend die eine Matte auf, legte sie ins Innenzelt, nahm dann einen der Schlafsäcke, die Valerie über ihrem Schoss liegen hatte und breitete beides im Innenzelt aus. »Gnädigste, husch-husch, ins Körbchen! Sie sehen aus, als ob Sie gleich umfallen würden! Ihr Bett ist bereit.«
»Danke!« Valerie streifte ihre Gummistiefel ab und stellte sie in die Ecke, dann krabbelte sie ins Innenzelt, fädelte sich in den Schlafsack und streckte sich auf der Matte aus. »Uuuh!« Sie seufzte vor Behagen. Es tat so gut, zu liegen und die Augen schließen zu dürfen.
Titus streckte den Kopf ins Innenzelt. »Valerie, ich werde das Seil, das Sie mitgebracht haben, nützen und das Flugzeug noch mal anbinden. Wäre ja blöd, wenn es morgen weg wäre. Und dann sehe ich, dass ich was zum Essen finde – später sollten Sie auch noch was zu sich nehmen!«
»Danke!« Valerie war schon fast eingeschlafen. Sie hatte zwar schon einmal bequemer gelegen als auf der relativ schmalen Matte ohne Kopfkissen, aber im Schlafsack wurde es langsam angenehm warm und sie war müde genug, dass sie wohl überall hätte schlafen können.