Читать книгу Der Absturz - Sibylle Luise Binder - Страница 5
Runter kommen sie alle …
ОглавлениеAn einem See im Norden Alaskas,Mitte September
Valerie spürte, wie ihr kalter Schweiß über den Rücken lief. Den See hatte sie gefunden – das war das kleinste Problem gewesen. Und theoretisch war ihr auch klar, wie man die Maschine zu wassern hatte – aber gleichzeitig wusste sie, dass es auch beim Fliegen einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis gibt. Sie wusste es vermutlich sogar besser als so manch anderer Freizeitpilot, denn neben ihrer Erfahrung mit Segelflugzeugen war sie mit einem Profi verheiratet gewesen. Sie hatte Sandro durch seine ganze Karriere begleitet – angefangen von seiner Ausbildung, die ihn bis nach Texas geführt hatte bis zu seinen ersten Jahren als Verkehrspilot bei der Lufthansa. Dabei hatte sie sich jede Menge Geschichten über verpatzte Landungen und wacklige Starts angehört.
Aber jetzt galt es, nicht an die Vergangenheit zu denken und sich davon vielleicht entmutigen zu lassen. Schließlich ging es hier nicht um eine Simulation am Computer und sie saß auch nicht an ihrem Schreibtisch zuhause, sondern neben einem toten Piloten in einer Seastar, die jetzt steiler sank als Valerie beabsichtigt hatte. Sie zog die Nase wieder ein wenig nach oben. Wie war das mit dem Wassern gewesen? Mit oder gegen den Wind?
Über ihr zog ein Schwarm Graugänse nach Süden. Valerie beneidete die Tiere. Die hatten es mit dem Wassern leicht! Sie wussten von Jugend an, wie sie mit welcher Windrichtung fliegen mussten, um sicher wieder auf den Boden zu kommen. Denen brachten es ihre Mütter schon im zarten Kükenalter bei!
Segelflieger lernten, den Wind für sich zu nutzen. Im Gegenwind konnte man, wenn er nicht zu stark war, Höhe gewinnen. Seitenwinde allerdings waren bei der Landung extrem gefährlich.
Sie waren jetzt über dem See. Zwischen der kleineren Insel und dem Westufer war er fast durchgehend mit Schilf bewachsen. Der Wind strich durch die Rohre und an ihm konnte Valerie sehen, dass er aus Nordwest wehte. Valerie zog die Maschine in eine Linkskurve. Der See war von Wald umgeben. An der Nordseite war das Ufer steil und felsig, ein Wasserfall fiel in den See. Aber im Süden gab es an einer Seite einen langen Strand, ein Bächlein plätscherte über ein Stück Wiese, dahinter begann der Wald. Ein Stück weiter war ein Felsen, die Steinwand ragte glatt und grau bis ins Wasser hinein.
Valerie drückte das Flugzeug noch ein wenig tiefer. Jetzt war sie am Ausfluss des Sees hinter der kleinen Insel. Die nächste Kurve, am anderen Ufer entlang – sie musste nun wirklich mit dem Landeanflug beginnen. Es brachte nichts, ewig über dem See zu kreisen. Also – Check vor dem Landeanflug. Klappen, Tiefenruder, Schubkontrolle – wie würde die Maschine reagieren? Valerie hatte noch nie ein Flugzeug gesteuert, dessen Motoren so hoch saßen. Sie kannte die kleinen einmotorigen, die ihren Propeller an der Nase hatte, sie war einmal mit einem zweimotorigen unterwegs gewesen, bei dem die Motoren in der Mitte der Tragflächen gewesen waren – aber die Seastar mit ihrem Motor auf dem Dach und dem Schiffsrumpf mit seinen Auslegern? Allerdings sollte der sie beim Aufsetzen aufs Wasser stabilisieren und dafür sorgen, dass sie nicht nach einer Seite abkippen konnte.
Also gut. Sie nahm all' ihren Mut zusammen, flog bis zum oberen Ende des Sees und noch ein gutes Stück darüber hinaus, drehte im langsamen Sinkflug eine Schleife und bemühte sich, eine Stelle zu fixieren, an der sie aufsetzen wollte. Tiefer, tiefer, tiefer, aufsetzen – das konnte doch so schwer nicht … oh, verdammt! Das Waser bremste viel mehr als sie gedacht hatte, die Maschine senkte die Nase, ein Wasserschwall schoss über das Kabinenfenster. Ruckartig zog Valerie Steuerruder und Schubregler nach oben. Für einen endlosen Moment war es, als ob die Seastar die Nase nicht mehr aus den Wellen heben würde, doch dann holperte es und sie war wieder etwas über dem Wasser, stieg und ließ sich hochziehen. Rechtskurve – Valerie hatte das Gefühl, dass ihr die Insel schon zu nahe war und wollte auf keinen Fall einen Crash mit den Bäumen darauf verursachen – und es ging wieder nach oben. Irgendein Instrument piepste eine schrille Warnung, Valerie nahm den Schub zurück.
Dreimal tief durchatmen – ruhig bleiben, ruhig bleiben! Ein schiefgegangener Landungsversuch war kein Drama. Sie hatte genug Treibstoff, die Seastar lag jetzt wieder stabil in der Luft – und ausgesprochen gutmütig schien sie auch zu sein. Also noch mal zum Ende des Sees und etwas hochziehen und Schleife und anfliegen. Sie fixierte eine Stelle, an der das Wasser dunkler zu werden schien, ungefähr 20 m vom Strand entfernt im See. Die Seastar hatte fast keinen Tiefgang, sie war sicher, dass sie dort genügend Wasser unter dem Bauch haben würde. Zudem konnte sie da über fast die ganze Länge des Sees ausgleiten.
Zweiter Touchdown – und Valerie war, als ob sie dabei die Stimme ihres Ex im Ohr hätte: »Lass die Nase oben! Du willst die Maschine nicht in den Boden bohren, sondern landen!«
Grrr - das Geräusch war nicht nett und noch weniger schön war es, dass Valerie in ihren Gurt knallte und die Maschine rapide an Geschwindigkeit verlor. Dieses Mal hatte sie hinten zu tief aufgesetzt und es fühlte sich an, als ob das Flugzeug gleich einen Kopfstand machen würden. Die Motoren heulten, das Warnlicht des hinteren Triebwerks schrillte. Dieses Mal zog Valerie etwas ruhiger an den Reglern und wartete mit wild klopfendem Herzen, bis die Maschine wieder Höhe gewann und sich stabilisierte. Aber jetzt war sie entschieden zu langsam, zudem schien der hintere Motor zu stottern.
Valerie wünschte sich nichts mehr als aus diesem Alptraum aufzuwachen und sich auf sicherem Boden zu finden. Aber sie saß immer noch am Steuerknüppel einer Maschine, die nun in Schieflage über den See trudelte. Stabilisieren, wieder an Höhe gewinnen, etwas Geschwindigkeit zulegen, die Schleife … und sollte sie dieses Mal eine andere Stelle probieren? Würde sie vielleicht mehr Glück haben, wenn sie es weiter im Osten probierte? Aber da war die Schilffläche zu nahe. Nein – an ihrem Landepunkt hatte es nicht gelegen, dass es schief gelaufen war.
Nun gut. Wie hieß es so schön? »Aller guten Dinge sind drei". Valerie konzentrierte sich für ein paar Sekunden auf ihre Atmung. Flach einatmen, tief ausatmen – und noch mal. Sie wurde ruhiger, aber ihre Hände waren immer noch schweißfeucht. Sie wischte sie an ihrer Hose ab, nahm wieder Steuerknüppel und Tempokontrolle – und jetzt musste es klappen!
Aufsetzen – ja! Die Maschine schoss durchs Wasser, aber sie war auf ebenem Kiel. Schubregler zurück – oh, verdammt, was war das? Ein Seitenwind hatte den linken Flügel erwischt und angehoben, die Spitze des rechten tauchte spritzend ein, wurde dabei gebremst, die Maschine drehte, schlidderte über das Wasser und traf hart auf einen Felsen. Valerie wurde trotz des Gurts nach vorne geschleudert, krachte mit dem Kopf und der linken Schulter gegen die Konsole. Sie splitterte, Blut floss über Valeries Gesicht.
Plötzlich war es still. Die Motoren waren aus, man hörte nur noch, wie das Wasser gegen den Rumpf der Seastar schwappte, die im leichten Wellengang schaukelte. Valerie hob den Kopf von der Konsole und wischte sich mit dem rechten Handrücken über die Stirn. Sie spürte das warme, feuchte Blut, das daran klebte, betrachtete fast ungläubig die Spur, die es auf ihrer Haut gezogen hatte und sah sich dann im Cockpit um.
Der tote Pilot war beim Aufprall ebenfalls nach vorne geschleudert worden und hing nun wie eine Marionette mit abgeschnittenen Fäden in seinem Gurt. Alle Instrumente waren dunkel. Nun griff Valerie mit der rechten Hand nach der linken Schulter und zuckte zusammen. »Oh, verdammt!« Die war wohl ausgerenkt. Sie biss die Zähne zusammen, tastete die Schulter, so gut es ging, ab und atmete aus. Das Schultergelenk war eindeutig nicht mehr sauber in der Gelenkpfanne, aber es schien, als ob die Bänder nur gedehnt und nicht gerissen wären.
Valerie schaute auf die dunkle Instrumententafel vor sich hin, hob die rechte Hand, legte einen Schalter um, lauschte dem Klicken nach, sah auf die Konsole vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Mist.« Sie probierte noch einmal, dann wandte sie sich einem anderen Knopf zu, versuchte es an einem Regler, doch die Instrumente blieben dunkel. »Tja – das war's dann wohl.« Valerie stand sie auf, hielt sich mit der gesunden Hand am Sitz fest und rief: »Titus? Sind Sie okay?«
»Ich bin schon weicher gelandet«, sagte Titus hinter ihr. »Aber nichts passiert – nur das Knie angeschlagen.«
Valerie schob sich in den Durchgang. »Sorry – aber wenigstens sind wir unten ...« Valerie ließ sich auf den Doppelsitz fallen, auf dem sie vorher gesessen hatte.
»Naja, runter kommt man ja angeblich immer. Die Frage ist nur, wie man sich danach fühlt.« Titus schaute aus dem Fenster. »Wir sind mitten auf dem See, scheint mir.«
Valerie schaute auf ihrer Seite. »Ne – gar nicht so sehr. Das sind keine 20 Meter zum Ufer. Das Problem ist nur, dass es uns beim Aufprall wohl die Elektronik zerlegt hat. Ich krieg' die Motoren nicht mehr an.«
»Und wie kommen wir dann an Land?« fragte Titus.
»Dazu werden wir uns wohl ins Wasser bemühen müssen.« Valerie streifte bereits die Schuhe ab, dann stemmte sie sich wieder hoch. »Helfen Sie mir bitte, die Tür aufzumachen? Ich habe mir die Schulter angeschlagen.«
Er stand auf und hinkte zur Tür, löste die Verankerung und drückte dagegen. Die Tür schwang auf und Titus schaute misstrauisch auf das graue Wasser unter ihm. »Sieht kalt aus!«
»Ist unter Garantie schweinekalt!« versicherte ihm Valerie. »Hilft aber nichts – wir können ja nicht mitten auf dem See bleiben. Vor allem weiß ich nicht, ob der Rumpf nach diesem Bums immer noch wirklich dicht ist.«
»Na, fein – wir sitzen mitten in Alaska in der Wildnis auf einem See und es ist nicht sicher, ob unser Flieger nicht absaufen wird!«
Valerie schob ihre linke Hand in die Känguruh-Tasche ihres Hoodies. Es tat fies weh, aber mit zusammen gebissenen Zähnen ließ es sich aushalten. Und nun einen Schritt nach vorne – und das Wasser war wirklich beißend kalt. Sie zog sich mit der freien, rechten Hand am Rumpf entlang, um die kleinen Ausleger unten herum. »Helfen Sie mir oder schauen Sie mir zu?« schnauzte sie in Richtung Titus, der immer noch unentschieden an der Tür stand. Sie war mittlerweile hinter dem Ausleger und nutzte ihr Körpergewicht, um die Maschine vollends so zu drehen, dass ihre Nase zum Ufer zeigte.
Vorne platschte es – Titus war jetzt auch im Wasser und kraulte um die Nase der Maschine herum. Dabei rief er: »Ich schiebe auf der anderen Seite!«
Mit Titus zusammen schaffte es Valerie, die Maschine so weit ans Ufer zu schieben, dass sie dort im weichen Sand aufsetzte. »Gut so – jetzt müssen wir sie nur noch irgendwie befestigen, damit sie uns nicht raustreibt!« rief sie. Sie watete nach vorne und fand einen Haken unterhalb der Nase des Flugzeuges. »Fehlt nur noch ein Strick!«
»Warten Sie ...« Titus war um die Seastar herumgekommen, zog sich geschickt wieder in die Tür und erschien zwei Minuten später mit einem stabilen Seil. Er fädelte es durch die Öse, dann ging er zum Strand. »Ich schlinge das Seil um den Baum!« kündigte er an, wickelte das Seil dreimal um eine Weide am Ufer und band einen stabilen Knoten.
Valerie versuchte erst einmal, wieder ins Flugzeug zu kommen. Der See war eisig kalt, sie hatte das Gefühl, ihre Beine schon nicht mehr zu spüren, schaffte es aber nicht, sich mit nur einem Arm wieder durch die Luke zu stemmen. Aber dann war da eine kräftige Hand, die sie am Gürtel hinten packte und fast ins Flugzeug warf. »Autsch!« Valerie landete hart, drehte sich und musste nach Luft schnappen.
Titus kletterte hinter ihr her in die Seastar. »Ausziehen!« kommandierte er. »Wir müssen so schnell wie möglich aus den nassen Klamotten! Sie haben doch sicher was trockenes dabei.« Er zog Pulli und Hemd über den Kopf und warf beides auf den Boden, dann reckte er sich und öffnete die Gepäckklappen über ihnen. »He, das ist gut ...« Er zog eine dunkelrote Fleece Decke heraus und legte sie um Valeries Schulter. Sie hatte inzwischen ebenfalls den Pullover und das Shirt darunter ausgezogen und versuchte gerade, ein enges Bustier über den Kopf zu ziehen. Titus half, dabei schaute er auf ihre linke Schulter. »Das sieht nicht gut aus«, stellte er fest.
»Wir werden's einrenken müsssen!« teilte ihm Valerie mit, versuchte, einhändig ihre Jeans nach unten zu schieben und gab schließlich auf. Die nasse, eiskalte Hose klebte an ihrer Haut. Dabei zitterte sie schon vor Kälte. »Entschuldigung – können Sie mir helfen?«
»Natürlich! Setzen Sie sich!« ordnete Titus an. Valerie setzte sich auf die Kante ihres Doppelsitzes und hoffte, dass ihre Hose auf dem nicht zu viel Wasser hinterlassen würde. Immerhin war Titus schnell. Er fasste kurzerhand nach den unteren Säumen an den Hosenbeinen und kommandierte: »Kehrseite hoch links!« Valerie tat wie er ihr befohlen, mit einem Ruck hatte er das linke Hosenbein bis zum Oberschenkel. »Andere Seite!« kam jetzt. Sie stemmte sich rechts hoch – und damit hatte er beide Hosenbeine und streifte sie über ihre Unterschenkel ab, um sie zu den anderen nassen Sachen auf dem Boden zu werfen. »So – jetzt aber warm einpacken!«
Valerie ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie wickelte sich in die Fleecedecke, setzte sich mit dem Rücken zum Fenster, zog die Beine auf den Sitz und rieb ihre erstarrten Zehen. »Boah, ist mir kalt!«
»Mir auch!« Titus hatte es mit seiner Cordhose einfacher: Gürtel und Bund auf, der nasse Stoff fiel nach unten. Er kickte die Hose weg und bückte sich, um die nassen Socken auszuziehen.