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Der Traum vom besseren Leben

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Vor einiger Zeit zeigte mir ein guter Freund die Parallelen zwischen der landwirtschaftlichen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts und der heutigen Abhängigkeit vom Luxus auf.

Ich könnte ein Lied davon singen, wie die bunte, materiell orientierte Welt des Westens mich – jung und unbedarft und aus dem Osten – vereinnahmt und hypnotisiert hat. Natürlich öffneten sich in dieser Welt für mich auch wichtige Türen, damit ich überhaupt sehen konnte, was möglich ist.

Der innere Mangel, der mich vor 30 Jahren in die Konsumfalle tappen ließ, war allerdings auch ein Turbomotor für meinen Weg. In meinem beruflichen Werdegang habe ich früh gelernt, mich selbst zu beobachten. Durch meinen Erfolg und die finanzielle Fülle verlor ich mich allerdings in oberflächlichen Ablenkungen. Eine Zeit lang versuchte ich dadurch, die Leere in mir zu kompensieren. Ich wollte diesen hungrigen Teil in mir nähren, wusste aber nicht, wie, denn ich konnte ihn weder sättigen noch gehen lassen. Zuletzt erkannte ich, dass die Nahrung, die mich sättigen würde, die Suche nach der Quelle meines wahren Lebens war.

In meiner Jugend reiste ich Tausende Kilometer per Anhalter, übernachtete im Schlafsack am Straßenrand oder auf einem zugigen Bahnhof. Ich musste entscheiden, was mir wichtiger war, Pfirsiche, eine Schallplatte, eine Jeans, ein Ticket zu kaufen oder eine Unterkunft für die Nacht zu bezahlen. Zehn Jahre später kam ich dann beruflich an dieselben Orte, diesmal untergebracht in den besten Hotels, und ich habe Erlebnisse geschenkt bekommen – dann natürlich im »kleinen Schwarzen« –, die sich privat gar nicht organisieren lassen.

Erst durch das Kennenlernen der beiden Seiten wurde mir klar, was mir wirklich entspricht und wie ich gern leben möchte. Ich weiß heute: Alles muss in uns gesättigt sein, bevor wir es loslassen können.

Meine Kindheit und Jugend habe ich in purer Natur verbracht. Mein Vater hat »alles« selbst angebaut – fantastische Paprika, Tomaten, Gurken, Kartoffeln, Kräuter und verschiedenstes Obst. Es war ein Paradies für mich und meine Schwester, zum Ernten einfach nur in den Garten zu gehen. Unverständlich, dass mich einige Zeit später das riesige Angebot der Supermärkte dennoch beeinflusste.

Die Entwicklung der Landwirtschaft verlief über Jahrtausende. Sie führte von der Jagd auf Wildtiere und vom Sammeln von Nüssen und Früchten aufs Feld, wo man Getreide anbaute. Der Wandel erfolgte in kleinen Schritten, mit minimalen Veränderungen im Alltagsleben. Vor Tausenden von Jahren lebte der Mensch, ohne sich als Bauer zu betätigen. Es gab genug Ressourcen für die Ernährung. In guten Zeiten bekamen die Menschen mehr Kinder, in schlechten Zeiten weniger. Doch allmählich gaben die Menschen ihre nomadische Lebensweise auf und ließen sich in besseren Lagern nieder.

Der Übergang von der Frau, die Getreide sammelt, zu der Frau, die Getreide anbaut und verarbeitet, ist fließend. Deshalb ist es schwer, den Beginn der Landwirtschaft zeitlich zu bestimmen. Mit der Gründung von Siedlungen und der Zunahme der Nahrung wuchs auch die Bevölkerung. Die zusätzlichen Hände wurden dringend auf dem Acker gebraucht, doch die zusätzlichen Münder aßen den Überschuss an Nahrung schnell wieder auf, dennoch wuchs die Bevölkerung immer weiter. Da die Menschen dann in schmutzigen Siedlungen lebten, die Kinder mehr Getreide und weniger Muttermilch bekamen und immer mehr Geschwister um den Getreidebrei konkurrierten, stieg die Kindersterblichkeit. Es starb mindestens jedes dritte Kind vor Erreichen des 20. Lebensjahres, doch die Zahl der Geburten nahm noch schneller zu als die der Sterbefälle. Mit der Zeit wurde der Getreideanbau immer beschwerlicher. Die Kinder starben wie die Fliegen, und die Erwachsenen aßen ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts.

Der Durchschnittsbauer hatte damals ein deutlich schwereres Leben als der Durchschnittssammler und -jäger. Das bemerkte natürlich niemand. Jede Generation setzte im Grunde die Arbeit ihrer Eltern fort, nur ein bisschen effizienter. Paradoxerweise summierte sich die Abfolge von Verbesserungen, die den Menschen eigentlich das Leben erleichtern sollten, im Lauf der Zeit zu einer drastischen Verschlechterung. Wie konnten sich die Menschen so irren?

Niemand wusste zu dieser Zeit, dass man mehr Kinder bekommen würde und dass man mit der zusätzlichen Ernte nun mehr Menschen ernähren musste. Man wusste nicht, dass das Immunsystem der Kinder geschwächt würde, wenn sie von einer einzigen Nahrungsquelle abhängig waren. Hinzu kam, dass man nun die Getreidevorräte bewachen und verteidigen musste. Das hat doch Ähnlichkeit mit unserem heutigen Wohlstand, nicht?

Damals machte das Bevölkerungswachstum jede Rückkehr zum früheren Leben unmöglich. Wenn die Bevölkerung dank mehr Nahrung von 100 auf 110 anwuchs, waren das zehn Menschen. Doch keiner dieser Menschen wäre dann freiwillig verhungert, damit die Übrigen überleben konnten. Es führte kein Weg zurück. Die Falle war zugeschnappt.

Heute gäbe es jedoch die Möglichkeit, für ein gemeinsames Wohl zu sorgen. Es gäbe reichlich Nahrung, wenn sie nicht weggeworfen oder zur Unbrauchbarkeit manipuliert würde oder, teils aufgrund unsinniger Gesetze, entsorgt werden müsste. Es ist vieles aus der Balance geraten und wird sich neu sortieren müssen.

Die Nachkriegsgenerationen haben sich mit viel Anstrengung und Arbeit im Leben etwas geschaffen. Auch ihre Motivation war, dass es ihren Kindern einmal besser gehen sollte. Sie sollten nicht so schwer arbeiten müssen wie ihre Eltern. Mit dieser guten Absicht überforderten sie oft ihre Kinder und setzten sie unter Leistungsdruck. Die Kinder sollten wenn möglich alle studieren. Heute sehen wir, dass dem Handwerk Fachleute fehlen oder es ausstirbt. Dabei ist es eine wertvolle Tradition. Wieder führte der Traum vom besseren Leben, der in Wahrheit nur ein Wegwollen von einem schweren Leben ist, in eine Sackgasse.

Was diese Entwicklungen bedeuten, können wir heute am eigenen Leib oder in unserem Umfeld erfahren. Viele junge Menschen, auch mein Sohn, machen nach dem Studium erst ein oder mehrere Praktika in großen Unternehmen und nehmen sich fest vor, richtig zu schuften, um für eine Stelle übernommen zu werden. Sie geben alles, tagelang bis nachts um zwei, und arbeiten die Wochenenden durch. Freiwillige Sklavenarbeit mit Zuckerbrot und Peitsche, um zu überleben. Mein Sohn erzählte mir, dass eine befreundete Kollegin um drei Uhr morgens beim Nachhausegehen zu ihm sagte: »Wir haben den geilsten beschissensten Job auf Erden.« Ja, diese jungen Leute wollen sich wirklich einbringen, sie wollen sich ausdrücken. Doch sie haben keine Chance, Geld für eine Reise oder zur Familiengründung auf die hohe Kante zu legen. Sie leben in ständiger Überforderung und machen eine gesundheitliche Gratwanderung. Sie haben ungeahnte Talente, die einfach verheizt werden. Vielleicht wählen ihre Seelen diesen Weg, um wirtschaftlich und sozial unabhängig zu sein, was auch durch ein »Weg-von« motiviert ist: weg vom Mangel, weg von Kritik oder weg vom Gefühl, versagt zu haben. Vielleicht wählt auch eine Seele diesen Weg, um ihre Kraft zu erfahren und erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Eigenverantwortung zu gehen.

Udo Jürgens sang bei seiner großen Gala zu seinem 80. Geburtstag zum Abschluss in etwa folgende Zeilen: » … nicht gefeiert, sondern umsorgt sein … nicht umjubelt, sondern geliebt sein …« Luxus kann keine Liebe ersetzen und schnell zur Notwendigkeit werden. Er kann neue Zwänge erschaffen, sobald wir uns daran gewöhnt haben. Er wird zur Selbstverständlichkeit. Die Menschen wollen nicht mehr ohne ihn leben. Irgendwann können sie es nicht mehr.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden zahllose Maschinen erfunden, die uns das Leben erleichtern: Waschmaschine, Staubsauger, Geschirrspülmaschine, Telefon, Handy, Computer … Früher hat es viel Zeit gekostet, einen Brief zu schreiben, ihn zur Post zu bringen und abzuschicken. Heute können wir innerhalb einer halben Minute eine E-Mail schreiben und sofort eine Antwort bekommen. Haben wir jetzt mehr Zeit für uns selbst? Im Gegenteil. Und ich war mir damals sicher, wir würden 20 Jahre später die Hälfte der Woche frei haben!

Der Traum vom besseren Leben hält uns im kleinen Leben gefangen. Er hält uns genau dort fest, wovon wir wegwollen. Lassen wir uns heute immer noch von ihm täuschen? Wahrscheinlich schon. Der Traum vom besseren Leben macht uns blind für die Suche nach einem erfüllten Leben in unserem wahren Selbst. So wie die Menschen vor Jahrtausenden? So wie mich einmal?

Die Seele als Coach

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