Читать книгу Aufgerichtet von dir - Silke Harms - Страница 5
ОглавлениеI. ALLGEMEINE HINWEISE
1. Was finde ich in diesem Buch?
Dieses Buch ist für Menschen geschrieben, die sich für einen vierwöchigen Kurs zu „Exerzitien im Alltag“ zusammentun wollen. Obwohl das Material für die Durchführung mit einer Gruppe konzipiert ist, ist es aber auch denkbar, den Kurs als Einzelperson oder zu zweit durchzuführen.
Elemente des Kurses sind:
1 Eine tägliche persönliche Übungszeit zu Hause (ca. 30 Minuten)
2 Ein täglicher abendlicher Tagesrückblick (ca. 5–10 Minuten)
3 Ein wöchentliches Gruppentreffen (ca. 2 Stunden)
4 Ein Begleitgespräch (bei Bedarf auch mehrere) mit einem Begleiter / einer Begleiterin
Sie finden in diesem Buch vier Kurse. Der Kurs „Gemeinsam auf Ostern zugehen“ ist an die Passions- und Osterzeit gebunden. Die Durchführung der anderen Kurse ist zu jeder (Kirchen-) Jahreszeit möglich.
Die Kurse in diesem Buch sind in ihrer Grundstruktur und im Aufbau gleich. Jeder Kurs hat aber auch seinen besonderen Charakter.
2. Exerzitien im Alltag – Was soll das?
Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille,
nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
Dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
Dich gefunden zu haben.
Nelly Sachs
Stille finden
Viele Menschen sehnen sich nach Ruhe und Stille. Nicht jeder hat die Möglichkeit, sich auf der Suche nach Stille in ein Kloster zurückzuziehen. „Exerzitien im Alltag“ wollen helfen, einen Raum der Stille im Alltag zu Hause zu schaffen: täglich Zeit zum Innehalten, Zeit zum Fragen und Hören, Zeit zum Kraftschöpfen und Aufatmen – vor Gott.
Den Alltag als Raum des Glaubens entdecken
Manche Menschen fragen sich, was der Glaube und ihr konkreter Alltag miteinander zu tun haben. Braucht man für den Glauben besondere, „heilige“ Orte? Manchmal ist das Aufsuchen besonderer Orte hilfreich für den Glauben. Eine strikte Trennung von Glauben und Leben, von Gebet und Alltag allerdings ist lebensfeindlich und widerspricht dem christlichen Glauben. Denn Christen glauben, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Und das heißt doch: Er ist in der ganz alltäglichen, profanen, banalen und manchmal mühsamen Welt Mensch geworden. „Exerzitien im Alltag“ sind eine Möglichkeit, geistliche Erfahrungen nicht nur an besonderen Orten und in besonders ausgesparten Zeiten zu machen, sondern zu Hause, im ganz normalen Alltag.
Das Leben ordnen
Unsere Welt wird immer unübersichtlicher und bietet immer mehr Möglichkeiten. An vielen Stellen des Lebens müssen Entscheidungen gefällt werden. Was sind die Kriterien, nach denen wir uns entscheiden? Durch Exerzitien bekommt man das nötige Handwerkszeug, um das eigene Leben und den eigenen Glauben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Ruhe betrachten zu können. Lebenssinn und Lebensziel kommen neu in den Blick. Das Leben wird neu geordnet.
Das Du entdecken
Viele Menschen sind der Meinung, an Gott zu glauben heiße, Glaubensinhalte für wahr zu halten und die Gebote zu befolgen. Christlicher Glaube ist aber seinem Wesen nach etwas anderes: Er ist kein „Dass-Glaube“ (Ich glaube, dass …), sondern ein „Du-Glaube“ (Ich glaube an …), das heißt: Der Mensch soll nicht nur Glaubenssätze anerkennen, sondern er soll erkennen und glauben, dass die Inhalte des Glaubensbekenntnisses und des Evangeliums ihm persönlich gelten. Glaube ist eine Beziehung zwischen „Du und Du“, zwischen dem Dreieinigen Gott und dem Menschen. Glaube heißt: Ich vertraue mich diesem Gott an, ich verlasse mich mehr und mehr auf ihn. Geistliche Übungen im Alltag wollen helfen, diese Beziehung zwischen Gott und Mensch zu entdecken, zu glauben und zu gestalten.
Mit Gott ins Gespräch kommen
Die Beziehung zu Gott braucht wie jede menschliche Beziehung Regelmäßigkeit, Dauerhaftigkeit und Treue, sie verlangt nach Gestaltung. Bei den geistlichen Übungen im Alltag geht es um die Gestaltung dieser Beziehung. Die Gebetsimpulse sind als Anregungen zu verstehen, nicht als ein zu absolvierendes Programm, nicht als Leistung, sondern als eine Hilfe, mit Gott im Alltag ins Gespräch zu kommen.
Beten lernen
Viele Menschen und sogar viele Christen wissen nicht mehr, wie man betet. Das freie Gebet, in dem der Mensch mit dem, was ihn bewegt, vor Gott kommt, wird nur in wenigen Gemeinden und nur in einigen Frömmigkeitsformen regelmäßig geübt. Gebet wird mehr und mehr zu einem Aufsagen von Auswendig-Gelerntem, wie z. B. beim Tischgebet oder dem Vaterunser, oder wird an einen „Experten“ delegiert, z. B. den Pastor, der im Gottesdienst mit ausformulierten Worten ein Gebet spricht. „Exerzitien im Alltag“ bieten die Möglichkeit, das eigene Leben vor Gott ins Gespräch zu bringen und so das Beten mehr und mehr als „Gespräch mit Gott“ zu erleben.
Den Glauben üben
Alle für das Leben wesentlichen Dinge muss man üben. „Üben“ meint sowohl ein aktives Tun, als auch ein passives Geschehenlassen. Das alte Wort für „üben“ (uoben) bezeichnet in seinem ursprünglichen Sinn die Arbeit eines Bauern auf dem Felde. Damit ist sowohl sein aktives, manchmal mühevolles Tun gemeint, als auch das passive Warten auf das für das Wachsen und Gedeihen nötige göttliche Wirken. Alles geistliche Üben geschieht in diesem doppelten Sinne: Wer sich in Stille, Gebet und der Betrachtung des Evangeliums übt, bereitet den Boden dafür, dass Gott in ihm wirken und sein Leben und seinen Glauben zum Wachsen und zum Blühen bringen kann. „Es geht darum, das geheimnisvolle Gotteskorn in den Ackerfurchen des eigenen Herzens wachsen zu lassen, es zu pflegen und täglich neu der Sonne und dem Tau der göttlichen Gnade hinzuhalten.“ (W. Lambert)
Durch Wiederholung Gewohnheiten ausbilden
Wenn man etwas nur einmal probiert, ist das noch keine Übung. Eine Übung wird erst zur Übung durch die Wiederholung und die längere Dauer. Dabei geht es nicht um eine leere Routine oder um einen herzlosen Automatismus. Vielmehr soll durch die Wiederholung eine Übung zur Gewohnheit werden. In dem Wort Gewohnheit steckt das Wort „wohnen“. Gewohnheit hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, in etwas zu wohnen, ganz drin zu sein, so damit vertraut zu sein, dass man sich in ihm gerne aufhält und sich darin entfalten kann. Gewohnheiten lassen sich am leichtesten ausbilden, wenn man ihnen einen festen Ort zuordnet oder wenn man sie mit einer Handlung verbindet. Das Gebet zu einer festen Zeit und an einem bestimmten Platz regelmäßig auszuüben ist eine Hilfe, die diese Erkenntnis nutzt.
Bei den geistlichen Übungen geht es nicht um ein einmaliges besonderes Erlebnis, sondern um das „Dranbleiben“ über einen längeren Zeitraum. Die Regeln, die für das Üben anderer Dinge im Leben gelten (Vokabeln, Jogging, Klavierspielen), haben auch für das geistliche Üben eine Bedeutung: So sind beispielsweise kurze und regelmäßige Übungen (jeden Tag eine halbe Stunde) sinnvoller als seltene und intensive (zweimal im Jahr einen Tag lang).
Wer übt, hofft!
Ein weiteres Kennzeichen der Übung – im Unterschied z. B. zu einer absichtslosen Gewöhnung – besteht darin, dass Übung ein Ziel hat. Wer übt, will irgendetwas besser können. Beim geistlichen Üben kann es beispielsweise darum gehen, besser zur Stille und ins Gebet zu finden oder Gottes Stimme besser von anderen Stimmen unterscheiden zu können. Auch den Glauben kann man üben mit dem Ziel, „besser“ glauben zu können, das heißt, sich immer mehr und tiefer Gott anvertrauen zu können. Aus der Pädagogik weiß man, dass alles, was man lernt, erst dann dauerhaft gekonnt wird, wenn man es immer wieder übt: „Vom Kennen zum Können führt nur eins: die Übung“ (O. F. Bollnow). Eine einmal gelernte Sprache wird man wieder vergessen, wenn man sie nicht ab und zu spricht. Formeln, die man noch kurz vor einer Mathearbeit schnell auswendig gelernt hat, behält man nur, wenn man sie auch nach der Arbeit noch anwendet. So wird der im Glauben wachsen, der sich immer wieder darin übt, und zwar im ursprünglichen Doppelsinn des Wortes: Sich mit „fröhlicher Hartnäckigkeit“ (C. Bamberg) bemühen und mindestens ebenso fröhlich Gott wirken lassen. Wer übt, hofft!
Die Bibel verkosten
In der überwiegenden Anzahl der bundesdeutschen Haushalte gibt es (zur Zeit noch) eine Bibel. Aber wer liest darin? „Exerzitien im Alltag“ wollen Mut machen, bekannte und unbekannte Texte der Bibel zu entdecken und ihre Aktualität für den eigenen Lebensweg zu verstehen. Dabei soll die Bibel so gelesen werden, dass sie die Seele nährt und satt macht. Denn: „Nicht das viel Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her.“ (Ignatius von Loyola)
Raus aus der Burg! Rein ins Leben!
Das Wort „Exerzitien“ kommt vom lateinischen Wort „exercere“. Von der Grundbedeutung her meint dieses Wort: „Aus einem verschlossenen Raum herausführen und in Bewegung bringen“. Exerzitien / geistliche Übungen sind nicht dazu da, einen Menschen zu bedrängen oder einzuengen, sondern haben etwas mit Freiwerden, mit dem Heraustreten aus engen und dunklen Räumen und bedrückenden Verhältnissen zu tun. Verschlossenes wird geöffnet. Grenzen werden durchbrochen und überwunden. Starres gerät in Bewegung. Türen und Gräber werden aufgetan – So handelt der Gott, von dem die Bibel erzählt!
Mit dem Ruf „Ex arce!“ wurden in früheren Zeiten die Soldaten aus der Burg gerufen, um auf dem freien Felde für den Kampf zu üben (daher der Ausdruck „Exerzierplatz“). In diesem Sinne wollen geistliche Übungen bzw. Exerzitien dazu anregen, sich aus eng gewordenen Lebens- und Glaubensräumen herausrufen zu lassen, um neu von Gottes Geist bewegt zu werden: „Raus aus der Burg! Rein ins Leben!“
Sprache finden
„Was glaubst du eigentlich?“ – Auf diese Frage können viele keine Antwort geben. Selbst wer Christ ist, hat oft Schwierigkeiten, seinen Glauben mit eigenen Worten auszudrücken. „Exerzitien im Alltag“ wollen sprachfähig für den Glauben machen. Wer in einem geschützten Rahmen geübt hat, eigene Glaubenserfahrungen ernst zu nehmen und in Worte zu fassen, der wird das auch z. B. gegenüber Kindern und Arbeitskollegen besser können.
Gemeinschaft erleben
Wir leben in einer Gesellschaft, die immer anonymer wird. Vereinsamung ist ein großes Problem vieler (nicht nur alter) Menschen. Gleichzeitig besteht eine große Scheu, sich verbindlich und auf Dauer auf eine Gruppe einzulassen. Wer sich innerhalb eines begrenzten Zeitraumes von vier Wochen mit anderen Menschen auf einen Glaubensweg macht, könnte etwas anderes erleben: Statt Anonymität und Beziehungslosigkeit Gemeinde als eine Gemeinschaft der Glaubenden erfahren.
In ökumenischer Gemeinschaft stehen
Glaubensgemeinschaft geht weit über die Grenzen der eigenen Konfession hinaus. In der katholischen Kirche sind „Exerzitien im Alltag“ eine schon lange geübte und in den letzten Jahren verstärkt wiederentdeckte Tradition. Ebenso gab es in der evangelischen Kirche immer schon und gibt es bis heute Frömmigkeitsformen, in denen die Umsetzung des Glaubens in den Alltag und die Einübung in den Glauben eine wesentliche Rolle spielen. Wer den Glauben übt, tritt also ein in eine ökumenische Gemeinschaft, die Zeiten und Konfessionsgrenzen überschreitet.