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Drittes Kapitel
Die Tröstungen Ciceros, Senecas und Plinius des Jüngeren

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Vielleicht sollten wir mit dem ältesten Brief anfangen, den wir besitzen, auch wenn er eine Fiktion ist. Homers Ilias, wahrscheinlich im 8. Jahrhundert v. Chr. verfasst, enthält im sechsten Buch eine packende Passage, in der ein Brief seinen Überbringer beinahe tötet. König Proitos hat schon einige Zeit lang einen neuen Besucher bewirtet, den schönen, maskulinen Krieger Bellerophon, und wie es der schicksalhafte Lauf der Dinge so will, verliebt sich die Frau des Königs, Anteia, in ihn. Bellerophon ist jedoch alles andere als scharf auf die Dame und seine Tugendhaftigkeit wird beinahe sein Verderben. Anteia kocht vor Wut, weil er sie abgewiesen hat, und teilt ihrem Gatten Proitos mit, der Gast habe sie zu vergewaltigen versucht; augenblicklich schreitet Proitos zur Tat, indem er beschließt, dass er – statt Bellerophon selbst zu töten – besser Anteias Vater dazu bringen sollte, das zu tun. Also schreibt er schlimme Sachen über Bellerophon in einem Brief, der aus zwei versiegelten Täfelchen besteht (»viele Dinge, welche die Seele vernichten können«, sagt Homer), und weist Bellerophon an, die Nachricht selber zu Anteias Vater zu bringen … Wie eine Mastgans, die sich persönlich auf den Weihnachtsteller legt.

Es folgt ein mythologisches Chaos, in dem Anteias Vater Iobates, der König von Lykien, beschließt, Bellerophon nicht etwa zu töten, sondern in einen scheinbar aussichtslosen Kampf gegen die Feuer schnaubende Chimaira zu senden. Den besteht der Held mithilfe des geflügelten Pferdes Pegasus und muss anschließend im Alleingang zwei Armeen besiegen. Er überlebt auch das und erzählt die Sache Poseidon, der daraufhin eine Sintflut schickt. Die Geschichte geht aber noch weiter.

Im richtigen Leben waren griechische Briefe meist weniger folgenschwer. Häufig stellen wir eine schlichte Tatsache fest: dass viele Briefe eine Förmlichkeit und Ausdrucksweise an den Tag legen, die wir sofort wiedererkennen. Papyrusfragmente und Schriftrollen aus der Zeit seit 350 v. Chr., die man 1752 in einer Villa in Herculaneum, seit 1877 im ägyptischen Arsinoë und seit 1897 aus Abfallhaufen bei Oxyrhynchos (und mindestens zwanzig anderen Fundorten in der Nähe des Nils) ausgegraben hat, deuten auf jene Art stilistische Einheitlichkeit hin, in die wir uns inzwischen bei PowerPoint-Präsentationen ergeben haben. Da gibt es die übliche Eröffnungsformel – »Von A an B, Gruß« –, die wir bei den Römern in Vindolanda in Gebrauch gesehen haben, und häufig wird sie je nach Begleitumständen erweitert. Wenn man an eine hochstehende Persönlichkeit, vielleicht einen König, schrieb, kehrte der Schreiber die Reihenfolge respektvoll um in »Demetrios der Schöne, König von Kyrene, von Hippopappos, Gruß«. Um die Identifikation von Person und Ort zu erleichtern, können zusätzliche Angaben gemacht werden: »Antigonos, Bruder des Kapelos, Pferdezüchter in Olympia, an Laodamas, Lehrer in Delphi, Gruß.« Die Unterschrift fiel normalerweise einfach aus: »Leb wohl« (häufig eine Abkürzung für »ich vertraue darauf/bete, dass es Dir gut geht«) oder »Alle guten Wünsche«. Nur Personen in allerhöchsten Stellungen neigten dazu, diese Höflichkeiten wegzulassen, ein öffentlicher Hinweis, dass sie Wichtigeres zu tun hatten. Alexander der Große benutzte sie beispielsweise demonstrativ nur für seine engsten Getreuen unter den Generälen und für wichtige Politiker, darunter Antipatros und Phokion.

Woher kam das »Gruß«-Element? Eine Erklärung besagt, dass es nach 425 v. Chr. in Athen gängig wurde, als der Politiker Kleon das Wort am Anfang eines Berichts über seinen unverhofften Sieg gegen die Spartaner im Peloponnesischen Krieg benutzte. Bei dem Bericht handelte es sich um ein offizielles Dokument für den Rat von Athen, aber sein festlicher Tonfall galt schon bald als passend für einen normalen Brief, anfangs vielleicht in Erinnerung an den Sieg. Vorher – und das trifft auf den ältesten erhaltenen griechischen Brief zu, eine unscheinbare Inschrift aus dem 5. Jahrhundert auf Blei vom Schwarzen Meer – gab es überhaupt keinen Gruß, so als wäre ein Stück Papyrus, das ein flinkfüßiger Bote nach einer Reise von vielen Tagen überbracht hatte, irgendwie Teil einer laufenden, offenen Unterhaltung, wie eine E-Mail.1

Aber sobald das Hallo-und-Tschüss-Schema sich einmal durchgesetzt hatte, änderte es sich im Stil während all der Jahrhunderte kaum. Allerdings dauerte es bis zum 16. Jahrhundert, ehe das platzfressende Layout eines modernen Briefes Gestalt annahm; Papyrus war auf jeden Fall viel zu wertvoll für Experimente mit reizenden Leerzeilen.

Auch der Inhalt der Briefe, die mit Binsenfedern und schwarzer Rußtinte geschrieben wurden, ist vertraut. Da gibt es Erkundigungen nach der Gesundheit des Adressaten, meist optimistisch gehalten, gefolgt von Nachrichten über die Gesundheit des Absenders, die fast immer prächtig ist. Der Althistoriker John Muir vermerkt, dass dieser Brauch so alltäglich war, als ihn später lateinische Briefeschreiber übernahmen, dass man ihn manchmal zu SVBEEQV verkürzte: si vales, bene est, ego quidem valeo.2 Anschließend bestätigte man den Eingang früherer Briefe oder tadelte vielleicht, dass es keine gegeben hatte. Gute Wünsche wurden an alle Mitglieder der Familie gesandt, jedes namentlich genannt – Haustiere oft eingeschlossen.

Schon im 4. Jahrhundert v. Chr. war die Praxis des Briefeschreibens selbst der Gegenstand von Untersuchungen – oder zumindest von Kritik. Als Theophrast die Charakterzüge des »arroganten Mannes« aufzählt, bemerkt er: »Wenn er brieflich Anweisungen schickt, schreibt er nicht ›ich wäre Dir sehr verbunden‹, sondern ›ich will, dass folgendes geschieht‹ (…) und ›sorge dafür, dass es genau so ist, wie ich sagte‹.«

Im 3. Jahrhundert fand der Philosoph Ariston eine weitere Definition: »Wenn er einen Sklaven gekauft hat, fragt er den nicht nach seinem Namen, sondern spricht ihn einfach mit ›Sklave‹ an (…) Und wenn er einen Brief schreibt, schreibt er weder ›Grüße‹ noch am Ende ›Lebe wohl‹.«

Die erhaltenen griechischen Briefe – an die 2000 Stück, die auf die großen Museen der Welt verstreut sind – sind über ihren unmittelbaren Kontext hinaus wertvoll. Sie werfen einiges Licht auf die prominente Rolle, die gebildete Frauen spielten, und widerlegen auf jeden Fall die Ansicht, Frauen seien im öffentlichen Austausch unsichtbar gewesen. (Man vermutet, dass der Alphabetisierungsgrad in griechischen Städten unter 50 Prozent lag und der Anteil bei Frauen noch geringer war, aber Analphabeten mieteten oft Schreiber an, die für sie die Kommunikation übernahmen.) Außerdem hat die Fachwelt dank der Briefe Entwicklungen in der Sprache und Grammatik des Griechischen nachverfolgen können.

Wie man sich denken kann, sind diejenigen Briefe, die wir am faszinierendsten finden, nicht das Übliche (die Mehrheit), sondern das Schräge, die Stücke, bei deren Lektüre wir wegen ihrer Verwegenheit oder Absurdität nach Luft schnappen. Im 1. Jahrhundert v. Chr. ist der Brief eines Mannes, der räumlich getrennt von seiner Frau arbeitet (er nennt sie »Schwester«, eine gängige Praxis), fürsorglich und unbekümmert kaltherzig zugleich.

Hilarion an seine Schwester Alis sehr viele Grüße – auch an meinen geschätzten Beroos und Apollonarion. Wisse, dass wir im Augenblick immer noch in Alexandria sind (…) Ich bitte und dränge Dich, achte auf das kleine Kind, und sobald ich meinen Lohn empfange, werde ich ihn Euch senden. Solltest Du – viel Glück dazu – ein Kind gebären und es ist männlich, lass es leben; ist es weiblich, dann setze es aus. Du hast zu Aphrodisias gesagt: »Vergiss mich nicht.« Wie kann ich Dich vergessen? Darum bitte ich Dich, Dir keine Sorgen zu machen.3

Der Brief zweier älterer Schwestern an zwei jüngere liest sich ziemlich schikanös:

Apollonia und Eupous an ihre Schwestern Rhasion und Demarion, Gruß. Wenn es Euch gut geht, ist das gut. Uns geht es auch gut. Ihr würdet uns einen Gefallen tun, wenn Ihr die Lampe im Heiligtum anzündet und die Kissen aufschüttelt. Lernt weiter fleißig und sorgt Euch nicht wegen Mutter. Denn ihr geht es inzwischen wieder gut. Erwartet unsere Ankunft. Lebt wohl. Und spielt nicht im Hof, sondern bleibt drinnen und seid brav. Kümmert Euch um Titoa und Sphairon.«4

Im gereizten Brief eines eifrigen Sohnes im Schulalter an einen schreibfaulen Vater aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. würgt der Verfasser seinen Frust runter, so gut er kann:

Meinem Herrn und Vater Arion sendet Thonis Grüße. Vor allem Übrigen: ich spreche jeden Tag ein Gebet und bete auch zu den angestammten Göttern dieses Landes, in dem ich mich aufhalte, dass ich Dich und unsere ganze Familie bei bester Gesundheit finde. Schau, das ist jetzt der fünfte Brief, den ich schreibe, und außer einem einzigen hast Du mir nicht geschrieben, nicht einmal über Deine Gesundheit, und bist auch nicht gekommen, um mich zu sehen. Obwohl Du mir versprochen hast: »Ich komme«, bist Du nicht gekommen und hast nachgesehen, ob sich der Lehrer gut um mich kümmert oder nicht (…) Also raffe Dich auf und komm schnell zu mir, damit er mich unterrichten kann – was er zu tun begierig ist (…). Komm schnell zu mir, ehe er in die oberen Landesteile aufbricht. Ich sende viele Grüße an unsere ganze Familie, jeden davon einzeln genannt, und an meine Freunde. Leb wohl, mein Herr und Vater, und ich bete, dass es Dir viele Jahre lang gut ergeht, zusammen mit meinen Brüdern – möge der Böse Blick ihnen nicht schaden. Denk an meine Tauben.5

Doch all den Reizen und vertrauten Mustern zum Trotz, den meisten griechischen Briefen fehlt jene entscheidende Eigenschaft, die wir von Briefen in der Moderne erwarten: die persönliche Erfahrungswelt erweitern sie nicht besonders. Zwar mögen sie faszinierend sein, aber die Privatbriefe sind selten etwas Bedeutendes. Offizielle Briefe – viele davon Kunstprodukte, die die Briefform als neue Art nutzen, verwickelten philosophischen Gedankengängen zu folgen und ein breiteres Publikum zu erreichen – sind oft lediglich ungehaltene Reden, das Äquivalent des »offenen Briefes« in unseren heutigen Medien. Viele Briefe des Neuen Testaments nahmen sich offenkundig ein Beispiel an dieser Praxis.

Die Griechen liebten die Idee des Briefes und deren hochgesteckte Ziele; sie liebten seine Briefhaftigkeit. Aber was ist mit der privaten Rolle als Vehikel des Vertraulichen? Fast alle Briefe wurden geschrieben, um laut gelesen zu werden; sogar Privatbriefe diktierte man vorwiegend einem Schreiber und las sie halblaut, wenn man sie erhielt. In den Sokrates und Platon zugeschriebenen Briefen gibt es seltene Häppchen privaten Eigensinns, aber die Mehrheit der Korrespondenz ist frei von privaten Gefühlen und ihr rhetorisches Erbe verleiht ihnen eine pompöse Förmlichkeit.

Was also fehlt, das wir unter den Funden erwarten dürften? Der Historiker John Muir weist darauf hin, dass unter den rund 2000 Papyrusbriefen, die wir besitzen, nur sehr wenige sind – er zählt zwölf oder dreizehn – die sich mit privaten Verlusten beschäftigen. Unter diesen haben lediglich sechs das Beileid als Hauptthema, und drei davon (was überproportional viel ist) sind von Frauen geschrieben. Also fehlt eine der wenigen verlässlichen Bastionen des Briefeschreibens im E-Mail-Zeitalter – der Kondolenzbrief – fast vollständig, und dafür gibt es keine logische Erklärung.

Und warum gibt es keine Liebesbriefe? Eine mögliche Erklärung lautet, dass die Beteiligten fast alle vernichtet haben. Eine andere, plausiblere besagt, dass man Briefe noch nicht als das richtige Medium für so etwas betrachtete. Weil es in so vielen griechischen Briefen um Wirkung ging (oder weil sie rabiate oder dramatische Anweisungen enthielten wie jener, den Bellerophon beförderte), hielt man sie vielleicht nicht für passend, um echte Herzensergüsse festzuhalten. Zusätzlich rät Muir zur Vorsicht – die antike Welt war nicht so ähnlich wie unsere, wie wir uns das vielleicht vorstellen. Die Gruß- und Abschiedsformeln waren eine Sache, aber »eine heilsame Warnung mag sich gegen die Annahme richten, dass die vielen zweifellos wiedererkennbaren Gefühle und Situationen in den Briefen bedeuten, dass wir es mit Menschen zu tun hätten (…), deren Ansichten über das Individuum den unseren sehr ähnelten. Die ›Andersartigkeit‹ der antiken Welt gerät manchmal zu leicht in Vergessenheit.«

Individualität und Authentizität – ein Brief, der persönlich und informativ zugleich ist – beginnt eigentlich erst mit den Römern, den ersten wahren Briefeschreibern. Sie begründeten die Tradition, wonach Briefe eine biographische Quelle, aber auch Literatur sind, die man um ihrer selbst willen sammeln und genießen kann. Die Altertumswissenschaftlerin Betty Radice hat die Geschichte der Briefe in der Antike mit einem Rundgang durch ein Museum mit Marmorfußböden verglichen: »Die griechische Statue steht mit ihrem stilisierten Rätsellächeln für sich allein, während die Porträtbüste des Römers eindeutig jemand wie wir ist und ihre regelmäßigen Gesichtszüge eine bestimmte Person zu einem bestimmten Zeitpunkt verraten.« Für den modernen Leser besitzen lateinische Briefe eine weitere erfrischende Eigenheit gegenüber ihren griechischen Pendants: ihre Geradlinigkeit. Sie sind intelligent, ohne anzugeben, direkt statt geistreich, eher schlicht als eingebildet. Wenn griechische Briefe aus dem Theater zu kommen scheinen, dann haben römische etwas von der Kneipe.


Die Spur beginnt in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. mit den über 900 Briefen von Marcus Tullius Cicero. Cicero war der Inbegriff eines Staatsmannes von Weltbedeutung zu einer Zeit, da die römische Republik sich offensichtlich im Abstieg befand. Seine Redekunst – als Anwalt vor Gericht wie im Senat – gilt als überwältigend, doch seine erhaltenen Briefe sind es, die seine Talente bestätigen.

Ciceros lebenslanger Briefwechsel mit seinem Freund Atticus ist prahlerisch, verspielt und abwechslungsreich wie keine andere Korrespondenz zuvor, und sein Reichtum und seine dichte Abfolge erlauben es uns, das biographische Bild eines Politikers zu zeichnen, das ungewohnt intim ausfällt. In anderen Briefen ist er besonders fesselnd, weil er spontan reagiert, verwundbar ist und zu übertriebener Aufregung neigt – und weil sein politischer Erfolg von Ehrgeiz, Eitelkeit und Schwäche genährt wird. Cicero erscheint darin nicht als besonders liebenswürdiger Charakter, aber wertvoll ist er für uns allemal: Es gibt wenige Persönlichkeiten, mit denen er nicht in Kontakt stand, während Rom in den Jahrzehnten vor 45 v. Chr. mit dem Tod rang, und keine andere Textsammlung beleuchtet diese Welt in gleicher Weise. Doch Cicero gelingt ein weiterer Trick, eine große Ablenkung in Briefform. Seine Sammlung ist die älteste von Bedeutung, die uns zeigt, wie der vollendete Politiker zu Täuschungszwecken schmeicheln kann; seine scheinbaren Geständnisse dienen stets seinen eigenen Zwecken und mehren sein Ansehen.

Das Überleben und die Bekanntheit der Korrespondenz Ciceros verdanken sich hauptsächlich der Entdeckung einer lange verloren geglaubten Briefsammlung durch Petrarca in der Kathedrale von Verona im Jahr 1345, während ein zweiter, fast 50 Jahre späterer Fund in Vercelli den Vorrat stark erweiterte. Gemeinsam leisteten die Briefe einen unschätzbaren literarischen Beitrag zu den ›Jugendjahren‹ der Renaissance; Cicero hatte die Werte der klassischen Antike detailreich genug offengelegt, um den Anstoß zu ihrer künstlerischen und kulturellen Rekonstruktion zu liefern.


Cicero bei der Arbeit: vielleicht großspurig, aber nie langweilig.

Hineinversetzen können wir uns in seine Familiennöte (zwei Scheidungen, der frühe Tod seiner Tochter Tullia), und das annähernd genug, um ihm seine Selbstgefälligkeit zu verzeihen. Virginia Woolf hat einmal gesagt, dass »eine Zeit, die weder Briefschreiber noch Biographen besitzt, eine gewisse Leere an sich hat«, und Cicero hat den Beweis als Erster angetreten. Zweifellos wusste er, wie viel seine Briefe wert waren: Sie wurden sorgfältig redigiert, ehe man sie abschrieb, und das Ziel dabei war es, einen Mann zu zeichnen, der die großen Staatsangelegenheiten fest in der Hand hatte. Sein Sekretär Tiro spielte dabei zumindest eine Nebenrolle. Das Ansehen von Ciceros Briefen in späteren Jahrhunderten hat im Lauf der Zeit geschwankt, doch wie ein spätviktorianischer Übersetzer der Schriften Ciceros in einer Einleitung zu den Briefen behauptete: »In jedem einzelnen weckt er zweifellos verschiedene Gefühle in unterschiedlichen Persönlichkeiten. Doch obwohl er wie schon zu Lebzeiten weiterhin heftige Ablehnung ebenso hervorrufen wird wie große Bewunderung, wird er doch, wie ich denke, niemandem jemals langweilig oder uninteressant erscheinen.«

2011 stellte Denis Feeney, Professor für klassische Philologie in Princeton, fest, dass Cicero zwar immer schon gefragt gewesen sei, die letzten anderthalb Jahrzehnte allerdings ein stetig wachsendes Interesse der Fachwelt an seinen Briefen gezeigt hätten, »als hätten unserer eigenen herumwuselnden E-Mails die Nostalgie nach einer Zeit geweckt, als Menschen, die viel zu tun hatten, im Zuge ihres üblichen Austauschs noch seitenweise wohlgesetzte Prosa schreiben konnten.«6


Ciceros Briefe.

Zwei Beispiele liefern lebendige Momentaufnahmen seiner Zeit und eine Kostprobe von Ciceros boshaftem Stil (er selbst sagte von sich, er könne ein Bonmot nicht besser im Mund behalten als eine glühende Kohle). Den ersten Brief schrieb er 55 v. Chr. aus Rom an seinen Freund Marcus Marius in Cumae, einer Stadt bei Neapel. Marius hatte die Eröffnung des neuen, vom führenden Politiker Pompeius erbauten und nach diesem benannten Theaters verpasst und mit ihr eine sehenswerte Reihe von Tierhetzen und anderen Vergnügungen.

Wenn Dich irgendein körperliches Leiden oder überhaupt Deine schwache Gesundheit abgehalten hat, zu den Spielen zu kommen, so schreibe ich das mehr dem Zufall als Deiner Weisheit zu; hast Du aber, was alle andern bestaunen, verachten zu müssen geglaubt und nicht kommen wollen, obwohl Dein Gesundheitszustand es Dir erlaubt hätte, dann freue ich mich über beides: daß Du ohne körperliche Schmerzen gewesen bist und einen klaren Kopf behalten hast, indem Du Dich um das, was andre ohne Grund bestaunen, nicht gekümmert hast (…)

Wenn du’s wissen willst: es waren auf jeden Fall prächtige Spiele, aber nicht nach Deinem Geschmack, denn das schließe ich nach meinem eigenen. (…) Denn wie könnte man Vergnügen finden an 600 Maultieren in der Klytaemnestra oder im Trojanischen Pferd (…) an der bunten Bewaffnung von Fußvolk und Reiterei in einer Schlacht? Bei der Menge fand das alles staunende Bewunderung; Dir hätte es keinen Spaß gemacht. (…) Denn wie sollte ich annehmen, Du sehntest Dich nach Athleten, wo Du die Gladiatoren verschmäht hast? Pompeius gibt selbst zu, dabei Zeit und Geld vertan zu haben. Bleiben noch die Tierhetzen, fünf Tage lang je zwei; großartig, zugegeben! Aber wie kann ein kultivierter Mann Vergnügen daran finden, wenn ein schwacher Mensch von einer gewaltigen Bestie zerrissen oder ein herrliches Tier vom Jagdspieß durchbohrt wird? (…) Der letzte Tag gehörte den Elefanten. Da staunten die Masse und der Pöbel, aber recht warm wurden sie nicht; vielmehr regte sich so etwas wie Mitleid und das Gefühl: dieser Koloß hat irgendwie etwas Menschenähnliches.7

In unmittelbarer Nähe desselben Theaters fand etwas mehr als zehn Jahre später, im Jahr 44 v. Chr., der Mord an Caesar statt. Kurz zuvor aber kam Caesar in Ciceros Haus am Golf von Neapel zum Essen, und über dieses Erlebnis schrieb Cicero an Atticus auf fast dieselbe Art, wie wir heute noch von überwältigendem Besuch sprechen würden.

Was für ein unsympathischer Gast! Und doch ist es mir nicht leid; er war nämlich äußerst nett. (…) Er blieb am dritten Saturnalientage bis 1 Uhr bei Philippus; vorgelassen wurde niemand; wahrscheinlich finanzielle Besprechungen mit Balbus. Den Weg von dort zu mir machte er zu Fuß am Strande entlang. Nach 2 Uhr ins Bad (…) Dann ließ er sich salben und kam zu Tisch. Er hatte vor, ein Vomitiv zu nehmen; so aß und trank er denn auch unbekümmert und mit Appetit, und es war auch ein ganz glänzendes, prachtvolles Mal, und nicht nur das, sondern auch »gut gekocht und gut gewürzt, von wackeren Reden begleitet, und wenn du’s wissen willst, behaglich«.

Außerdem wurde sein Gefolge an drei Tafeln sehr anständig aufgenommen. Schon den weniger vornehmen Freigelassenen und den Sklaven fehlte es an nichts; die angesehenen wurden geradezu exquisit bewirtet. Kurz und gut: ich glaube, in Ehren bestanden zu haben. Freilich, der Gast nicht so, daß man ihm hätte sagen mögen: »Komm doch bitte wieder herein, wenn du vorbeikommst!« Einmal genügt mir gerade.8


Ein Jahrhundert später verfolgte der stoische Philosoph, Dichter und Dramatiker Lucius Annaeus Seneca (Seneca der Jüngere) einen ganz anderen Ansatz für den lateinischen Brief. Wo Cicero sich persönlich und raffiniert gab, da war Seneca lehrreich und entwaffnend, als er 124 Briefe schrieb, die uns mitteilen, wie wir unser Leben führen sollen.9 Sie alle wurden gegen Ende von Senecas Leben an seinen Schriftstellerfreund Lucilius geschrieben und bilden eine Mischung aus philosophischer Abhandlung und spirituellem Ratgeber; der Brief erscheint hier als passender Träger für die Vermittlung solider und ernsthafter Ratschläge in gut verdaulicher Form.

Diese Briefe könnte man als den weltweit ersten Brieflehrgang zur Weiterbildung sehen – oder auch, wenn man die ganze Sammlung betrachtet, als erstes Selbsthilfebuch. Wie zu erwarten, steigert sich die Komplexität von Senecas Argumentation im Lauf des Kurses. Die Briefe haben aber auch Gesprächscharakter und häufig wird angenommen, dass der Dialog in beide Richtungen ging, obwohl Lucilius’ Beiträge nicht erhalten sind. Die Texte enthalten viel modernes Denken und decken ein riesiges Spektrum ab: vom Nachdenken über die Vorzüge von Hirn und Muskelmasse gegenüber dem Altwerden und der Senilität, vom Wert des Reisens zur Verzweiflung des Betrunkenseins, von der Vergeblichkeit unvollendeter Taten zu den Tugenden der Selbstbeherrschung, von ethischen Einzelfragen bis zu generellen Problemen der Physik. Und niemals verfehlen sie es, einen zu packen. Manche Gelehrte meinen, Seneca spiele häufig nur die Rolle des Philosophen und es gehe ihm ebenso sehr um die Struktur seiner Argumentation wie um die Abhandlung selbst. Kein Zweifel besteht aber daran, dass er die Herausforderung der Briefform liebte, und sein leicht zugänglicher Ansatz in Häppchenform hat zur bleibenden Beliebtheit und zum Einfluss seiner Werke beigetragen.

Als er auf Reisen ist, spricht sich Seneca beispielsweise gegen die Hoffnung aus, von einer Reise in einer besseren Gemütsverfassung zurückzukommen als der, die wir beim Aufbruch hatten. Offensichtlich antwortet er direkt auf eine Klage des Lucilius:

Das, meinst Du, sei Dir allein widerfahren – und Du bestellst es als einen unerhörten Vorgang –, daß Du mit einer so langen Reise und bei so vielfachem Ortswechsel nicht vertrieben hast die Bekanntmachung und Schwermut Deiner Seele? Die seelische Einstellung mußt Du wechseln, nicht den Himmel. (…)

Was kann der Länder überraschende Eigenart helfen? Was die Bekanntschaft mit Städten und Landschaften? In Vergeblichkeit verfällt diese Unrast. Du fragst, warum Dir diese Flucht nicht hilft? Mit Dir fliehst Du. Die Belastung Deiner Seele mußt Du ablegen: vorher wird Dir kein Ort gefallen.10


Seneca, der radikale Selbstverbesserer.

Zu den Eckpfeilern der Denkschule der Stoa zählt es, dass man das Wohlbefinden einer Person verbessern kann, indem man ihre Lebensweise ebenso zur Klarheit bringt wie ihr Denken – ein ferner Vorläufer der Appelle, im eigenen Leben »zu entrümpeln«. Im Brief 87 erwägt Seneca, »wie viel Überflüssiges wir haben und wie leicht wir aus Einsicht auf das verzichten können, was wir, wenn es die Notwendigkeit einmal genommen hat, nicht als Verlust empfinden«.

Sehr viele seiner Grübeleien beschäftigen sich mit Alter und Tod, mehrere mit dem Suizid. Im Brief 70 bleibt weder ein Zweifel, dass Seneca das Altern als natürlichen Prozess sieht, den es zu begrüßen gilt, noch dass er mit Vorsicht für eine Sterbehilfe spricht, wenn dieser Vorgang nicht länger erträglich ist.

Vorbeigefahren, Lucilius, sind wir am Leben (…) So verlieren wir in diesem überaus raschen Lauf der Zeit zuerst die Kindheit aus den Augen, dann das Jugendalter, dann alles, was zwischen dem Alter des jungen Mannes und des alten Mannes, an beiden Grenzen, liegt, dann des eigentlichen Greisenalters beste Jahre: Zuletzt beginnt sich zu zeigen die allgemeine Grenze des Menschengeschlechtes. Eine Klippe sei sie, meinen wir hoffnungslosen Toren: ein Hafen ist sie, der manchmal aufzusuchen, niemals abzulehnen (…) Das Leben muß ein jeder auch vor anderen rechtfertigen, den Tod vor sich.11

In dramatischer Weise befolgte Seneca seinen eigenen Rat. Weil er in das Mordkomplott gegen Nero verwickelt war, wurde ihm befohlen, sich zu töten – was er auch tat, obwohl sein Aderlass etwas länger dauerte als erwartet und er seine Freunde dazu drängte, ihn in ein warmes Bad zu tragen, damit die Qual ende.


Senecas Ableben machte den Weg frei für einen weiteren großen Briefschreiber dieser Zeit. Plinius der Jüngere, vier Jahre nach Senecas Tod geboren, hat mehr als jeder andere den Brief in seiner modernen Form geschaffen und ihn vor den Abwegen der Belanglosigkeit, Großspurigkeit, Rhetorik und philosophischen Unterweisung bewahrt. Plinius’ Briefe an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert, der Zeit des vielleicht größten Wohlstands in der Geschichte des Römischen Reiches, unterhalten und bereichern den Leser auch noch über zweitausend Jahre später.

Ehe eine frühchristliche Welt, der mehr an religiöser Kritik und Unterweisung liegt, die Briefform wieder an die Kandare nimmt, dienen die Pliniusbriefe als Leitstern dafür, was aus den weltlichen Briefen werden wird, als sie im 12. Jahrhundert ins Leben treten und von dort bis zum Beginn der Renaissance fortdauern: Sie werden alltäglich, persönlich und unentbehrlich.

Wir besitzen 247 private und berufsbedingte Briefe des Plinius, die in neun Büchern gesammelt sind und zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, dazu 121 weitere dienstliche Briefe von und an Kaiser Traian, die postum herauskamen. Plinius schrieb die Briefe, als er einige der höchsten Ämter in der römischen Finanzverwaltung und im Rechtswesen bekleidete, und viele seiner Korrespondenten sind ebenfalls einflussreiche Anwälte, Philosophen und Literaten; die Mehrheit von ihnen lebte in Rom, einige auch in seiner Heimatstadt Como (dem damaligen Comum; Plinius gehörten mehrere Häuser mit Blick auf den See). Er schreibt ausgiebig und erhält feste Freundschaften aufrecht, und in seinen Briefen spiegeln sich weitgespannte kulturelle Interessen. Hauptsächlich hat er für uns historischen Wert, als Dokumentensammler für seine Zeit; dass dies nicht in rhetorischer Form, sondern in einem natürlichen, leichten und ausdrucksstarken Stil geschieht, macht die Briefe nicht nur leichter zugänglich, sondern auch authentischer. Dass in Plinius ein lebendig beschreibender, ästhetischer Schriftsteller steckt, ist eine seltene Qualität für einen gebildeten Römer und erklärt vielleicht, wieso seine Korrespondenz die Zeiten so gut überstanden hat.

Hier sind vier Briefe. Obwohl sie im Abstand mehrerer Jahrzehnte geschrieben sind, handelt es sich bei allen um Beschreibungen; die erste (an einen Freund am Comer See) ist nostalgisch und lehrreich, die zweite (über eine missglückte Abendgesellschaft) gramvoll und komisch und die letzten beiden (über den Ausbruch des Vesuv) sind berühmt. Sie alle könnten – auch in dieser gut 50 Jahre alten Übersetzung – gestern geschrieben sein, sieht man davon ab, dass der Comer See heutzutage ein Muss für Hollywoods erste Garnitur auf Europabesuch ist und Pompeii ein Magnet für die internationale Badelatschenbrigade.

An Caninius Rufus (einen alten Schulfreund und Nachbarn):

Was macht Comum, Dein und mein Lieblingsaufenthalt? Dein reizendes Haus am Stadtrand? Die stets frühlingshafte Säulenhalle? Der schattenspendende Platanenhain? Der grün schimmernde, kristallklare Sund und anschließend der See mit seinen guten Diensten? Die weiche und doch feste Promenade? Das Bad, das heller Sonnenschein innen und außen bestrahlt? Die Speisesäle für große Festlichkeiten, für kleine Gesellschaften? Die Wohn- und Schlafräume? Halten sie Dich fest und teilen sich abwechselnd in Deinen Besitz? Oder beansprucht Dich wie gewöhnlich die Erledigung von Familienangelegenheiten und ruft Dich zu häufigen Ausflügen ab? Wenn sie Dich festhalten, bist Du glücklich und reich, wenn nicht, »einer von vielen«.

Warum überläßt Du nicht – es wird nämlich Zeit! – die niedrigen, alltäglichen Sorgen andern und widmest Dich in der tiefen, behaglichen Abgeschiedenheit dort Deinen Studien? Das sei Deine Tätigkeit, das Deine Muße, das Deine Arbeit, das Dein Ausruhen, ihnen solltest Du Wachen und Schlafen weihen! Bilde und präge etwas, was für ewig Dein eigen bleibt! Denn all Deine sonstige Habe wird nach Dir einen andern und wieder einen andern Herrn bekommen; dies wird nie aufhören, Dein eigen zu sein, wenn es es einmal gewesen ist. Ich weiß, welch großen Geist, welchen Kopf ich mahne; zwing Dich nur, Dir selbst soviel wert zu sein, wie Du es andern sein wirst, wenn Du es zunächst Dir selbst bist!12

Der nächste, an seinen Freund Septicius Clarus (einen Kommandeur der Prätorianergarde zu Beginn des 2. Jahrhunderts) gerichtet, enthält einen Tadel, der ebenso köstlich ist wie das Essen, das Plinius beschreibt.

Was soll das heißen? Du sagst Dich zum Essen an und kommst nicht! Hier Dein Urteilsspruch: auf Heller und Pfennig wirst Du mir die Unkosten ersetzen, und die sind nicht gering! Ich hielt pro Person einen Kopfsalat bereit, drei Schnecken, zwei Eier, Grießpudding mit süßem Wein [, gekühlt mit] Schnee – auch den wirst Du einrechnen müssen, ja, den besonders; er zergeht auf dem Tablett –, Oliven, Mangold, Gurken, Zwiebeln und tausenderlei nicht weniger leckere Dinge. Du hättest Komödianten, einen Rezitator oder Lyraspieler zu hören bekommen oder, spendabel wie ich bin, alle drei. Aber Du wolltest bei wer weiß wem lieber Austern, Sautaschen, Seesterne und Tänzerinnen aus Cadiz. Das sollst Du büßen, ich sage nicht, wie!13

Und schließlich dieser hier, an den Historiker Tacitus, geschrieben etwa 20 Jahre nach dem Vesuvausbruch und der Zerstörung von Pompeii und Herculaneum 79 n. Chr. Plinius war damals 17 und sein Augenzeugenbericht (den er in zwei hier leicht überarbeiteten Briefen gibt) vermittelt bis heute die drückende Schwere der Erwartung und die Intensität. Tacitus hatte um eine Beschreibung gebeten, wie Plinius’ Onkel gestorben war, der Schriftsteller, Philosoph und Marinekommandeur, der der Mentor seines Neffen gewesen war.

Mein Onkel befand sich in Misenum und führte persönlich das Kommando über die Flotte. Am 24. August am frühen Nachmittag ließ meine Mutter ihm sagen, am Himmel stehe eine Wolke von ungewöhnlicher Gestalt und Größe. Er hatte sich gesonnt, dann kalt gebadet, hatte im Liegen einen Imbiß genommen und studierte jetzt. Er ließ sich seine Sandalen bringen und stieg auf eine Anhöhe, von der aus man das Naturschauspiel besonders gut beobachten konnte. Es erhob sich eine Wolke, für den Beobachter aus der Ferne unkenntlich, auf welchem Berge – später erfuhr man, es sei der Vesuv gewesen –, deren Gestalt am ehesten einer Pinie ähnelte. Denn sie stieg wie ein Riesenstamm in die Höhe und verzweigte sich dann in einer Reihe von Ästen, wohl weil ein kräftiger Luftzug sie emporwirbelte und dann nachließ, so daß sie den Auftrieb verlor oder auch vermöge ihres Eigengewichtes sich in die Breite verflüchtigte, manchmal weiß, dann wieder schmutzig und fleckig, je nachdem, ob sie Erde oder Asche mit sich emporgerissen hatte. Als einem Manne mit wissenschaftlichen Interessen erschien meinem Onkel die Sache bedeutsam und wert, aus größerer Nähe beobachtet zu werden. Er befahl, ein Boot bereitzumachen; mir stellte er es frei, wenn ich wollte, mitzukommen; ich antwortete, ich wolle lieber bei meiner Arbeit bleiben, und zufällig hatte er mir selber das Thema gestellt.

Beim Verlassen des Hauses erhielt er eine Nachricht von Rectina, der Frau des Tascius, die sich wegen der drohenden Gefahr ängstigte – ihr Besitz lag nämlich am Fuße des Vesuv, und nur zu Schiffe konnte man fliehen –; sie bat, sie aus der bedenklichen Lage zu befreien. Daraufhin änderte er seinen Entschluß und vollzog aus Heldenmut, was er aus Wißbegier begonnen hatte. Er ließ Kriegsschiffe zu Wasser bringen, ging selbst an Bord, um nicht nur Rectina, sondern auch vielen andern zu Hilfe zu kommen, denn die liebliche Küste war dichtbesiedelt. Er eilte dorthin, von wo andere flohen, und hielt geradewegs auf die Gefahr zu, so gänzlich unbeschwert von Furcht, daß er alle Phasen, alle Gestalten des Unheils, wie er sie mit den Augen wahrnahm, seinem Sekretär in die Feder diktierte. Schon fiel Asche auf die Schiffe, immer heißer und dichter, je näher sie herankamen, bald auch Bimsstein und schwarze, halbverkohlte, vom Feuer geborstene Steine, schon trat das Meer plötzlich zurück, und das Ufer wurde durch Felsbrocken vom Berge hier unpassierbar. Einen Augenblick war mein Onkel unschlüssig, ob er nicht umkehren solle, dann rief er dem Steuermann, der dazu riet, zu: »Dem Mutigen hilft das Glück (…)« Dorthin fuhr jetzt mein Oheim mit dem für ihn günstigen Winde (…).

Inzwischen leuchteten vom Vesuv her an mehreren Stellen weite Flammenherde und hohe Feuersäulen auf, deren strahlende Helle durch die dunkle Nacht noch gehoben wurde. Um das Grauen der anderen zu beschwichtigen, erklärte mein Oheim, Bauern hätten in der Aufregung die Herdfeuer brennen lassen, und nun ständen ihre verlassenen Hütten unbehütet in Flammen. Dann begab er sich zur Ruhe und schlief tatsächlich ganz fest, denn seine wegen seiner Leibesfülle ziemlich tiefen, lauten Atemzüge waren vernehmlich, wenn jemand an seiner Tür vorbeiging. Aber der Boden des Vorplatzes, von dem aus man das Zimmer betrat, hatte sich, von einem Gemisch aus Asche und Bimsstein bedeckt, schon so weit gehoben, daß man, blieb man noch länger in dem Gemach, nicht mehr hätte herauskommen können. So weckte man ihn denn; er trat heraus und gesellte sich wieder zu Pomponianus und den übrigen, die die Nacht durchwacht hatten. Gemeinschaftlich berieten sie, ob sie im Hause bleiben oder sich ins Freie begeben sollten, denn infolge häufiger, starker Erdstöße wankten die Gebäude und schienen, gleichsam aus ihren Fundamenten gelöst, hin- und herzuschwanken. Im Freien wiederum war das Niedergehen allerdings nur leichter, ausgeglühter Bimssteinstückchen bedenklich, doch entschied man sich beim Vergleich der beiden Gefahren für das letztere. (…) Sie legten sich Kissen über den Kopf und verschnürten sie mit Tüchern; das bot Schutz gegen den Steinschlag.

Schon war es anderswo Tag, dort aber Nacht, schwarzer und dichter als alle Nächte sonst, doch milderten die vielen Fackeln und mancherlei Lichter die Finsternis. Man beschloß, an den Strand zu gehen und sich aus der Nähe zu überzeugen, ob das Meer schon gestatte, etwas zu unternehmen; aber es blieb noch immer rauh und feindlich. Dort legte sich mein Oheim auf eine hingebreitete Decke, verlangte hin und wieder einen Schluck kalten Wassers und nahm ihn zu sich. Dann jagten Flammen und als ihr Vorbote Schwefelgeruch die anderen in die Flucht, schreckten ihn auf. Auf zwei Sklaven gestützt, erhob er sich und brach gleich tot zusammen, vermutlich, weil ihm der dichtere Qualm den Atem nahm und die Kehle verschloss, die bei ihm von Natur schwach, eng und häufig entzündet war. Sobald es wieder hell wurde, am 26. – es war der dritte Tag von dem an gerechnet, den er als letzten erlebt hatte – fand man seinen Leichnam unberührt und unverletzt, zugedeckt, in den Kleidern, die er zuletzt getragen hatte, in seiner äußeren Erscheinung eher einem Schlafenden als einem Toten ähnlich.14

Einige Tage später schrieb Plinius wieder an Tacitus und erweiterte seinen Bericht. Er ging davon aus, der Historiker werde »das Wesentlichste herauspicken, denn es ist nicht dasselbe, ob man einen Brief oder Geschichte, an einen Freund oder für die Allgemeinheit schreibt.«

Doch nur der Brief an einen Freund hat überlebt.

Als mein Oheim fort war, verwendete ich den Rest des Tages auf meine Studien, weswegen ich ja daheim geblieben war; dann Bad, Abendessen, kurzer, unruhiger Schlaf. Vorangegangen waren mehrere Tage lang nicht eben beunruhigende Erdstöße – Kampanien ist ja daran gewöhnt –; in jener Nacht wurden sie aber so stark, daß man glauben mußte, alles bewege sich nicht nur, sondern stehe auf dem Kopfe. Meine Mutter stürzte in mein Schlafzimmer; ich wollte gerade aufstehen, um sie zu wecken, falls sie schliefe. Wir setzten uns auf den Vorplatz des Hauses, der in mäßiger Ausdehnung das Meer von den Baulichkeiten trennte. Ich weiß nicht, soll ich es Gleichmut oder Unüberlegtheit nennen – ich war ja erst 17 Jahre alt –: ich lasse mir ein Buch des Titus Livius bringen, lese, als hätte ich nichts Besseres zu tun (…)

Es dämmerte bereits und der Tag kam zögernd, sozusagen schläfrig herauf. Die umliegenden Gebäude waren schon stark in Mitleidenschaft gezogen, und obwohl wir uns auf freiem, allerdings beengtem Raum befanden, empfanden wir starke und begründete Furcht, daß sie einstürzen könnten. Jetzt erst schien es uns ratsam, die Stadt zu verlassen. Eine verstörte Menschenmenge schließt sich uns an, läßt sich – was bei einer Panik beinahe wie Klugheit aussieht – lieber von fremder statt von der eigenen Einsicht leiten und stößt und drängt uns in endlosem Zuge mit sich fort. Als wir die Häuser hinter uns hatten, blieben wir stehen. Da sahen wir allerlei sonderbares, beklemmendes Geschehen. Die Wagen, die wir hatten herausbringen lassen, rollten hin und her, obwohl sie auf ganz ebenem Boden standen, und blieben nicht einmal auf demselben Fleck, wenn wir Steine unterlegten. Außerdem sahen wir, wie das Meer sich in sich selbst zurückzog und durch die Erdstöße gleichsam zurückgedrängt wurde. Jedenfalls war der Strand vorgerückt und hielt zahllose Seetiere auf dem trockenen Sande fest. Auf der andern Seite eine schaurige, schwarze Wolke, kreuz und quer von feurigen Schlangenlinien durchzuckt, die sich in lange Flammengarben spalteten, Blitzen ähnlich, nur größer. (…)


»Manchmal weiß, dann wieder schmutzig und fleckig«: Abraham Pether setzt Plinius Blid.

Nicht lange danach senkte sich jene Wolke auf die Erde, bedeckte das Meer, hatte bereits Capri eingehüllt und unsichtbar gemacht, hatte das Kap Misenum unsern Blicken entzogen. Da bat und drängte meine Mutter, befahl mir schließlich, mich irgendwie in Sicherheit zu bringen; ich als junger Mann könne es noch, sie, alt und gebrechlich, werde ruhig sterben, wenn sie nur nicht meinen Tod verschuldet habe. Ich dagegen: ich wolle mit ihr zusammen am Leben bleiben; damit faßte ich sie bei der Hand und nötigte sie, ihre Schritte zu beschleunigen. Widerstrebend fügte sie sich und machte sich Vorwürfe, daß sie mich aufhalte. Schon regnete es Asche, doch zunächst nur dünn. Ich schaute zurück: im Rücken drohte dichter Qualm, der uns, sich über den Erdboden ausbreitend, wie ein Gießbach folgte. »Laß uns vom Wege abgehen« rief ich, »solange wir noch sehen können, sonst kommen wir auf der Straße unter die Füße und werden im Dunkeln von der mitziehenden Masse zertreten.« Kaum hatten wir uns gesetzt, da wurde es Nacht, aber nicht wie bei mondlosem, wolkenverhangenem Himmel, sondern wie in einem geschlossenen Raum, wenn man das Licht gelöscht hat. Man hörte Weiber heulen, Kinder jammern, Männer schreien: die einen riefen nach ihren Eltern, die andern nach ihren Kindern, wieder andre nach ihren Männern oder Frauen und suchten sie an der Stimme zu erkennen; die einen beklagten ihr Unglück, andere das der ihren, manche flehten aus Angst vor dem Tode um Tod, viele beteten zu den Göttern, andere wieder erklärten, es gebe nirgends noch Götter, die letzte, ewige Nacht sei über die Welt hereingebrochen. (…) Ich könnte damit prahlen, daß sich mir trotz der furchtbaren Gefahr kein Seufzer, kein verzagtes Wort entrungen hat, hätte ich nicht – ein schwacher, aber für uns Menschen immerhin ein im Tode wirksamer Trost – fest geglaubt, ich ginge mit allen und alles mit mir zugrunde.

Endlich wurde der Qualm dünner und verflüchtigte sich sozusagen zu Dampf oder Nebel. Bald wurde es richtig Tag, sogar die Sonne kam heraus, doch nur fahl wie bei einer Sonnenfinsternis. Den noch verängstigten Augen erschien alles verwandelt und mit einer hohen Aschenschicht wie mit Schnee überzogen. Wir kehrten nach Misenum zurück, machten uns notdürftig wieder zurecht und verbrachten eine unruhige Nacht, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung. Die Furcht überwog, denn die Erdstöße hielten an, und viele Leute, wie wahnsinnig von schreckenerregenden Prophezeiungen, witzelten über ihr und der andern Unglück. Wir aber konnten uns, obwohl wir die Gefahr aus eigener Erfahrung kannten und weiter auf sie gefaßt waren, nicht entschließen wegzugehen, ehe wir nicht Nachricht von meinem Oheim hatten. Dies alles gehört gewiß nicht in ein Geschichtswerk, und so wirst Du es lesen, ohne Gebrauch davon zu machen; aber Du hast ja danach gefragt und hast es somit Dir selbst zuzuschreiben, wenn es Dir nicht einmal einen Brief zu verdienen scheint.15

»Dies alles gehört gewiss nicht in ein Geschichtswerk«, schrieb Plinius. Tatsächlich sind seine Berichte das einzige ausführliche zeitgenössische Dokument für die Eruption und bewahren das in Worten, was der Vulkan unter Asche konservierte. Plinius dachte, es sei ein Denkmal für seinen tapferen Onkel – der schnarchte, als der Vesuv brüllte – aber die Geschichte hatte Größeres mit ihm vor. Er hielt die Details seiner Briefe für überflüssig, so wie Briefschreiber es im Augenblick der Abfassung häufig tun, aber dem können wir jetzt widersprechen.

Briefe!

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