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Zweites Kapitel
Aus Vindolanda Grüße

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An einem klaren Morgen machen Sie sich vom Lake District auf den Weg. Sie nehmen die Straße, die von Penrith nach Norden führt, halten sich in Carlisle nach Osten Richtung Brampton und fahren dann hoch hinauf in die Pennines. Der Weg ins Gebirge windet sich, die Straßen sind leer, und als Fahrer fragt man sich, ob das nicht die Ecke ist, wo sie die Autowerbespots drehen. Sie fahren weiter. Eine Landstraße führt nach Süden, und wenn Sie durch ein Dorf namens Twice Brewed (»doppelt gebraut«) kommen, sind Sie versucht, zu stoppen und ein Foto des Ortsschildes zu twittern. Die Straße schlängelt sich hinunter nach Winshields Farm und zu einem Gästehaus namens Vellum Lodge (»Kalbspergament«), und dann sind Sie da, vor sich zwei Busse voll Kinder – und die historische Stätte namens Vindolanda, woher die ersten bezeugten Briefe auf englischem Boden kommen.

Hier wurden zwischen 85 und 130 n. Chr. nacheinander fünf Kastelle aus Holz und Erde erbaut, um die Stanegate zu verteidigen, eine breite unbefestigte Straße, die sich quer über die britische Landenge zog, lebenswichtig für den Transport von Männern und Nachschub in der Region. Bis nach Londinium im Süden dauerte es eine Woche und bis nach Rom, ins Herz des Imperiums, vielleicht einen Monat. Vindolanda (man vermutet, dass der Name »weiße Rasenflächen« bedeutet) war nur eine Garnison unter vielen; an die 50.000 Mann waren in der Umgebung dieser Wälle stationiert, an der inoffiziellen römischen Nordgrenze, ehe 122 n. Chr. eine Meile weiter nördlich der Hadrianswall zu entstehen begann. Die Kastelle waren außerdem ein lebenswichtiges Kommunikationszentrum; also hätte man vielleicht nicht so überrascht sein sollen, als der Archäologe Robin Birley im Herbst 1972 einen Graben zog, um die feuchte Südwestecke der Ausgrabungen in Vindolanda zu entwässern, und dabei die ersten Spuren eines römischen Schatzfundes freilegte.

Schon überraschender war, wie gut einige Gegenstände überdauert hatten. Etwa 2,30 Meter tief im Boden stieß Birley auf eine Ledersandale, die in so gutem Zustand war, dass man den Herstellernamen lesen konnte. Auch andere Leder- und Textilfragmente entdeckte er und man durfte mit Recht von weiteren Funden träumen. Es war ein Moment, der Jugendliche noch jahrzehntelang dazu bringen mochte, Archäologen zu werden, ein Tutanchamun-Erlebnis 50 Jahre nach dem Original. Dann aber strömte der nordenglische Regen herab und Birley bekam eine weitere Kostprobe, vor welchen schrecklichen Herausforderungen die Römer in diesem abgelegenen Tal gestanden hatten. Er sah sich gezwungen, den Winter über die Ausgrabungen einzustellen.


Der Weg nach Vindolanda.


Robin Birley auf der Grabung.

Das Graben lag Birley im Blut. Sein Vater war Eric Birley, der 1929 das Landgut Chesterholm gekauft hatte, auf dem nacheinander die verschiedenen Kastelle von Vindolanda standen; ihm waren einige jener Schlüsselentdeckungen geglückt, die unsere Sicht auf die Frühphase der römischen Befestigungen in Nordbritannien verändert haben. Doch obwohl im Lauf seiner Tätigkeit gelegentlich ein paar Münzen und Tonscherben ans Licht gekommen waren, war das doch nicht so viel an Privat- oder Haushaltsgegenständen, dass wir mit ihnen um die 2000 Jahre später die antike Welt zu neuem Leben erwecken könnten.

Im März 1973 setzte sein Sohn die Ausgrabung fort. Es gab weiteres Schuhwerk aus Leder, einen Goldohrring, eine Bronzespange, Schlüssel, Hämmer, Seilstücke, Gürteltaschen, Werkzeuge zum Abziehen von Fell, Austernschalen sowie Rinder-, Schweine- und Entenknochen. Diese Gegenstände fanden sich im Boden in Adlerfarn, Heidekraut und Stroh verwickelt und wurden zusätzlich von etwas konserviert, bei dem es sich offenbar um Exkremente handelte. Den Römern erschienen all diese Objekte wohl als Abfall und es gab Anzeichen, dass man sie zu verbrennen versucht hatte. Aber Müll für sie ist natürlich nicht Müll für uns. Der durchnässte Boden, die Pflanzenmasse, die alles umgab, und die Wassersperren von Menschenhand, die aus der wiederholten Bautätigkeit am Fundort stammten, hatten für ideale Erhaltungsbedingungen gesorgt.

Unter dem Abfall fand sich noch etwas anderes: Listen und Briefe. Sie hatten die Form dünner Schreibtäfelchen aus Holz, manche von ihnen Späne, die nicht dicker als einen Millimeter waren, die meisten um die zwei Millimeter stark, aus Birke, Eiche und Erle geschnitten, einige davon einmal gefaltet, wie man auch Papier für einen Briefumschlag falten würde. Die meisten waren anscheinend mit Tinte geschrieben, obwohl manche Tafeln stärker und innen ausgehöhlt waren; sie waren mit einer Wachsschicht gefüllt, in die man mit einem Metallgriffel (einem Stilus) schreiben konnte. In einigen Fällen war der Stilus durch das Wachs hindurchgestoßen und hatte dauerhafte Spuren auf dem Holz hinterlassen. 1973 fand man insgesamt 86 Täfelchen, die aus rund 200 Fragmenten bestanden, wovon mehr als die Hälfte sichtbare Schriftzeichen trug. Das größte Stück maß nur 8 × 6 Zentimeter, die Größe einer Kreditkarte.

Unter dem Wort »Täfelchen« stellt man sich leicht etwas Festes, Sprödes vor, aber diese Fundstücke waren so weich wie nasses Löschpapier. Einige Fragmente schickte man zur Analyse an das Botanische Institut in Kew Gardens, andere an das Fotolabor der Universität Newcastle, und fast alle landeten schließlich im Forschungslabor des British Museum. Es stellte sich schnell heraus, dass die Täfelchen in ihrem Untergrundversteck wahre »Glückskinder« gewesen waren; hätte man sie auch nur zwei Jahrhunderte früher gefunden, hätten die damals begrenzten Fähigkeiten, sie fachgerecht zu konservieren, ihre Lebenserwartung massiv verkürzt. Wie die Dinge jetzt lagen, hatten es die Tafeln nicht nur mit hoch qualifizierten Konservatoren zu tun, sondern auch mit einem neuen Trocknungsprozess für nasses Holz, der erst wenige Monate zuvor in Kopenhagen und Paris entwickelt worden war.

»Das Holz war ziemlich weich und splitterte leicht, wenn man es unachtsam anfasste«, so schrieb Susan Blackshaw, die sich als Erste am British Museum mit den Vindolanda-Täfelchen befasste, im April 1973 in der Zeitschrift Studies in Conservation. Wie sie anmerkte, hatten ihr die Ausgräber berichtet, dass die Schrift auf den Täfelchen gut lesbar war, als sie soeben freigelegt waren, »dass sie jedoch unter der Einwirkung von Licht und Atmosphäre rasch verblasste«.

Man fotografierte die Täfelchen mit Infrarotfilm, anschließend begann Blackshaw ihre Versuche, die Schrift so gut lesbar wie möglich zu machen. Sie waren auf Latein geschrieben und zeigten, was ein früher Bericht der Zeitschrift Britannia als »eine beachtliche Vielfalt von Schreibern und Schreibstilen« bezeichnete: von einfacher Gebrauchsschrift bis hin zu echten Schönschreibversuchen. Außerdem bemerkte der Artikel: »Der potentielle Wert einer beachtlichen Textmenge auf Latein aus dieser Zeit an diesem Ort ließe sich kaum überschätzen.«

Als die Täfelchen im British Museum ankamen, waren sie immer noch triefnass. Man verwendete eine Mischung aus Methanol und Äther, um das Holz zu entwässern, eine komplizierte Prozedur, die fast vier Wochen langes Einweichen, Verdunstenlassen und Glätten verlangte. Behutsam wurden gesplitterte Täfelchen mit Harz behandelt. Dann fotografierte man die Stücke erneut mit Infrarotfilm, und in Susan Blackshaws Worten »wurde dadurch deutlich, dass die Schreibspuren nach der Behandlung lesbarer waren und kein Schriftverlust erfolgt war«.


Schrift aus den Ruinen: Vindolanda im Jahr 2013.

Nun stellte man den Inhalt zweier Täfelchen der akademischen Öffentlichkeit vor. Das erste, aus vier Einzelfragmenten zusammengesetzt und in großen schlanken Buchstaben geschrieben, war ein Bericht über Lebensmittelbestände, so gut wie sicher Waren, die zum Verzehr der Truppen in Vindolanda gekauft worden waren. Die Liste widerlegte eine verbreitete Überzeugung, wonach römische Soldaten nur wenig Fleisch aßen, obwohl wir nicht wissen, ob es sich um Alltagskost oder ein Festessen handelte.

Übersetzt (unter Zuhilfenahme von Vermutungen) lautete der Text auf der Tafel:

Gewürz … Ziege … Salz … Ferkel … Schinken … Getreide … Wildbret … Für den täglichen … Ziege … Insgesamt 20 [Denare] … Emmer … Insgesamt …1

Das zweite Täfelchen, in zwei Fragmenten erhalten, war ein Privatbrief an einen Soldaten der Garnison:

Ich habe Dir [---] Paar Socken geschickt und von Sattia (?) zwei Paar Sandalen und zwei Paar Unterhosen, zwei Paar Sandalen …

Grüße meine Freunde (?) [---]ndes, Elpis, Iu[---], [---]enus, Tetricus und alle Stubenkameraden. Ich hoffe, dass Du und sie lange und in größtem Glück leben.2

Die Anmerkungen der Altertumswissenschaftler A. K. Bowman, J. D. Thomas und R. P. Wright zur Publikation dieser Briefe waren befrachtet mit Ungewissheiten über die Schriftzeichen, den Wortlaut und seine Bedeutung, als ob sie ein kryptisches Kreuzworträtsel lösen müssten: »Falls jedoch r und m richtig gelesen sind, müssen wir einen Vokal vor uns haben und nur a erscheint denkbar. Wenn ram die korrekte Lesart ist, können wir es durchaus mit einer Plusquamperfekt-Endung zu tun haben … Dabei handelt es sich um ein Plusquamperfekt im Briefstil mit perfektischer Bedeutung.«

Aber sie standen mit ihrer Aufgabe erst am Anfang. Die Soldaten in Vindolanda hatten viele Schlachten geschlagen – gegen die Horden aus Schottland in den Bergen und gegen die Rebellen im Tal, gegen das Winterwetter –, jetzt aber standen ihre Nachkommen vor einer weiteren: der Erklärung, wie brüchige Überreste vergrabener Schriften Licht auf eine höchst faszinierende Vergangenheit werfen können.

In den Jahren und Jahrzehnten nach dem ersten Fund haben die Archäologen über 1000 Briefe und weitere Dokumente aus Vindolanda freigelegt und viele weitere werden folgen. Die Arbeit kommt langsam voran und ist eine nasse Angelegenheit; jedes Mal, wenn man einen neuen Suchschnitt legt – was schon schwer genug ist unterhalb der Steinkastelle, die auf den Resten der ursprünglichen Holzbauten errichtet wurden, bis die Römer Britannien über drei Jahrhunderte später räumten –, läuft er voll. Die konstante Umgebung, die die Tafeln über 1900 Jahre lang unter perfektem Luftabschluss konserviert hat, sträubt sich beharrlich, sie herauszurücken.


Wirkt immer noch einladend: Ankündigung einer Geburtstagsfeier um 100 n. Chr.

Trotz alledem: Die durchweichten Archäologen haben uns unsere früheste Post ausgetragen. Jetzt verstehen wir viel mehr vom Leben im Britannien der Römerzeit als vor 1972 – und viel mehr davon, wie es war, ein Römer in Britannien zu sein.

Die Kulturstätte Vindolanda, jener Ort, wo man einst Ziegen und junge Schweine zu Sandalen verarbeitete, liegt in einer Gegend des wilden Northumberland, die man heutzutage am leichtesten in Streitwagen mit Verbrennungsantrieb erreicht, welche in Swindon oder Japan gebaut werden. Andere Wege gibt es zwar – von einem Bahnhof aus, wo Schnellzüge nicht halten, ist es ein Spaziergang von drei Kilometern im Kampf mit dem Wind –, aber den Reiz eines »echten« Römer-Erlebnisses« Anfang März würden die meisten Reisenden aus London nur zu gern gegen eine Autofahrt eintauschen. Wenn man erst angekommen ist, hat man als Besucher noch genug Authentisches vor sich – einen Spaziergang, der in vielen Serpentinen hinab in ein Tal führt, entlang an den originalen steingefassten Brunnen, Bädern, Latrinen, Kasernenbauten, Getreidemagazinen, der Offiziersunterkunft und dem Hauptquartier, allesamt gereinigt, gesichert und garantiert eindrucksvoll genug, in jugendlichen Köpfen den Ort zum Leben erwachen zu lassen.

Das kleine, 2012 renovierte Museum am Grund des Tales spiegelt den Geist von Vindolanda perfekt wieder, nicht zuletzt dadurch, dass es einen älteren Bau vollständig in sich aufgenommen hat. Dieser war einst das Cottage Chesterholm aus dem 19. Jahrhundert, Heim des anglikanischen Geistlichen Anthony Hedley, des ersten Ausgräbers der Kastelle. An die Stelle der Vitrinen mit Sandalen, Töpfen, Speeren und geschnittenen Halbedelsteinen treten – in einem großen, abgedunkelten, klimatisierten Kabinett aus Holz und Glas – die Schreibtäfelchen, und man betritt die Räume aufgeregt, mit ehrfürchtig gedämpfter Lautstärke. Die Briefe werden von einem zum anderen immer klarer:

Masclus an seinen König Cerialis, Gruß. Bitte gib Anweisung, Herr, was Du möchtest, dass wir morgen machen sollen: Ob wir mit dem Feldzeichen zu[m Tempel an?] der Wegkreuzung zurückkehren sollen oder nur jeder zweite von uns. (…) Sei recht glücklich und mir wohlgesonnen. Die Kameraden haben kein Bier. Bitte befiehl, dass welches geschickt wird.3

Octavius an seinen Bruder Candidus, Gruß. Das mit den hundert Pfund Sehnen von Marinus werde ich in Ordnung bringen. (…) Ich habe dir schon mehrmals geschrieben, dass ich ungefähr 5000 modii [je ca. 8,7 Liter] Ähren gekauft habe, weswegen ich Geld brauche. Wenn Du mir nicht etwas Geld schickst, mindestens 500 Denare, wird es so kommen, dass ich verliere, was ich als Anzahlung gegeben habe, ungefähr 300 Denare, und es wird mir unangenehm sein. Also bitte ich Dich, schick mir so schnell wie möglich etwas Geld. Die Tierhäute, von denen Du schreibst, sind in Cataractonium [Catterick, einem Zentrum des Gerberhandwerks] (…) Ich wäre schon hingefahren, wenn ich nicht Sorge hätte, die Zugtiere zu strapazieren, solange die Straßen schlecht sind.4

Seitlich neben dem Glaskabinett erklärt ein Film, dass dies nur der Anfang der großen Entdeckungen ist; die Ausgrabungen werden in tieferen Bodenschichten und weiteren Grabungsfeldern fortgesetzt, und die erste Reinigung, das Fotografieren und Entziffern sind jetzt nicht mehr nach Newcastle ausgelagert, sondern finden an Ort und Stelle in Laboren statt, eine fleißige, begeisterte kleine Heimindustrie. Auf der anderen Seite des Kabinetts hat Robin Birley seine persönliche »Top-Täfelchen«-Auswahl unter den Briefen getroffen, darunter die oben zitierte Anforderung von Bier und die detaillierte Aufstellung der Truppenstärken an einem bestimmten Tag. Außerdem gibt es einen Bericht über die Vorbereitungen zu den Saturnalien, eine Debatte über den Wert von Jagdnetzen, einen Geheimdienstbericht über die Stärke der feindlichen britischen Stämme und einen Brief darüber, wie man an der Grenze Freunde findet.


Weckt Stille und Ehrfurcht: Das Vindolanda-Museum stellt seine Schätze aus.

Viele weitere Täfelchen befinden sich im British Museum. Teils ist es ihre Geschichte, die uns fasziniert – die achtlose Entsorgung des Briefes um 90 oder 95 n. Chr., das Frohlocken, als man denselben Brief im Zeitalter der Mondlandung und des Mobiltelefons wiederentdeckte. Teils liegt es an der Schlichtheit und Kürze der Briefe selbst und ihrer unerbittlichen Höflichkeit, deren Grüße und Abschiedsfloskeln einen so großen Teil jedes Schreibens einnehmen. Teils ist es der Eindruck der Effizienz, den sie vermitteln: die erfolgreiche Einnahme und der Betrieb dieses riesigen römischen Außenpostens hing an diesen winzigen, zerbrechlichen Splittern.

Und teils kommt die Faszination daher, dass wir uns selbst in diesen Täfelchen wiederfinden. Wir alle brauchen weiterhin warme Kleidung, herzhaftes Essen, die Versicherung, gesund zu sein. Und was für mindestens einen Brief gilt: Auch wir schätzen immer noch Tagesdecken.

Wir wissen nicht genau, wie die Soldaten in Vindolanda an ihre Post kamen, aber es scheint sich um einen geordneten Vorgang gehandelt zu haben, der anfangs von Rom aus gesteuert wurde und sich dann dem wachsenden Netz der Römerstraßen in Britannien anpasste. Der primitive Postdienst in Northumberland wäre entlang der Stanegate-Straße mit privaten Boten von und nach London erfolgt (in dieser Hinsicht hat das Kastell vielleicht als Postverteilstelle gedient). Tatsächlich könnte das Vindolanda-Netz zu den Testgebieten für den neuen Postdienst gehört haben. Ein Verzeichnis namens Itinerarium Antonini legt nahe, dass die Postüberbringer ein ausgeklügeltes System von Herbergen oder Ställen entlang eines Straßennetzes zur Verfügung hatten, wo sie sich ausruhen oder die Pferde wechseln konnten, und diese »Posten« – pfostenförmige Markierungen entlang einer Route, die für einen Rastplatz, Lagerplatz oder einen Ort zur Fütterung und Unterbringung von Pferden standen – dem Netz seinen heutigen Namen »Post« gaben. Auf den Straßen wurde viel mehr als nur Post befördert, versteht sich, aber es gibt Belege dafür, dass mehrere Kaiser nacheinander anordneten, die Militärpost habe Vorrang beispielsweise gegenüber dem Transport von Kleidung oder Vieh – ein frühes Beispiel für Expresszustellung.

Gleich wie die Post reiste, wir können uns die gespannte Erwartung, die Freude und Erleichterung vorstellen, welche die Postempfänger in Vindolanda verspürten, genau wie wir immer noch nachempfinden können, was ihre Familien bewegte, als die Holztäfelchen zusammengeklappt und vertrauensvoll auf den Weg geschickt wurden. Und es ist einen Gedanken wert, dass jene Briefe, die man entdeckt hat, da sie vielleicht absichtlich vor 2000 Jahren weggeworfen wurden, gerade nicht die kostbarsten waren; eben die sind wohl im Besitz ihres Empfängers untergegangen und, weil sie für Plünderer wertlos waren, der Fäulnis überlassen worden. Welchen Wert würde zum Beispiel irgendwer auf eine Sammlung von Geburtstagspost legen?

»Clodius Super an seinen Cerialis. Sehr gern, Bruder, wäre ich, wie Du wolltest, zum Geburtstag Deiner Lepidina anwesend gewesen. Jedenfalls (…) Denn Du weißt bestimmt, dass es mir am meisten gefällt, so oft wir zusammen sind.«5

Bis auf die Tatsache, dass er ein Zenturio war und einmal eine große Lieferung an Mänteln und Tuniken für seine Sklaven einforderte, ist uns Clodius Super wenig bekannt. Flavius Cerialis dagegen taucht häufig in diesen Täfelchen auf. Als Präfekt der 9. Bataverkohorte war er der Befehlshaber des Standortes, außerdem Mitglied des römischen Ritterstandes und verheiratet mit Sulpicia Lepidina, die ebenfalls häufig vorkommt. Seine Anwesenheit erlaubt es den Forschern, die Täfelchen auf den Zeitraum 97 bis 104 n. Chr. zu datieren.

Unter Flavius Cerialis’ Männern an der Grenze herrschte reges Kommen und Gehen, und Urlaub aus Krankheits- und Familiengründen scheint man bereitwillig gewährt zu haben. Jedenfalls scheint die Elite seiner Truppe, wenn nicht gar die ganze Kohorte, insgesamt gut gestärkt worden zu sein: ihre Speisekammer füllte nicht nur das Ziegen- und Ferkelfleisch aus der oben erwähnten Abrechnung, sondern auch Schweinsfüße, Rehe, Gänse, Knoblauchpaste, Flüssigkeit zum Einlegen, Anis, Fischsauce, Thymian, Kümmel, Kreuzkümmel, Rote Bete, Oliven, Bier und Wein (abgesehen von den Standardzutaten wie Weizen, Getreideschrot, Butter, Gerste, Eier und Äpfel). Aus mehreren Briefen ergibt sich ein ordentlicher Bestand an Küchengeräten sowie etwas, das für ein Rezept aus Lepidinas Küche gehalten wird (inklusive einer frühen Gewohnheit, einzelne Gedecke für jeden Gast aufzulegen, zu denen ein kleiner Teller, ein Becher und ein Tablett zählten).

Wir erfahren, dass die Garderobe der Soldaten eine große Vielfalt an Kleidungsstücken und Sandalen jeder Dicke für jedes Wetter enthielt (galliculae, abolla, tunicae cenatoriae – gallische Schuhe, einen dicken Mantel, feine Wolltuniken für das Abendessen), außerdem Textilien zu Dekorzwecken, Decken und cubitoria – einen eleganten Abenddress. Eine Spur Modebewusstsein ist nicht zu verkennen: Die Verwendung des Begriffs de synthesi verweist einer Interpretation zufolge auf Kleidungsstücke, die zu einer Kollektion zählten, die man entweder als Einzelteile oder geschlossen als Kostüm tragen konnte.

Wenn man aber schon eine Gesellschaft zum eigenen Geburtstag gegeben hatte, was zog man dann für den Geburtstag von Claudia Severa an?

Claudia Severa an ihre Lepidina, Gruß. Am dritten Tag vor den Iden des September, Schwester, zur Feier meines Geburtstages, bitte ich Dich herzlich, Du mögest dafür sorgen, dass Du zu uns kommen kannst und mir den Tag durch Deine Ankunft erfreulicher machst. Grüß Deinen Cerialis. Mein Aelius und mein kleiner Sohn grüßen. [In einer zweiten Handschrift] Ich werde auf Dich hoffen, Schwester. Leb wohl, Schwester, meine teuerste Seele, so wahr es mir gut gehen soll, und sei gegrüßt.6

Allein dieser Brief ist historisch so gewichtig, dass es zu seiner Länge in keinem Verhältnis steht. Den Großteil hat ein – fast sicher männlicher – Schreiber verfasst. Die Unterschrift jedoch ist von anderer Hand, die man für die von Claudia Severa selbst hält: das früheste Beispiel einer Frauenschrift in der römischen Welt.

Normalerweise sind die Briefe Einzelstücke und nur gelegentlich – etwa bei Nachrichten an Flavius Cerialis und Lepidina – scheinen sie Teil einer logischen Abfolge zu sein. Doch als Bestandteile einer laufenden Korrespondenz betrachtet werden sollten sie generell, und der gelegentlich spürbare Schluckauf in diesem Briefwechsel (die Rügen für ausgebliebene Antworten) sind ebenso sehr Teil des Briefeschreibens im 1. und 2. Jahrhundert wie in unserem.

Sollemnis an Paris, seinen Bruder, ganz viele Grüße.7 Ich will, dass Du weißt, dass es mir richtig gut geht, wie ich auch hoffe, dass es umgekehrt Dir geht, Du pflichtvergessener Mensch, der mir nicht einen einzigen Brief geschickt hat. Aber ich denke, ich benehme mich anständiger, dass ich Dir schreibe, [---] Dir, Bruder [---] mein Stubenkamerad. Grüße von mir Diligens und Cogitatus und Corinthus (…) Leb wohl, liebster Bruder. (?)

Chrauttius an Veldeius, seinen Bruder und alten Stubenkameraden, ganz viele Grüße. Und ich bitte Dich, Bruder Veldeius – ich staune, dass Du mir so lange nichts zurückgeschrieben hast, ob Du etwas über unsere Eltern gehört hast oder (…) in welcher Einheit er ist, und ihn grüße von mir in meinen eigenen Worten, und Virilis den Tierarzt. Frage ihn [Virilis], ob Du mir über einen unserer Leute die Schere schicken kannst, die er mir gegen Geld versprochen hat. Und ich bitte Dich, Bruder Virilis, grüße von mir (unsere?) Schwester Thuttena. Schreib uns (= mir?), wie es Velbuteius geht. Ich wünsche, dass Du sehr glücklich bist. Leb wohl. [Auf der Rückseite des Briefes steht die Anweisung, ihn nach London zu senden.]8

Die Briefe in Vindolanda – die uns heute so wertvoll sind – wurden nicht mit Blick auf die Nachwelt geschrieben, und niemand, durch dessen Hände sie, sagen wir 105 n. Chr., gingen, hätte auch nur einen Augenblick über ihren künftigen Wert nachgedacht. Ihre Kürze, Unmittelbarkeit und Alltäglichkeit erscheint uns vielleicht einer SMS oder einem Tweet näher als einem ausführlichen Brief. Und niemand würde behaupten, dass sie herrlich geschrieben oder über ihre historischen Details hinaus besonders lehrreich wären. Häufig sind sie bezaubernd, aber selten enthalten sie etwas mit philosophischem Hintergrund. Für dergleichen müssen wir auf andere Ausgrabungen zurückgreifen, auf Briefe, die auf Papyrus geschrieben und in den vergangenen drei Jahrhunderten wiederentdeckt wurden, und auf die unbestrittenen ersten Meister der Gattung Brief.

1 A. K. Bowman/J. D. Thomas, TheVindolanda Writing Tablets (Tabulae Vindolandenses II). London 1991, Nr. 191, Auszug (A. d. Ü.)

2 Tab. Vindol. II 346 (A. d. Ü.)

3 Année Èpigraphique 1996,959 = 2011,660 (A. d. Ü.)

4 Octavius war ein Import-Export-Kaufmann; hinter den Tiersehnen, die er erwähnt, vermutet man einen wichtigen Bestandteil für den Bau von Katapulten. Das Wort »Bruder« in diesen Grußformeln ist oft wie »Kamerad, Kumpel« zu lesen. [Tab. Vindol. II 343.]

5 Tab. Vindol. II 255 (A. d. Ü.)

6 Tab. Vindol. II 291 (A. d. Ü.)

7 Sowohl in Sollemnis als auch Paris vermutet man Sklaven im Gefolge der 9. Bataverkohorte, einer der beiden wichtigsten Einheiten, die nacheinander zwischen 85 und 130 n. Chr. in Vindolanda stationiert waren. Die andere war die 1. Tungrerkohorte. [Tab. Vindol. II 311.]

8 [Tab. Vindol. II 310.] Die Anzahl der Fragezeichen in diesem Abschnitt zeigt, in welchem Dilemma der Übersetzer steckt. Aber das Wort »Übersetzer« trifft es nicht annähernd: Ein Heer von Historikern, Paläographen und Linguisten hat in den vergangenen Jahrzehnten über diesen Texten gebrütet, auch die kleinste Krümmung des blassesten Schriftzeichens analysiert, ungewisse Namen und Orte untereinander abgeglichen und schließlich alle Kombinationen aus Logik, Text und Tatsachen zusammengesetzt – die ultimative Herausforderung für Sprachwissenschaftler. Und anschließend stellt sich das Problem der Interpretation in einem größeren Kontext, eine Aufgabe, die sich mit der Rekonstruktion eines Waldes aus ein paar verstreuten Farnwedeln vergleichen lässt. Für diese Gelehrsamkeit kann der begeisterte Nichtspezialist von heute nur maßlos dankbar sein.

Briefe!

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