Читать книгу Briefe! - Simon Garfield - Страница 12

Viertes Kapitel
Liebe in ihren frühesten Formen

Оглавление

Du glaubst gar nicht, wie ich mich nach Dir sehne.

Um das Jahr 102 n. Chr., mehr als 20 Jahre nach dem Vesuvausbruch, schrieb Plinius an seine dritte Frau Calpurnia.

Warum? Weil ich Dich lieb habe, und weil wir es nicht gewohnt sind, getrennt zu sein. Daher kommt es auch, daß ich einen großen Teil der Nacht wachend mit Deinem Bild vor Augen verbringe; daher, daß mich bei Tage zu den Stunden, wo ich mich Dir zu widmen pflegte, wie man ganz richtig sagt, die Füße selbst zu Deinem Zimmer führen, und daß ich schließlich betrübt und niedergeschlagen, als hätte man mich nicht eingelassen, Dein leeres Gemach verlassen.1

Calpurnia war es nicht gut gegangen; Plinius war in Rechtsgeschäften unterwegs. In einem anderen Brief schrieb er:

Wie Du mir schreibst, leidest Du nicht wenig unter der Trennung von mir, und nur eines tröste Dich: daß Du statt meiner meine Schriften zur Hand hast, sie oft sogar neben Dich auf meinen Platz legst. Lieb von Dir, daß Du mich so vermißt, lieb von Dir, daß Du mit diesem Trostmittel zur Ruhe kommst. Ich meinerseits lese dauernd Deine Briefe und nehme sie immer wieder zur Hand, als wären sie neu, aber um so mehr regt sich die Sehnsucht nach Dir. Denn wessen Briefe soviel Anmut haben, wieviel Süße bietet dessen Gespräch! Schreib mir doch so oft wie möglich, mag auch die Freude darüber mit Pein verbunden sein!2

Die Briefe waren zur Sucht geworden, sie verstärkten die Hingabe des Paares ebenso sehr, wie sie die Trennung beider unterstreichen. »Um so inständiger bitte ich Dich, meiner Angst tagtäglich mit einem oder lieber noch mit zwei Briefen abzuhelfen. Ich werde ruhiger sein, wenn ich sie lese, und gleich wieder voll Angst, sobald ich sie gelesen habe.«3

Wie können diese Ausbrüche einen modernen Leser nicht anrühren? Aber die Briefe des Plinius (zu schade, die von Calpurnia haben wir nicht) sind über ihren intimen Ton hinaus noch aus einem anderen Grund wertvoll. Sie sind fast alles, was wir haben. Außer ihnen existieren, wie wir gesehen haben, wenig Belege, dass es in der Welt des alten Rom überhaupt Liebe in Briefform gab.

Eine weitere Ausnahme gibt es jedoch, und sie wurde durch Zufall in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand im 19. Jahrhundert entdeckt. Kardinal Angelo Mai war so etwas wie ein Experte für das Palimpsest – Schriftrollen oder Dokumente, von denen die ursprüngliche Schrift abgeschabt worden ist, damit sie wieder verwendet werden können. 1815 stieß Mai auf etwas Aufregendes, das unter etwas Langweiligem geschrieben stand: Die Akten des Konzils von Chalkedon, das 451 stattfand, verbargen einen Briefwechsel des 2. Jahrhunderts zwischen dem führenden Redner und Rhetoriklehrer Marcus Cornelius Fronto und dem jugendlichen Marc Aurel, rund 20 Jahre geschrieben, ehe dieser römischer Kaiser wurde.

Drei Jahre später entdeckte der Kardinal weitere Briefe unter den gleichen Konzilsunterlagen, diesmal in der Vatikanischen Bibliothek. Beide Funde schufen eine gespannte Atmosphäre. War das die Offenbarung des frühen 19. Jahrhunderts über die prägenden Jahre eines der großen Kaiser des antiken Rom? Und ob, aber nicht auf die Art, die irgendwer erwartet hätte. Als Kardinal Mai seine neue Sammlung veröffentlichte, war die Reaktion tatsächlich allgemeine Enttäuschung. In den Briefen schien es hauptsächlich um den lateinischen Prosastil zu gehen. Die erste umfassende englische Übersetzung erschien erst 1919 – eine deutsche fehlt bis heute –, und wiederum war die Aufnahme verhalten. Doch man sah den Wald vor lauter Bäumen nicht: Ganz offen standen da zahlreiche Bekundungen von Liebe und körperlicher Nähe, die selbst den freigeistigsten Lesern der Zwischenkriegszeit eine Idee überzogen vorgekommen wären; Mai hatte ein geheimes Lager gefunden, das kaiserlicher Pornographie nahekam, ein seltenes Dokument für den Fall »Junge trifft Junge« oder genauer gesagt »mehrere Jungen«.

In den letzten Jahren ist sogar eine noch weitergehendere Theorie zur Verliebtheit zwischen Fronto und Marc Aurel vorgetragen worden, die ihren Höhepunkt 2006 mit der Publikation von Marcus Aurelius in Love erreichte; Herausgeberin und Übersetzerin war Amy Richlin. Richlin zweifelt nicht an den tiefen beiderseitigen Gefühlen und fragt sich, wie weit diese Tiefe ging. Sie vermutet, dass die ›enttäuschte‹ Reaktion des 19. Jahrhunderts auf die Briefe daher rührte, dass man ihre Intimitäten für geschmacklos hielt und dass sie die traditionelle Sicht, wonach Marc Aurel ein Säulenheiliger war, ins Wanken brachten. Doch findet Richlin es faszinierend, dass selbst in späterer Zeit die Briefe selten auf ihren erotischen Gehalt hin analysiert wurden und keineswegs regelmäßig von Vertretern der Gay History als besonders gutes Exemplar homosexueller Liebe in Briefform untersucht worden sind.


Marc Aurel, liebeskrank und erotisch.

In den Briefen zwischen Marc Aurel und Fronto zeichnet sich der Aufstieg und Fall einer Verliebtheit ab, die gegen 139 n. Chr. beginnt, als Marcus auf die 20 zuging und sein Lehrer Ende 30 war, und gegen 148 endet. Im Herzen ihrer Korrespondenz glüht die Leidenschaft. »Mit welchem Becher oder Balsam hätte jemand soviel Feuer zum Lieben einflößen können«, schreibt Marcus, um seinem Lehrer eine Antwort zu entlocken, »wie Du mich (…) benommen und erschüttert von Deiner brennenden Liebe gemacht hast?«4

Wir wissen nicht, wie oft sie sich zu Lektionen trafen, obwohl klar wird, dass die Abstände ihnen beiden als zu lang vorkamen. Vielleicht waren es nur ihre Seelen, die so fruchtbar und bereitwillig verschmolzen – Marc Aurel hingerissen vom rhetorischen Können seines Lehrers, Fronto umgarnt vom sprühenden Talent seines Schülers –, aber aus ihren Briefen spricht mehr als bloß intensiver Seelenaustausch: die Gedanken des einsamen Schreibers wandern zu anderen, manchmal unerreichbaren Möglichkeiten. Denkbar wäre es auch, dass die Briefe eine Form der rhetorischen Liebeskunst waren, eine Serie verführerischer Hausaufgaben:

Soll ich studieren, wenn Du leidest, vor allem, wenn Du meinetwegen leidest? Soll ich mich nicht gleich selber mit allen Widrigkeiten schlagen? Mit vollem Recht, verflixt. Denn wer sonst hat Dir den Knieschmerz, der, schreibst Du, letzte Nacht zugenommen hat, wer sonst hat ihn ausgelöst als (…) ich? Was soll ich also tun, da ich Dich nicht sehe und mich mit soviel Angst quäle?5


Von diesen Küssen und Erschütterungen einmal abgesehen, sind Briefe des Verlangens im weiteren Verlauf der Antike nicht oft zu finden, auch nicht in der Frühzeit des lateinischen Christentums oder der byzantinischen Welt, und schon gar nicht während all der dunklen Jahrhunderte Europas – ein Befund, den wir vielleicht einem Einbruch der Schriftkenntnis und dem Aufstieg der Kirche zuschreiben können, der es eher um Dogmen und ums Tyrannisieren ging. Das Herz konnte einem einfrieren in einer solchen Zeit. Natürlich steckt Frömmigkeit in den Paulusbriefen des Neuen Testaments, und über tausend Jahre amtlicher Kommunikation hinweg sind auch persönliche Mitteilungen verstreut, aber die Suche nach Intimität und Leidenschaft bleibt erfolglos, bis zu der Zeit, die sich als Neuerfindung der romantischen Liebe im 12. Jahrhundert beschreiben lässt. Hier begegnen wir den Schrift gewordenen Wonnen einer der größten Liebesbeziehungen aller Zeiten.

Der Umstand, dass von der verzweifelten Geschichte von Abaelard und Heloïse 800 Jahre, nachdem sie sich abgespielt hat, immer noch Gluthitze ausgeht, beruht vollständig auf der Existenz von Briefen und der Interpretation, der sie unterzogen werden – sei es nun durch begeisterte Humanisten oder abkanzelnde Moralisten. Die Saga bietet das vollständigste und früheste Beispiel dafür, was passiert, wenn ungezügeltes sexuelles Verlangen mit der erstickenden Atmosphäre einer religiösen Gesellschaft zusammentrifft, die auf solche Sachen alles andere als versessen ist, eine seltene Kombination aus doktrinärer Schulmeisterei und kuttenzerfetzender Lüsternheit.

Die Geschichte beginnt um das Jahr 1132, als Pierre (Petrus) Abaelard, Anfang 50, ein in die Bretagne verbannter Philosophenmönch, seine Lebensgeschichte niederschreibt.

Abaelards Autobiographie hat die Form eines Briefes an einen ungenannten Freund und nimmt Züge an, die später ein vertrautes Bild sein werden, das eines Trostbriefes. Die Historia Calamitatum, »die Geschichte der Unglücke«, ist darauf berechnet, dass der Empfänger seine eigenen Nöte nicht so schwer nimmt, indem er vom weit schlimmeren Schicksal eines anderen erfährt. Im Lauf des Briefes erfahren wir – als Teil einer ausführlichen und stilistisch prächtigen lateinischen Erzählung über die Nöte in Abaelards Leben – von seiner Affäre mit einer hochgebildeten und intellektuell attraktiven Frau, die er einst unterrichtet hatte; eine weitere belastete Lehrer-Schüler-Beziehung, die all ihren Schwüren lebenslanger Hingabe zum Trotz in sich schon den Keim ihres eigenen Endes trug.


Keusch wie die Engel: Abaelard und Heloïse hüten ihre Geheimnisse auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise.

Abaelard war einer der großen Bilderstürmer im mittelalterlichen Europa. Er war bekannt für seine originelle Denkweise und geistreiche Argumentationstechnik und nie im Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten oder Überzeugungen. Seiner Wirkung auf Frauen war er sich ebenso sicher wie seines Könnens als Kommentator des Propheten Ezechiel (»war ich doch hoch berühmt und jugendlich anmutig vor anderen«6). Sein Optimismus war wohlbegründet. Nachdem er eine junge Frau gesehen hatte, die in Paris lebte (man glaubt, dass sie mindestens 17 war, wahrscheinlich älter), herausragend gebildet war und »ohne damit aufzufallen, eine anmutige Erscheinung«, machte er sich daran, sie zu verführen, indem er ihren Onkel und Vormund Fulbert beeindruckte (der Kanoniker an der Kathedrale Notre-Dame war) und sie als seine Schülerin gewann.

»Muss ich noch mehr sagen?«, fragt Abaelard seinen ungenannten Korrespondenten. »Während der Unterrichtsstunden hatten wir vollauf Zeit für unsere Liebe.« Es folgten »der Küsse mehr als der Sprüche« und »[m]eine Hand hatte oft mehr an ihrem Busen zu suchen als im Buch«. Tatsächlich erhielt Heloïse offenbar herzlich wenig Unterricht: »In unserer Gier genossen wir jede Abstufung des Liebens, wir bereicherten unser Liebesspiel mit allen Reizen, welche die Erfinderlust ersonnen« hatte.

Im selben Maße, wie die nächtliche Leidenschaft andauerte, stellte Abaelard fest, dass seine Lehre darunter litt. Seine Verpflichtungen begannen ihn zu langweilen und seine Vorlesungen wurden kraftlos. Und er hörte nie auf, sich darüber zu wundern, wie alle außer Heloïses Onkel ziemlich gut im Bild darüber waren, was vor sich ging. Abaelard zitiert den heiligen Hieronymus, der an Sabinianus schrieb: »Was im eigenen Haus Schlimmes vorgeht, erfahren wir selber als die Letzten und sind noch ahnungslos, wenn die ganze Nachbarschaft schon über unsere Kinder und Frauen klatscht.«

Als Fulbert dann aber dahinterkam, war der nicht besonders sanftmütige Vormund (vorher hatte er Abaelard bereits mitgeteilt, er erlaube ihm, Heloïse fest zu schlagen, falls sie sich keine Mühe gab) nicht so ganz glücklich über die Art, wie sich Heloïse Mühe gegeben hatte. Vor seinem Zorn flieht das Liebespaar, Heloïse entdeckt, dass sie schwanger ist, und beide einigen sich auf eine heimliche Hochzeit, womit Fulbert anfangs zufrieden scheint. Ein Sohn wird geboren und Astrolabius genannt. Als sich Fulbert jedoch entscheidet, die Ehe allgemein bekannt zu machen, da ist es Abaelard, der – aus Scham über sein Verhalten – die Beziehung beendet, Heloïse in ein Kloster und Astrolabius zu seiner Schwester schickt. Und damit wäre alles erledigt gewesen, hätte es da nicht den Wut schnaubenden Fulbert gegeben, der seine Nichte verlassen und ihr Leben ruiniert sah. Also hecken Fulbert und seine Freunde einen Plan aus.

In Abaelards eigenen Worten liest sich das so: »Mein Diener ließ sich bestechen und führte sie eines Nachts, als ich ganz ruhig schlief, in meine Kammer. Und nun nahmen sie an mir eine Rache, so grausam und so beschämend, da die Welt erstarrte: sie schnitten mir von meinem Leib die Organe ab, mit denen ich sie gekränkt hatte.«

Derart verstümmelt legt Abaelard die Gelübde als Mönch ab und widmet sich der Liebe zu Gott und der Schrift. Doch er war ein forschender Geist und machte sich bei seinesgleichen nicht gerade beliebt, weil er aufdeckte, was er als die vielen Ungereimtheiten in der christlichen Lehre sah. Er schrieb viel zum Lob der rationalen Vernunft und in der Öffentlichkeit entsagte er – anatomisch notgedrungen – den Gelüsten des Fleisches. Als aber neun Jahre nach seiner Kastration sein Geständnis in Briefform in die Hände Heloïses in ihrem Kloster Argenteuil gelangte (wie, wissen wir nicht – möglich wäre, dass Abaelard ihr ein Exemplar schickte), da verwickelte er sich aufs Neue in eine Beziehung mit seiner einstigen Geliebten.7

Heloïse widersprach einigen Details in Abaelards Bericht an seinen Freund und war bestürzt von seinem bisherigen Schweigen, aber fest stand, dass ihr Herz immer noch ihm gehörte. Tatsächlich mehr ihm als Gott:

Sogar mitten im Hochamt drängen sich diese wollüstigen Fantasiegebilde vor und fangen meine arme, arme Seele so ganz und gar; aus reinem Herzen sollte ich beten, statt dessen verspüre ich die Reizungen meiner Sinnlichkeit. (…) Was wir beide getan, es ist in meiner Seele wie eingemeißelt: Ort und Stunde stehen mir sogar vor Augen, und immer bist Du dabei, ich erlebe alles wieder und wieder mit Dir, und selbst im Schlaf komme ich von diesen Erinnerungsbildern nicht los. Ab und an verrät mein Leib in seinen Bewegungen, wie es im Herzen aussieht, und ich rede, was ich nicht darf und doch nicht lassen kann.8

Heloïse ist überzeugt, dass ihr Leben zerstört ist, und sicher, dass sie mehr gelitten hat als Abaelard. Er hat Erlösung im Glauben gefunden; sie empfindet nur Scham angesichts ihres Scheiterns, dasselbe zu tun.

Gottes Güte war Dir gerade da am nächsten, wo Du Gottes Zorn zu spüren glaubtest; auch ein guter Arzt schreckt nicht davor zurück, Schmerzen zu verursachen, kann er nur das Leben retten. Aber in mir drängt das Feuer der Jugend, ich habe zu viel gekostet die Freuden aller Freuden, und darum kann das brünstige Fleisch, die hochgepeitschte Lust nicht zur Ruhe kommen. Der umfassende Ansturm lässt mich erliegen, schwach wie ein Menschenherz, wie mein Menschenherz eben ist!9

Abaelards vernunftbetonte Antwort auf ihren Ausbruch ist verhalten im Ton und weit gesetzter, als sie sich gewünscht hat. Er bietet ihr geistlichen und religiösen Beistand an und vertraut darauf, dass sie ihr Kloster gut leiten wird. Aber alles sexuelle Verlangen nach ihr habe er abgelegt, und es sei nicht nur seine Kastration, die diesen Umschwung herbeigeführt habe. Die Lust betrachtet er nun als erniedrigend und blickt auf seine Nächte mit ihr zurück als voll von »den armseligen Genüssen, die zu schmutzig sind, als daß ich sie ohne Erröten auch nur nennen kann«10. Er glaubt, ihr oft gegen ihren Willen seine Lust aufgezwungen zu haben, und ist jetzt dankbar für seine Zurechtstutzung, die er als »gerechte, gnädige Fügung« begreift:

Um in vielem anderen wachsen zu können, mußte ich das eine Organ verlieren, in dem meine Sinnlichkeit ihren Hauptsitz hatte und meine Gier ihren Ursprung. (…) Das Messer, das meinen Leib traf, es befreite auch die Seele von dem Schmutz, in den ich geradezu schon versunken war. Keine Fleischeslust konnte mich inskünftig noch befallen, und so war ich für den heiligen Dienst am Altar erst recht befähigt.11

Widerwillig scheint Heloïse diese Argumente zu akzeptieren oder gibt sich zumindest gegenüber ihrer Wucht geschlagen. Die Briefe des Paares enden eher mit philosophischen als intimen Themen, obwohl der Gleichklang ihrer Gedanken immer noch ein unwiderrufliches Band zwischen ihnen zu knüpfen scheint.

Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Anfang der 1970er-Jahre veröffentlichte ein deutscher Mittellateiner, Ewald Könsgen, in Bonn seine Dissertation, die eine Reihe von Liebesbriefen auf Wachstäfelchen vorstellte, welche erstmals in einer Anthologie veröffentlicht worden waren, die der Mönch Johannes de Vepria im 15. Jahrhundert zusammengestellt hatte. Wer die Briefe geschrieben hatte, war unbekannt, aber Könsgen hatte das Gefühl – viel mehr war es nicht –, dass dies die originalen Briefe von Abaelard und Heloïse sein könnten, geschrieben in Paris, ehe alles schiefging. Sein Gefühl war etwas stärker geworden, als er 1974 Epistolae duorum amantium. Briefe Abaelards und Heloises? veröffentlichte, aber das Büchlein schlug kaum Wellen. Schon mehr Streit gab es da 1999, als Constant J. Mews, Professor an der Monash University in Melbourne, die Briefe unter dem unmissverständlichen Titel The Lost Love Letters of Heloise and Abelard herausgab, und noch viel mehr Aufsehen, als die lateinischen Briefe 2005 in französischer Übersetzung erschienen. Der Streit treibt die Mittelalterforschung immer noch um: Sind die Briefe echt – und wenn ja, sind es die echten Briefe von Abaelard und Heloïse?12

Zweifellos wechselten die beiden auf dem Gipfel ihrer Leidenschaft Briefe. Laut seiner Autobiographie sagte sich Abaelard in ihren ersten gemeinsamen Tagen: »auch wenn wir nicht beisammen sind, können wir mit Briefen ein Zusammensein ersetzen, man kann in einem Brief eher ein kühnes Wort wagen als von Mund zu Mund«.13 Je länger Mews die Briefe studierte und übersetzte, desto überzeugter war er von den sprachlichen und grammatikalischen Ähnlichkeiten zwischen den überlieferten Briefen und den später entdeckten. Als er ihren sozialen Kontext innerhalb der sonstigen Manuskripte aus dem Frankreich des 12. Jahrhunderts untersuchte, stieß er auf weitere Anhaltspunkte. Die 113 Briefe variieren beträchtlich in ihrer Länge, von drei bis vier Zeilen bis über 600 Wörtern und von unvollständigen Prosafetzen bis zu langen Abschnitten aus metrisch strikt durchkomponierten Versen. Sie sprechen von beständiger Liebe, die in Treue erprobt ist, und wiederholt vermischen sich irdische Liebe, geistliche Liebe und die Liebe zu Gott. Viele Texte scheinen ganz unabhängig voneinander dazustehen, so als wären sie ganz ohne Erwartung einer direkten Antwort in den Wind geschrieben worden.

FRAU: An einen bislang Geliebten und stets zu Liebenden: mit all meinem Sein und Fühlen, Gesundheit, Freude und Wachstum in allem, das wohltätig und ehrbar ist … Leb wohl, leb wohl und lebe wohl, solange man Gottes Reich bestehen sieht.

MANN: An seinen kostbarsten Edelstein, stets strahlend mit natürlichem Glanz, er, das reinste Gold: möge er besagtes Juwel umgeben und passend in eine freudige Umarmung schließen … Leb wohl, Du, die mich wohl leben lässt.14

Die lapidare Süßlichkeit bringt es nie zu längeren Beispielen und bleibt so vage, dass man beinahe wütend wird. (Sie: »Leb wohl, Süßester. Ich bin ganz bei Dir oder, um wahrhaftiger zu sprechen, ich bin ganz in Dir.« Er: »An das unerschöpfliche Gefäß all seiner Süßigkeit …« Sie: »Da Du der Sohn der wahren Süße bist …«) Allmählich allerdings tritt hervor, wie körperlich die Beziehung beider ist, wenn auch in verhaltener Weise, als wir es von den erotischen Kirchenbankphantasien der späteren Briefe gewohnt sind (Mann: »Selbst mein Geist bebt von freudigem Zittern und mein Körper ist in eine neue Form und Haltung verwandelt.«) Und dann, ab Brief 26, brechen sie aus in eine Sprache fiebrigen Überschwangs, eine Hitze, die wir eindeutig als die unseres berühmten Liebespaares wiedererkennen:

MANN: Wie fruchtbar mit Entzücken ist Deine Brust, wie Du mit unberührter Schönheit glänzt, Leib so voller Feuchtigkeit, unbeschreiblicher Duft, der Dein ist! Enthülle, was verborgen ist, entblöße, was Du verdeckt hältst, lass jenen ganzen Quell all Deiner Süße hervorsprudeln … Stunde um Stunde bin ich enger an Dich gebunden, genau wie Feuer, das Holz verzehrt.

Eine weitere Gemeinsamkeit haben die ›neuen‹ Briefe, ob nun echt oder nicht, mit ihren anerkannten Gegenstücken: Nichts kommt ihnen an Unterhaltungswert auch nur im Entferntesten nahe.

Zwar scheuten die Kirchenväter in der langen Zeitspanne zwischen Plinius dem Jüngeren und Heloïse nicht das Briefeschreiben, aber zum Funkeln brachten sie die Form des Briefes nicht. Gut tausend Jahre lang sind theologische Briefe alles, was wir haben. Lese- und Schreibkenntnis im gemeinen Volk wurde nicht gefördert, und im Schatten der Kirche galten die Ansichten der einfachen Leute als belanglos. Eine mündliche Tradition trat weithin an die Stelle einer schriftlichen. Nur die Reichen konnten sich Boten leisten, und Schriftkenntnis wie Schreibmaterialien waren fast ausschließlich die Domäne der Schreiber und ihrer kirchlichen Auftraggeber. Und was gab es außer der reinen Lehre schon Wertvolles, um das sich die Gedanken eines Laien drehen konnten?

Was wir an Briefen haben, stellt eine wenig begeisternde Auswahl dar. Ihre frommen Autoren kamen einer Pflicht nach, sie waren gebildet, ihre Briefe wurden eher als andere überliefert (von königlicher Korrespondenz bemerken wir nicht sehr viel, was sich erst lange später ändert). Die kirchliche Auswahl an Anrede- und Grußformeln beruhte weitgehend auf den Bräuchen der Spätantike, aber da hört die Ähnlichkeit auch schon auf; diesen Schreibern ging es nicht um weltliche Philosophie oder Bildung, sie hatten nichts zu schaffen mit dem unverblümten politischen Taktieren eines Cicero oder den Ratschlägen eines Seneca zum Reisen oder zur Bescheidenheit. Sie befassten sich überwiegend mit Kirchenangelegenheiten, wie zu erwarten war, mit dem rechten Weg, der kaum Umwege kannte.

Als Beweismaterial dafür liegt eine ganze Menge vor: Rund 240 Briefe sind von Gregor von Nazianz erhalten, sie umfassen einen Großteil des 4. Jahrhunderts, dazu gibt es 360 Briefe des heiligen Basileios aus derselben Zeit, an die 2000 kurze Notizen des Isidor von Pelusium und über 200 Schreiben Theodorets von Kyrrhos aus dem 5. Jahrhundert. Möglicherweise würden Sie den Tod der langsamen Folter, das zu lesen, vorziehen.



Entblätterter Zustand, ausgelöst durch die Lektüre von Abaelard und Heloïse auf einem Porträt des späten 18. Jahrhunderts von Auguste Bernard d’Agesci.

Da überrascht es nicht, dass die physische Offenherzigkeit Abaelards und Heloïses, ihre Entschlossenheit, das Leben zu durchleiden, wie es eben ist, immer noch weiterbrennt. Auch nicht, dass ihre Briefe Bestandteil unserer Kultur geworden sind, die weit entfernt von flüsternden Klosterkreuzgängen liegt.

Ein großes politisches Denkmal hat ihnen Alexander Pope gesetzt, dessen Eloisa to Abelard von 1717 unsere Heldin danach verlangen ließ, was sie den »Ewigen Lichtschein makellosen Geistes« nannte. (Aber ganz umsonst, denn »Ich öffne Deine Schrift, schon weckt – ich zittre –/Vertrauter Name all mein Leid, das bittre.«) Später bekam es lyrische Konkurrenz in Form des Auftakts zu Cole Porters Just One of Those Things: »Wie sagte Abaelard zu Heloïse:/Schreib mal ’ne Zeile, Schweigen ist fies.«

Reif für Ölgemälde war die Saga immer schon. Sie ist unter vielen Variationen in vielen Gemäldegalerien zu sehen, in der vielleicht melancholischsten Form als »Dame beim Lesen der Briefe von Heloïse und Abaelard« von Auguste Bernard d’Agesci (um 1780) im Chicago Art Institute. Die fragliche Dame scheint so betroffen von dem, was sie da gerade gelesen hat, dass ihr Kleid verräterisch von ihren Schultern gerutscht ist. Im Kino tritt das Paar als Puppen in Charlie Kaufmans Drehbuch für Being John Malkovich auf. Eternal Sunshine of the Spotless Mind, das Pope-Zitat, lieferte den Titel für ein weiteres Kaufman-Drehbuch, umgesetzt durch Jim Carrey und Kate Winslet. Viele Fernsehzuschauer hörten von den Briefen das erste Mal, als sie in einer Folge der Sopranos vorkamen.

Wenn jemand die Geschichte für ein modernes Publikum nacherzählt, dann wird sie oft mit einer Reihe gelehrter Spekulationen angereichert, so in Heloise & Abelard von James Burge (2003), der sich vorstellt, wie die Heldin ihre erste Antwort auf Abaelards Autobiographie abfasst, ehe »die Glocke zur Vesper läutet. Noch einmal muss die Äbtissin ihre Liebe, ihre Empfindungen und die Geschichte, die sie bis zu diesem Augenblick geführt hat, annehmen, in sich verschließen und ihre Rolle als Leiterin eines Klosters ausfüllen. Sie faltet den Brief, verschnürt und versiegelt ihn. Vielleicht lässt sie ihn in ihren Habit gleiten.«

Aber am frühesten und am meisten in die Affäre verschossen hat sich im 14. Jahrhundert Petrarca, dessen Bewunderung für Heloïse (»Völlig bezaubernd und höchst elegant!«) eine neue Faszination für das Liebespaar entfachte, ganz ähnlich, wie er die griechische Philosophie mit Cicero beleben konnte. Einen größeren Fürsprecher konnte es nicht geben: Mehr als jeder andere in der Frührenaissance war Francesco Petrarca der Mann, der neu entdeckte, was Briefe alles sein konnten. Einer seiner eigenen Briefe definiert sogar die Geschichte dieses Wortes.

Geboren wurde er 1304 in Arezzo, aber sein Leben als ewiger Reisender erklärt die unzähligen Briefe (erhalten sind fast 500) an die vielen, vielen Freunde und Bekannten, als er aus der Nähe von Florenz über Pisa und Montpellier nach Bologna zog, ehe er sich für einen längeren Aufenthalt in Vaucluse in der Provence und später in Mailand niederließ. Als Gelehrter und Dichter zugleich schien Petrarca zu schwanken, was den bleibenden Wert seiner Werke innerhalb seines riesigen Œuvre anging, aber moderne Leser finden viel Wertvolles in seinen Aufsätzen, Biographien und religiösen Abhandlungen wie auch in seinen berühmtesten Gedichten, die seine Muse Laura inspiriert hat – nachdem sie 1348 an der Pest starb, sicherte er ihr die Unsterblichkeit.

Aber auf jeden Fall sollten wir ihn noch aus einem anderen Grund in Erinnerung behalten: Petrarcas Briefe sind faszinierende und wichtige Dokumente. Angeregt durch Cicero, Epikur und Seneca schrieb er fast jeden Tag in persönlichen Wendungen, und seine beiden großen Briefsammlungen (die eine, Epistolae familiares, ist eine vielschichtige Zusammenstellung seiner Reisezeit, die andere, Epistolae seniles, befasst sich speziell mit dem Alter) können durchaus den Anspruch erheben, die ersten modernen Briefe des ersten modernen Menschen an der Schwelle unserer modernen europäischen Kultur zu sein.

Wie um den historischen Wert seiner Briefe zu betonen, schreibt Petrarca eine unfertige Geschichte seines eigenen Lebens nicht in Gedichtform oder in der üblichen chronologischen Weise, sondern in Gestalt eines Briefes »An die Nachwelt«. Die einleitende Bescheidenheit dürfen wir als mehr oder weniger gespielt betrachten (»Vielleicht hörst Du einmal etwas über mich …«), und er liegt völlig falsch damit, wenn er behauptet, dass »ein so kleiner und dunkler Name« wie seiner »durch die vielen Jahre und Länder kaum zu Dir gelangen mag«. Die Geschichte ist schonend mit ihm – und mit uns – umgegangen.

Zu Beginn seiner ersten Briefsammlung schreibt er an seinen lebenslangen Freund Ludovicus (dem er den Spitznamen Sokrates gibt), dass seine Briefe es beinahe gar nicht bis zur ersten Veröffentlichung (in den 1360er-Jahren) geschafft hätten, weil Mäuse oder »das gefräßige Mottenvolk« die meisten zerstört hätten und er selbst einige absichtlich verbrannt habe. Wie er gesteht, hatte er einen dieser trüben Momente, in denen er am Wert seines ganzen Werks zweifelte, aber eine traumähnliche Vision von Ludovicus (der schon vorher eine Vorliebe für Petrarcas Briefe bekundet hatte) stimmte ihn um. Also blickte er nun mit einer gewissen Genugtuung auf seine Arbeiten zurück und sah sich in der Lage, einige Beobachtungen zum Briefeschreiben zu äußern, die er vorher noch nicht festgehalten hatte.

Die erste Sorge für jemanden, der schreibt, ist ja, darauf zu achten, wem er schreibt. Einzig die Sorge beherrscht ihn: was wird der Empfänger sich dabei vorstellen und in welcher Weise wird er auch die übrigen Umstände auffassen? Anders muß man ja zu einem beherzten Manne sprechen, anders zu einem energielosen, anders zu einem unerfahrenen Jüngling, anders zu einem Greise, der seine Lebensarbeit getan hat, anders zu einem von Glück Strotzenden, anders zu einem von Unglück Gebeugten, anders endlich zu einem studierten Mann, der durch Bildung und Geist hervorragt, anders zu einem, der nichts verstehen würde, wenn man zu hoch spräche.15

Als der Schriftsteller 1365 an Boccaccio schreibt, nachdem seine gesammelten Briefe seit kurzem offensichtlich schon durch zahlreiche Schreiber fleißig kopiert wurden, da spricht er von einem überwältigenden Wunsch für sein ganzes Werk: dass es sich gut lesen lässt. Nicht seine Sache ist »die vage, aber üppige Schreibweise« oder ein Stil, der »uns aus der Ferne entzückt, aber (…) anstrengt und die Augen ermüdet, wenn wir schärfer hinsehen«. Letztlich ist alles eine Frage der Etymologie, schreibt er, denn schließlich »kommt das Wort littera, ›Brief‹, von legere, ›lesen‹.«

Der moderne Leser mag noch weitere Hoffnungen hegen: dass seine Briefe nicht nur lesbar, sondern auch weiterhin lesenswert sind. Viele sind es. Sie sind weitgespannt im Inhalt, widersprüchlich, selbstbewusst, elitär und gebildet, was normalerweise in jeder Sprache eine Garantie für gute Lektüre ist. Petrarca schrieb an viele Freunde, darunter einige imaginäre wie Cicero und Homer.

Die Themen reichen von Politik und Biographischem bis hin zu klassischer Dichtung und zeitgenössischer Literatur, aber einer der wesentlichen Züge, die sie über andere hinausheben, ist das Schreiben über seine Reisen. Petrarca kann für sich den Anspruch erheben, der erste Tourist der Welt gewesen zu sein.

Die Briefe an seine Freunde sind so etwas wie Postkarten auf Pergament mit Grüßen nach Hause, und er schreibt nicht wie einer, der exotische Sitten der Eingeborenen beobachtet, während er in wichtigen Angelegenheiten quer durch Europa flitzt, sondern als Vergnügungssüchtiger, als Urlauber, als Flaneur. Er reist nach Paris, in die Niederlande und an den Rhein, er steigt auf Berge, er erstattet Bericht. Das einzige, das ihn davon abhält, noch weiter zu reisen – zum Beispiel nach Jerusalem – sind seine schrecklichen Anfälle von Seekrankheit. »Ich wünschte, Du könntest wissen«, schreibt er an einen Freund, »mit welcher Wonne ich wandere, frei und allein, zwischen Bergen, Wäldern und Bächen.« Seine Briefe verwandeln sich in Reiseführer, Wegbeschreibungen und innere Landkarten – und eine Frühform der Anthropologie.


Der erste Mann in Sachen Bildung? Auf diesem Gemälde des 19. Jahrhunderts umklammert Petrarca sein Vermächtnis.

»Dann fuhr ich weiter nach Köln«, schreibt er im Sommer 1333 an Kardinal Giovanni Colonna,

das am linken Rheinufer gelegen ist, ein Ort, berühmt durch seine Lage und seinen Strom, berühmt auch durch seine Bevölkerung. Erstaunlich, wie groß im Barbarenlande die Gesittung, wie schön der Anblick der Stadt, wie gesetzt die Haltung der Männer, wie schmuck das Gebaren der Frauen!

Zufällig war gerade Johannisabend, als ich dort anlangte, und die Sonne neigte sich schon gen Westen. Sogleich bringt mich das Zureden der Freunde (…) von der Herberge zum Fluß, ein herrliches Schauspiel zu sehen. Und ich ward nicht enttäuscht. Das ganze Flußufer war nämlich bedeckt von einer riesengroßen, glänzenden Schar von Frauen. Ich stutzte … Gute Götter! Was für Gestalten, was für Gesichter, welch eine Haltung! In Liebe hätte entbrennen können, wer nur ein nicht schon gebundenes Herz mitgebracht hätte.

Ich hatte mich an einem etwas erhöhten Fleck aufgestellt, von dort auf das, was sich abspielte, zu schauen. Es war ein unglaublicher Zulauf ohne Gedränge. Manche waren mit duftenden Kräutern umwunden und hatten die Arme über die Ellenbogen zurückgestreift. So wuschen sie in fröhlichem Durcheinander die weißen Hände und Arme im reißenden Strom (…).

Begleiter habe ich, wo immer etwas zu hören oder zu antworten erforderlich war, statt der Zunge und statt der Ohren gebraucht. Als ich also einen aus jener Zahl bewundernd und unkundig des Sachverhalts mit folgenden Virgilsprüchlein fragte: Was will der Zulauf zum Strome? Was erstrebt ihr Gemüt?, empfing ich die Antwort: es sei ein uralter Landesbrauch und besonders das Weibervolk bilde sich fest ein, jedwedes für das ganze Jahr etwa drohende Unheil werde reinigend weggespült durch die Waschung im Strome an diesem Tage und im Verfolge werde nur Erfreuliches eintreffen; daher denn diese Läuterung alljährlich mit stets unerschöpflichem Eifer begangen werde und auch zu begehen sei.16

Egal wie hoch wir Petrarcas Briefe auch schätzen mögen, man käme nur schwer an die Achtung heran, die er selbst ihnen entgegenbrachte. Er wünschte sich, dass sein Leser, den er sich als männlich dachte,

an mich allein denken möge, nicht an die Heirat seiner Tochter, die Umarmungen seiner Geliebten, die Intrigen seines Feindes, seine Termine, sein Haus, Land oder Geld. Ich will, dass er aufmerksam auf mich ist. Wenn seine Geschäfte drängen, soll er die Lektüre des Briefes verschieben, wenn er aber liest, soll er die Last des Geschäfts und der Familiensorgen von sich werfen und seinen Geist auf das richten, was vor ihm liegt (…). Ich will nicht, dass er ohne jede Anstrengung gewinnt, was meinerseits nicht ohne Mühe geschaffen worden ist.

Seine Briefe sind normalerweise deutlich mehr als tausend Wörter lang. Die abgedroschene Floskel »entschuldige, dass dieser Brief so lang ist, ich hatte nicht die Zeit, einen kurzen zu schreiben«, hat man in wechselnden Formen Blaise Pascal (1657), John Locke (1690), William Cowper (1704) und Benjamin Franklin (1750) zugeschrieben, der Gedanke aber kann sehr gut – natürlich in weitschweifigerer Form – von Petrarca stammen. Als er am Ende seines Schriftstellerlebens wieder einmal an Boccaccio schrieb und wusste, dass seine Zeit nun begrenzt war, entschloss er sich, seine Briefe knapp zu halten, so »daß ich zwar verstanden werde, aber keine Freude daran habe«. Doch wie er sich erinnerte, hatte er das schon früher versprochen: »dies Versprechen habe ich nicht zu halten vermocht, denn viel leichter ist, wie man wohl verstehen wird, das Schweigen als ein zu kurzes Zwiegespräch mit den Freunden. So groß ist ja, sobald man einmal angefangen hat, der heiße Drang, ein Zwiegespräch zu halten, daß es leichter wäre, gar nicht erst anzufangen, als den Schwung des begonnenen Gespräches zu zügeln.«17

Auch anderen Schwierigkeiten musste er sich stellen. Allzu oft schrieb er Briefe, und dann erreichten sie ihre unaufmerksamen Leser gar nicht, da besorgte Staatsdiener oder wahllose italienische Straßenräuber, wenn nicht gar ein frühes Exemplar des Autogrammjägers ihren Boten abgefangen hatten. Nicht lange vor seinem Tod schrieb Petrarca an Boccaccio, eine Mischung aus Altersgebrechen und der ewigen Unzuverlässigkeit des Botendienstes habe ihn einem bedauerlichen Schicksal unterworfen: er werde keine Briefe mehr schreiben.

Nun höre ich aber, daß dieser Brief und auch der andere der beiden großen Briefe nie in Deine Hände gelangt ist. Was soll ich aber dabei tun? Man muß es dulden, man kann sich darüber entrüsten, aber nicht dafür rächen. Es ist eben überall in Oberitalien dies höchst widerwärtige Gezücht von Menschen aufgetaucht, die Wächter über alle Schritte, ja die Pest für Boten.

Sie öffnen Briefe, nehmen Einsicht in sie und betrachten sie höchst peinlich. Vielleicht entschuldigt sie aber der Befehl ihrer Herren, die in allem ein schlechtes Gewissen haben und in ihrem geängstigten hochmütigen Lebenswandel glauben, daß alles über sie und gegen sie gesagt sei, und die alles wissen wollen. Für das Folgende gibt es aber gar keine Entschuldigung. Wenn manche Leute etwas in Briefen finden, was ihren Eselsohren schmeichelt, so pflegten sie früher mit Abschreiben die Zeit zu vergeuden und die Boten hinzuhalten. Nun, da die Frechheit gewachsen, heißen sie die Boten ohne Briefe von dannen ziehen, um ihre Finger zu schonen, und, was das Schlimmste an diesem Übel ist: diejenigen tun es am meisten, die nichts verstehen. (…) Niemand ist ärgerlicher hierüber als ich, niemand trägt es schwerer, so daß es mich häufig vom Schreiben zurückhält und häufig zu dem Schmerze gezwungen hat, mit dem ich dann geschrieben habe, da eben gegen diese Briefräuber keine Möglichkeit einer anderen Rache besteht. Denn alles ist in Unordnung und die Freiheit des Staates ist zugrunde gerichtet.18

Die Freiheit des Staates, zugrunde gerichtet durch einen unzuverlässigen Postdienst? Selbst wenn wir das unter die gelegentlichen Anflüge italienischer Melodramatik rechnen, so scheint es doch, dass der Wert der Briefe – ihre Rolle im kulturellen Austausch wie auch ihre Bedeutung in Staatsangelegenheiten – inzwischen so hoch war, dass eine zivilisierte Welt bei Anbruch der Renaissance nicht mehr ohne sie auskam.

Und das war erst der Anfang: Den Wert der Briefe als historische Aufzeichnungen, die Gefahr der Briefe für eine nervöse Monarchie, die Bedeutung eines verlässlichen Zustelldienstes für leidenschaftliche Liebesbekundungen – das alles begann man erst richtig einzuschätzen. Eindeutig war der Aufschwung an Lese- und Schreibkenntnis Segen und Fluch zugleich.

Briefe!

Подняться наверх