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Briefe aus der Fremde

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14232134 SIGNALMAN CHRIS BARKER

H.C., BASISDEPOT, ROYAL SIGNALS

STREITKRÄFTE IM MITTLEREN OSTEN

Irgendwo in Nordafrika

5. September 1943

Liebe Bessie,

da ich schon seit einiger Zeit einen ausstehenden Brief an Nick und Dich auf dem Gewissen habe, beginne ich jetzt einen flüchtigen Bericht meiner Schritte, seit ich hier vor ca. fünf Monaten angekommen bin, und ein, zwei andere Kommentare, die Dich erbauen, amüsieren oder ärgern werden, je nach dem britischen Kriegsspeisezettel oder was Du sonst so zum Frühstück hattest.

Den »Sicherheits«-Ratschlag eines Fernmeldeoffiziers, dass wir auf Reisen unseren Darm offen und unseren Mund geschlossen halten sollten, scheint die Meute nicht beherzigt zu haben, die unterwegs zu unserem Zielhafen war. Das Benehmen der Truppe an Bord war schlecht. Sie brüllten, schubsten, fluchten und stahlen nach Schurkenherzenslust. Ich habe an die zwölf Teile von meiner Ausrüstung eingebüßt und konnte das meiste aus den Einzelteilen herausfischen, die bis zur Ausschiffung von Typen liegengelassen wurden, die überhaupt nur aus Spaß an der Freud geklaut haben. Leider kann ich mein Rasiermesser nicht dazuzählen. Das hat jemand von dem Vorsprung entfernt, auf den ich es gelegt hatte, als ich mich umdrehte, um ein Handtuch zum Abwischen zu holen.

Chris Barker, damals 29, war in Holloway im Norden Londons geboren und aufgewachsen. Mit 14 ging er von der Schule ab und arbeitete bei der Post, anfangs als Laufbursche und dann als Schalterbeamter; in dieser Zeit wurde er aktives Gewerkschaftsmitglied. Seine Ausbildung am Fernschreiber, eine kriegswichtige Tätigkeit, ersparte ihm bis Ende 1942, eingezogen zu werden, und nach einer Grundausbildung in Yorkshire wurde er als Telefonist dem Middle East Command der Streitkräfte zugeteilt. Nach einer langen Seereise rund ums Kap der Guten Hoffnung erreichte er Kairo im Mai 1943.

Vier Monate später diente er beim Royal Corps of Signals, der Fernmeldetruppe, in Tobruk an der libyschen Küste und war dort für das Nachrichtennetz der Royal Air Force im südlichen Mittelmeerraum zuständig. Da er genug Zeit für sich hatte, begann er an Freunde von zuhause zu schreiben, die er vermisste.

Sein Brief an Bessie Moore und ihren Freund Nick war nur einer unter vielen. Chris hatte zusammen mit Bessie bei der Post gearbeitet. Inzwischen war sie im Außenministerium tätig, wo ihre Morsekenntnisse genutzt wurden, um abgefangene deutsche Funknachrichten zu übersetzen. Als der Briefwechsel mit Chris begann, war sie 30. Sie blieb den ganzen Krieg über in London.

Die Vorbereitungen für unsere Ausschiffung waren perfekt und nach einer nicht unbequemen Zugfahrt hat man uns an die oben angegebene Adresse gebracht. Ich hatte erwartet, man würde uns auf einen Sandhaufen setzen und sagen, das sei unser Zuhause, aber das Depot ist ein sehr angenehmer Ort, umgeben von Pinien- und Eukalyptusbäumen. Das Wasser kommt aus dem Hahn und beim Essen kann man sich hinsetzen. Es gibt eine Kirchenbaracke, still und fliegenfrei, eine Baracke für das Army Educational Corps [die Kultur- und Bildungsabteilung], wo sie ausgezeichnete Bücher haben, einen guten NAAFI [Einkaufsgelegenheit für Soldaten, A. d. Ü.] und ein Kino. Etwas weiter ein Zelt, mit Freiwilligen besetzt, wo man Erfrischungen serviert (nicht hingeknallt) bekommt, und das zu vernünftigen Preisen, und es gibt eine Lounge, eine Bibliothek, ein Schreibzimmer, ein Spielezimmer und ein Freilichtkino, wo jede Woche eine kostenlose Filmvorstellung stattfindet, auch einen Konzertraum. Einen Abend in der Woche gibt es einen Vortrag, an einem anderen Bridge und Whist und einen ›hochgeistigen‹ Musicalabend an noch einem anderen.


Ein Brief an Funker Barker versucht durchzukommen.

Gleich, wie ich da war, hat mein Bruder meine Versetzung zu seinen Einheiten beantragt, und nach zwei Monaten Etappenleben machte ich mich auf die ermüdende, aber interessante Reise zu ihm. Ich traf ihn nach einer Trennung von 46 Monaten und hatte eine schöne Zeit, als wir von zuhause und allem, was da passiert ist, redeten – den Krächen und dem Jubel –, und ging am Abend durch den sandigen Weinberg im blauen Wasser schwimmen.

Seit dem Ende der Schalterausbildung [bei der Post] und seit ich zur Armee ging, ein Zeitraum von zwölf Jahren, hatte ich kaum echte Ruhe. Entweder stand ich tatsächlich am Schalter oder hatte mit Gewerkschaftsarbeit zu tun. Wenn ich mich mal entspannte, dann nicht lange und ich hatte immer ein schlechtes Gewissen. Seit ich zu Ihrer Majestät Streitkräften eingerückt bin (oder eingerückt wurde), habe ich eine ganze Menge Freizeit gehabt und das meiste davon habe ich mit Lesen und Schreiben verbracht. Weil ich beschlossen habe, dass das mein letztes Blatt wird, sollte ich wohl auch noch was über die Leute hier sagen. Die Ägypter, dem Namen nach neutral, sind feindselig wie die meisten Völker ohne »Unabhängigkeit«. Die Araber, arm, ungesund, unwissend, muss man erst sehen, um es zu glauben. Das Großstadtleben verwandelt sie in Landplagen, aber weiter weg von der Stadt sind sie keine üblen Leute. Sie arbeiten 12 Stunden für einen Shilling; nur 25 Prozent von ihnen können lesen und schreiben, 170.000 haben nur ein Auge und sie sterben ungefähr mit 40 Jahren.

Ach ja, die Pyramiden; ja, die habe ich gesehen, habe oben gesessen und dachte mir, was für ein Riesenargument für die Gewerkschaftsbewegung die doch abgeben. Wie viele unwillige Sklaven sind bei der kolossalen Schufterei gestorben, die es brauchte, um diese Gebäude zu errichten. Und was für ein unbedeutender Bau, verglichen mit den echten Hügeln und Bergen der Natur?

Ich war im Kairoer Zoo, zum Glück in Begleitung von zwei jungen Ägyptern, die bei der amerikanischen Mission zur Schule gehen. Dank ihnen war es ein gelungener Tag. Wie grausam das ist, einen Eisbär (edles Geschöpf) in diesem Klima zu halten, und wie anstrengend, ihn mit einem Kaltwasserguss von 10 Sekunden zu trösten!

Entschuldige die Schrift und das Durcheinander dieser Bemühungen. Aber das bin halt ich. Ich hoffe, Du bist o.k. Nick, das hier ist weit weg von unserem Lichtbildvortrag über das sonnige Spanien in Kingsway Hall!

Viele Grüße, Bessie

Chris

1 Falls ein Brief besonders dringend war, adressierte man das gefaltete, versiegelte Papyrusblatt manchmal »An Antigonos – jetzt«.

2 »Wenn es Dir gut geht, ist das gut; mir jedenfalls geht es gut.«

3 Papyrus Oxyrhynchos 744 (A. d. Ü.)

4 Papyrus Athens 60 (A. d. Ü.)

5 Grenfell/Hunt, Select Papyri 1,133 (A. d. Ü.)

6 »Caesar’s Body Shook«, London Review of Books, 22. September 2011.

7 Ad familiares 7,1 übs. Kasten (A. d. Ü.)

8 Ad Atticum 13,57(52) (A. d. Ü.)

9 Wahrscheinlich waren es einmal mehr; das ist die erhaltene Zahl. Senecas Briefe waren meistens länger als üblich und bewegen sich zwischen 149 und 4134 Wörtern mit einem Durchschnittswert von 955 Wörtern, was zehn zu einer Rolle aneinandergeklebten Papyrusblättern entspricht. Klassische Philologen mit viel Freizeit haben berechnet, dass ein Papyrusblatt auf ungefähr 23 × 27 Zentimetern durchschnittlich 87 Wörter fassen konnte und ein Brief deshalb selten über 200 Wörter hinausging. Ciceros Briefe umfassten zwischen 22 und 2530 Wörtern, durchschnittlich 295.

10 Epist. 28 (3,7) übs. Rosenbach. (A. d. Ü.)

11 Epist. 70 (8,1).

12 Epist. 1,3 übs. Kasten (A. d. Ü.)

13 Epist. 1,15; die »Sautaschen«, Gebärmutter vom Schwein, begeisterten römische Gourmets (A. d. Ü.)

14 Epist. 6,16. (A. d. Ü.)

15 Epist. 6,20 (A. d. Ü.)

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