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Erstes Kapitel
Die Magie der Briefe

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Los 512. Walker (Val. A.). Umfangreiche Briefserie an Bayard Grimshaw, 1941 und 1967–69, bestehend aus 37 Autographen, unterzeichnet, und 21 maschinenschriftlichen Briefen, darunter eine lange Beschreibung Houdinis: »seine Wasser-Folterzelle unterschätzte schlicht die Intelligenz des Zuschauers, für Laien wie für Zauberkünstler kein Problem«, die Schilderung eines seiner Bühnenauftritte, bei dem Walker zu denen gehörte, die Houdini Handschellen anlegen sollten, und eines weiteren, bei dem er Houdini in seiner eigenen Jacke fixierte, weiterhin Mitteilungen über seine Zwangsjacke, seine Ausbruchskunststücke »Tank in der Themse« und »Aquamarin-Girl« sowie weitere Materialien zur Entfesselungskunst, einschließlich eines Flugblatts mit der Ankündigung des »Challenge-Handschellentricks« und eines Werbezettels für George Grimmonds »Flucht aus der dreifachen Kiste«.

Schätzpreis £ 300–400

Die Firma Bloomsbury Auctions liegt nicht im Londoner Stadtteil Bloomsbury, sondern in einer Seitenstraße der Regent Street und hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1983 auf den Verkauf von Büchern und bildender Kunst spezialisiert. Gelegentlich zählt zur bildenden Kunst die Zauberei – eine schillernde Überschrift, die Einblick in eine verschwindende Welt und viele zusammen mit ihr verschwindende Gegenstände gewährt, außerdem in die Taschenspielerei, das Gedankenlesen, die Kontorsion und Levitation (das ist die Kunst der »Schlangenmenschen« und der »schwebenden Jungfrauen«), die Entfesselungskunst und das Zersägen von Menschen.

Am 20. September 2012 standen bei einer solchen Versteigerung vollständige Tricks, Requisiten, Auflösungen von Tricks und Bauanleitungen für Requisiten, Poster, Handzettel, Verträge und Briefe zum Verkauf. Verschiedene Positionen galten einzelnen Zauberkünstlern, darunter Vonetta, der Meisterin des Mysteriums – eine der wenigen erfolgreichen Illusionistinnen und eine Hauptattraktion in Schottland, wo sie nicht nur für ihre Zauberkunststücke, sondern auch wegen ihres Könnens als Verwandlungskünstlerin gefeiert wurde. Ein Los drehte sich um Ali Bongo und um fasste unter anderem Briefe mit der Beschreibung von 17 Erfindungen sowie paradoxerweise »die Beschreibung eines Kostüms für einen Auftritt als ›Der Unsichtbare‹«.

Gleich drei Lose waren Chung Ling Soo gewidmet, der in Wirklichkeit William E. Robinson hieß und 1861 nicht in Peking, sondern in New York City geboren wurde (die Fotos im Auktionsbestand legten nahe, dass er weniger wie ein rätselhafter Mann aus Fernost und eher wie Nick Hornby mit Hut aussah). Einer der angebotenen Briefe beschäftigte sich mit dem Rivalen von Chung Ling Soo, nämlich Ching Ling Foo, der behauptete, dass ihm Chung Ling Soo nicht nur mehr oder weniger seinen Namen, sondern seinen Auftritt gestohlen habe; die Fehde erreichte 1905 ihren Höhepunkt, als sowohl Soo wie auch Foo zur selben Zeit in London auftraten und dabei beide eine unerklärliche Wut auf den jeweils anderen zeigten, was ihnen an der Eintrittskasse alles andere als schadete. Um seine Aura zu pflegen, sprach Chung Ling Soo während seiner Auftritte kein Wort; Teil der Vorstellungen war, dass er Rauch ausstieß und Fische aus der Luft fing.

Zwischen 1901 und 1918 trat Soo in Theatern wie dem Empire in Swansea, dem Olympia in Shoreditch, dem Palace in Camberwell, dem Empire in Ardwick Green und dem Royal Hippodrome in Preston auf, aber das unvergessliche Ende seiner Karriere ereilte ihn auf der Bühne des Empire im Londoner Stadtteil Wood Green, als sein berühmter Trick, eine Kugel mit den Zähnen aufzufangen, nicht so ganz wie geplant funktionierte. Diesmal feuerte seine Waffe nämlich eine scharfe Kugel statt einer Platzpatrone ab, und so waren, wie Soos Biographen anmerken, seine ersten Worte auf der Bühne zwangsläufig auch seine letzten: »Da stimmt was nicht – Vorhang!« Unter den Einzelpositionen der Bloomsbury-Auktion waren auch Briefe von Assistenten und Freunden Soos, die behaupteten, er sei im Hinterhof des Hotels Fox im englischen Birmingham geboren und sein Tod sei möglicherweise kein Unfall gewesen. »Wir, die wir Robinson kannten«, schrieb ein Mann namens Harry Bosworth, »sagen, dass er ermordet wurde.«


Die britische Geheimwaffe: Val Walker plant seinen Ausbruch.

Aber das Glanzstück der Auktion umfasste das Radium-Girl, das Aquamarin-Girl, Carmo und seinen verschwindenden Löwen, das Durch-die-Wand-Gehen und die Anfänge des Zersägens schlanker Assistentinnen – Stücke mit Bezügen zum Leben von Val Walker. Walker, der den Namen Valentine annahm, weil er am 14. Februar 1890 geboren war, war seinerzeit ein Bühnenstar. Man kannte ihn als »den Zauberer der Navy«, weil er während des Ersten Weltkriegs unter Wasser aus einem verschlossenen Metalltank ausgebrochen war (ein Kunststück, das er 1920 in der Themse wiederholte, unter den Augen von Polizei- und Militärdienststellen sowie 300 Pressevertretern). Kaum dass er sich abgetrocknet hatte, erhielt er Auftrittsangebote aus aller Welt. In der Folgezeit entkam er aus Zellen in Argentinien, Brasilien und laut Informationen zum Auktionslos aus »diversen Gefängnissen in Spanien«.

Walker war der David Copperfield seiner Zeit. Er trat in Shows in Maskelyne’s Theatre of Mystery auf, gleich neben dem Funkhaus der BBC, dem damals (und vielleicht überhaupt) berühmtesten europäischen Zaubertheater, wo er sein Publikum mit blitzschnellen Ausbrüchen aus Handschellen, Zwangsjacken und einem drei Meter langen U-Boot überraschte, das in einem Glasaquarium auf der Bühne versenkt lag. Und dann war da jener Trick, mit dem sich Walker einen Platz in der Geschichte der Zauberei sicherte: das Radium-Girl. Eine Frau begibt sich in eine Kiste, wird entweder zersägt oder mit Schwertern durchbohrt und entsteigt der Kiste anschließend auf wunderbare Weise völlig unversehrt. Walkers Bedeutung für diesen Trick ist grundlegend; man nimmt an, dass er ihn 1919 erfand, selbst die Kiste baute und die nötigen Ablenkungen des Publikums durch Gesten und Redeschwall entwickelte, woraufhin diese Nummer zum Höhepunkt seiner Show wurde.

Den Trick kennen wir seit 95 Jahren von der Bühne oder aus dem Fernsehen: Dem Publikum wird eine leere Kiste auf Standfüßen gezeigt, man schlägt kräftig gegen die Seiten und den Boden, eine Assistentin klettert hinein und wird in Ketten gelegt, dann wird die Tür verschlossen und in vorgebohrte Löcher werden Messer oder Stäbe geschoben, gefolgt von Blechen, die die Frau in drei Teile zu schneiden scheinen. Wir, die wir mit Zynismus und Trickfotos aufgewachsen sind, geben uns heute von dergleichen gelangweilt, aber seinerzeit machte das Radium-Girl was her. Anschließend zieht man die Bleche und Stäbe und Schwerter (natürlich) alle heraus, die Tür wird geöffnet, die Ketten gelöst, und die lächelnde Frau ist noch heil.

Dann aber geschah etwas noch Dramatischeres: Walker begann sich zu langweilen. Auf Tour zu sein ermüdete ihn. Allmählich wurde er neidisch auf den Ruhm und das Geld, die Leute ernteten, welche er für weniger begabt hielt, unter ihnen Harry Houdini. Und so hörte Walker eines Tages einfach auf. Wie man es von ihm erwarten konnte, war sein Verschwinden aus der Berufswelt ein eindrucksvoller Akt: 1924 gab er seine Mitgliedschaft im Magischen Zirkel auf, begann wieder als Elektroingenieur zu arbeiten, zog mit seiner Frau Ethel nach Canford Cliffs, einem Vorort von Poole in Dorset, bekam einen Sohn namens Kevin und wurde nie wieder auf einer Bühne gesehen. Gut für ihn, denkt man sich, aber schlecht für die Zauberei.


Der Radium-Girl-Trick.

Ende September 1968, mehrere Jahrzehnte nach seinem Rückzug aus der magischen Kunst, trat Walker ein letztes Mal bei einer Tagung in Weymouth auf. Doch er kam als Fan, nicht als Star, und er hatte einen bestimmten Grund, dort zu sein, denn er wollte ein letztes Mal das Radium-Girl in Aktion sehen. Der Zauberer war ein Mann namens Jeff Atkins, und in diesem Sommer hatte Walker extra für ihn in seinem Garten eine neue Kiste gebaut. Und tatsächlich war es ein Abgesang: Sechs Monate später starb Walker an einer fortschreitenden chronischen Krankheit (wahrscheinlich Krebs) und nahm viele seiner Geheimnisse mit ins Grab.

Aber nicht alle. Einige seiner Briefe haben überlebt und sind die Quellen für einen Großteil des Materials, das Sie gerade gelesen haben und das einer Durchsicht der Unterlagen am Tag vor der Versteigerung bei Bloomsbury Auctions entstammt. Walkers Briefe liefern uns Nachrichten über seine großen Unterhaltungskunststücke, zeugen aber auch von einem Privatleben, das er anscheinend bescheiden, gesittet und mit viel Rücksicht auf andere geführt hat.

Je mehr ich darin las, desto mehr wollte ich wissen. Ein paar Tage genügten – von dem Moment, als ich Walkers Namen online im Auktionskatalog sah, bis zum Überfliegen dieser Überreste seines Lebens beim Besichtigungstermin vor der Auktion –, damit ich in den Zauber eines Mannes geriet, von dem ich nie zuvor gehört hatte.

Und mich hatte ein Wort in den Bann geschlagen, das er in seinen Briefen mehr als nur einmal gebrauchte: sein »Milieu«, eine Welt, deren mitreißender Schwung auf Täuschung, Augenschein und Geheimhaltung beruht. Jetzt aber öffneten mir die Briefe die Tür zu dieser Welt.

Val Walkers Briefwechsel, belanglos und tiefsinnig zugleich, machte das mit mir, was das Briefeschreiben so lockend, überzeugend und zuverlässig seit über 2000 Jahren getan hat – er packte den Leser mit einer entwaffnenden Mischung aus Bekenntnissen und Gefühlen, ja Aufrichtigkeit (denn ich hatte keinen Grund, etwas anderes zu vermuten, trotz des Themas). Seine Briefe hatten ihm etwas verschafft, was seine einstigen spiritistischen Kollegen als Medium für Geister nicht gekonnt hatten – einen neuen Freund aus der Zukunft. Die jetzt versteigerten Ordner brachen nicht nur eine Subkultur auf, die im alles bemäntelnden Lauf der Zeit immer geheimnisvoller wurde, sie stellten auch eine Fundgrube beiläufiger persönlicher Details dar, die in anderem Zusammenhang an eine Verletzung der Privatsphäre grenzen würden. Da saß ich in diesem Auktionsraum und fragte mich: Was sonst hätte eine Welt und die Rolle eines Individuums in ihr so direkt, so intensiv und so unwiderstehlich wiederbringen können? Nichts außer Briefen.


Briefe haben die Macht, unser Leben zu erweitern. Sie enthüllen Motive und vertiefen das Verständnis. Sie sind Beweisstücke. Sie ändern Lebensläufe und schreiben die Geschichte um. Früher beruhte die Welt auf ihrer Übertragung – sie waren das Öl im Getriebe des menschlichen Miteinander, ein steter Fluss für das Wesentliche und das Beiläufige, für die Zeit, wann wir zum Abendessen kamen, den Bericht, wie wunderbar unser Tag war, das volle Gewicht der Liebesfreuden und -schmerzen. Es schien undenkbar, dass man ihren Wert je für selbstverständlich halten oder vom Tisch wischen könnte. Eine Welt ohne Briefe wäre gewiss eine Welt ohne Sauerstoff.

Dies ist ein Buch über eine Welt ohne Briefe oder zumindest über die Möglichkeit einer solchen Welt. Es ist ein Buch darüber, was wir verloren haben, indem wir Briefe durch E-Mails ersetzt haben – die Post, den Umschlag, einen Stift, ein langsameres Summen des Gehirns, den Gebrauch unserer ganzen Hand und nicht nur unserer Fingerspitzen. Es ist ein Loblied auf das, was vor uns kam, und den Wert, den wir auf das Schreiben, kluge Ideen und auf Vorausdenken legen. Ich habe den Eindruck, es könnte auch ein Buch über die Liebenswürdigkeit sein.

Die Digitalisierung der Kommunikation hat dramatische Umbrüche in unserem Leben bewirkt, ihr Einfluss auf das Briefeschreiben aber – der so allmählich und so grundsätzlich wirkt – ist an uns vorbeigezogen wie der kurze englische Sommer. Etwas, das für unser ökonomisches und emotionales Wohlbefinden seit dem alten Griechenland entscheidend war, beginnt seit zwei Jahrzehnten langsam zu verdunsten; noch zwei weitere, dann wird das Anlecken einer Briefmarke der künftigen Generation so antiquiert erscheinen wie ein Schaufelraddampfer. Sie können immer noch per Schaufelraddampfer reisen und Sie können immer noch Briefe verschicken, aber warum sollten Sie, wenn die Alternativen so viel schneller und bequemer sind? Dieses Buch ist ein Versuch, die Frage mit einem »Darum« zu beantworten.

Dies ist kein Buch gegen die E-Mail (wozu auch?). Es ist kein Anti-Fortschritts-Buch, denn das hätte man auch schreiben können, als der Telegraf oder das Festnetztelefon kam; keins von beiden hat dem Briefeschreiben so zugesetzt, wie das vorausgesagt wurde, und sicher nicht so sehr wie die E-Mail. Hinter diesem Buch steht ein einfacher Antrieb: das Geräusch – und ich ringe immer noch mit Worten, die es beschreiben, diesen dünnen blauen Hauch von einem Luftpostbrief, das protzige Gewicht einer Einladung mit beiliegender Bitte um Antwort, den Laut eines kurzen Dankschreibens, der an ein unterdrücktes Niesen erinnert –, das der Brief erzeugt, wenn er auf die Fußmatte fällt. W. H. Auden hatte ganz recht. Das Romantische der Post und der Nachrichten, die sie bringt, die alles verwandelnden Möglichkeiten – nur die Ankunft eines Briefes winkt uns mit stets sich erneuerndem Glauben. Der Posteingangsordner mit dem Schuhkarton verglichen: Nur einen von beiden werden wir schätzen, horten, mitnehmen, wenn wir umziehen, oder vergessen, so dass er gefunden wird, wenn wir nicht mehr da sind. Sollte unsere persönliche Geschichte, der Beweis für unsere emotionale Existenz, irgendwo in den Weiten Amerikas auf einem Server in der Cloud wohnen (in einer Lagerhalle mit stählerner Haut) oder sollte sie da wohnhaft sein, wo sie es schon immer gewesen ist, verstreut unter unseren Habseligkeiten? Dass sich E-Mails schwerer archivieren lassen und doch eine gepixelte Dauerhaftigkeit besitzen, ist ein Paradox, mit dem wir gerade erst zu ringen beginnen. Aber werden wir jemals strahlend lächeln, wenn wir einen E-Mail-Ordner öffnen? E-Mails sind ein freundlicher Schubs, aber Briefe sind eine Liebkosung, und Briefe kleben an uns und am Ort, sie warten auf eine Neuentdeckung.

Es gibt eine Geschichte über Oscar Wilde. Wenn er zuhause in der Tite Street in Chelsea war, schrieb er einen Brief (das heißt, wenn man sich seine Handschrift anschaut, trifft es »hinwerfen« wahrscheinlich eher), und weil er so genial und mit Genialsein ausgelastet war, machte er sich nicht die Mühe, ihn zur Post zu bringen. Stattdessen klebte er eine Marke darauf und warf den Brief aus dem Fenster. Er war sich einigermaßen sicher, dass irgendein Passant den Brief sah, annahm, dass ihn jemand aus Versehen hatte fallen lassen, und ihn in den nächsten Briefkasten warf. Wenn wir das alle täten, würde es nicht funktionieren, wohl nur jemand wie Wilde hatte die dafür nötige unbekümmerte Zuversicht. Wie viele Briefe es nicht bis zum Briefkasten und zum Adressaten schafften, werden wir nie erfahren, aber wir können ziemlich sicher sein, dass – hätte die Methode nicht funktioniert oder wären zu viele Briefe liegen geblieben, weil sie im Dreck landeten – Wilde damit aufgehört hätte. Und es gibt eine Menge Briefe aus der Tite Street und von anderen Adressen, die ihn überlebt haben und heute tüchtige Auktionspreise erzielen. Diese Geschichte hat keine echte Moral, aber immerhin zeichnet sie ein recht lebendiges Bild des spätviktorianischen London: die Pferdegespanne auf dem Straßenpflaster unterm Fenster, die Hektik, das Hofgeklapper und das Geplauder, und dazwischen jemand, der wahrscheinlich einen Hut trägt, einen Brief aufhebt und anständigerweise seiner Bestimmung zuführt, weil der Gang zum Briefkasten Teil des tagtäglichen Gesprächs war.1

Briefen haftet eine Form von Integrität an, die anderen Arten der schriftlichen Kommunikation abgeht. Das mag damit zu tun haben, dass buchstäblich Hand angelegt wird – beim Schreiben oder selbst dem Einspannen des Papiers in die Schreibmaschine, mit der Anstrengung, es gleich beim ersten Mal richtig zu machen, dem Sich-Konzentrieren. Aber ich denke, es hängt auch mit der Art der Übermittlung zusammen, mit dem Wissen, was mit dem Brief geschieht, wenn er verschlossen ist. Wir wissen Bescheid, wo wir ihn einwerfen müssen, in groben Zügen auch, wann er abgeholt wird, wissen, dass er aus einem Postsack geschüttelt, sortiert, in einen Lastwagen, Zug oder Ähnliches geladen wird; und dann geschieht am anderen Ende dasselbe in umgekehrter Reihenfolge. Wohin eine E-Mail geht, wenn wir auf »Senden« drücken, davon haben wir keine Ahnung. Wir könnten ihren Weg nicht einmal dann nachverfolgen, wenn es uns wichtig wäre; letzten Endes ist es nur eine weitere Form, sich in Luft aufzulösen. Kein Mensch in einem stinkigen braunen Arbeitsanzug nimmt bei der Adressermittlung für unzustellbare E-Mails müde einen Anruf entgegen. Kommt eine nicht an, schicken wir sie einfach nochmal. Aber sie kommt fast immer an, ohne irgendeinen Hinweis auf menschliches Reisen. Der Postbote durch den Äther ist anonym und geruchlos, er befördert weder Poststempel noch Kratzer noch Knicke mit. Die Assistentin steigt in eine Kiste und klettert ohne jede Schramme wieder heraus. Die Mühe ist dahin und mit ihr einiges von der Mühe Lohn.


Oscar Wilde schreibt 1888 an Mrs. Wren.

Über einige Arten dieses Lohns wollte ich ein Buch schreiben. Es sollte einen kurzen Blick auf einige der großen Briefwechsel der Vergangenheit enthalten, ein bisschen Postgeschichte untermischen, darüber nachdenken, wie wir in unserem Leben Briefe schätzen, sammeln und archivieren, und einen Blick darauf werfen, wie wir früher strikt angewiesen wurden, derartige Dinge zu schreiben. Und ich brannte darauf, denen zu begegnen, die sich so ähnlich wie ich für Briefe begeisterten, manche so sehr, dass sie versuchten, sie wieder populär zu machen. Hauptsächlich ging es mir um Privatbriefe, weniger um Geschäftskorrespondenz oder offizielle Schreiben, obwohl beide viel über unser Leben verraten können. Die Briefe in diesem Buch sind von der Art, die das Herz schneller schlagen lassen kann, die häufig – um Audens vielgeliebte Worte zu zitieren – »Freude vom Mädchen und vom Jungen« einfängt.

Ich hatte nicht den Ehrgeiz, eine umfassende Geschichte des Briefeschreibens zu verfassen, und bestimmt wollte ich keine letztgültige Sammlung großer Briefe in Angriff nehmen (die Welt ist zu alt, um so einen Brocken unterzubringen, und hat dafür nicht Regalraum genug; das wäre, als wollte man alle Kunstwerke der Welt in einer Gemäldegalerie sammeln). Sehr wohl aber wollte ich Applaus für einige jener Briefe spenden, denen es gelungen ist, eine vergleichbar enorme Aufgabe zu meistern – die Kunst, auf nur einer Seite eine ganze Welt einzufangen. Dieses Buch über Briefe! beginnt seine Reise im römischen Britannien, der Heimat einiger der ältesten Briefe, die wir kennen, mit der Entdeckung, dass die antike Methode, einen Brief zu beginnen und zu beenden – Anrede und Grußformel –, dieselbe ist, die wir noch 2000 Jahre später verwenden. So besonders viel hat sich der Brief in der ganzen Zeit nicht verändert. Jetzt aber laufen wir möglicherweise Gefahr, zuzulassen, dass er unwiederbringlich verschwindet.


Die Auktion fand an einem herbstlichen Donnerstag statt, nur einige Wochen nach dem Ende der Olympischen Spiele. Einige Meter vom Auktionssaal entfernt standen die Leute Schlange, um im Apple Store in ihre E-Mails zu gucken. Ganz in der Nähe, in der Bond Street, liegt Smythson, das todschicke Schreib- und Lederwarengeschäft. Seine künstlerische Leiterin Samantha Cameron, die Frau des Premierministers, war vermutlich befragt worden, als es um den Schaufensterplatz einer 50 Pfund teuren Schachtel voller Notizzettel mit indischem Elefantenmotiv im Stil des britischen Empire ging, eines der vielen Stücke im Laden, die die Eleganz im Wettlauf gegen den Touchscreen am Leben erhalten.

Aber mitten zwischen diesen Symbolen des Neuen und des Alten stand etwas Zeitloses. Wie ein guter Roman verspricht auch ein Auktionshaus Flucht aus der Realität, Dramatik und Enthüllungen und außerdem die Aussicht auf eine höhere Wahrheit. Daneben verspricht es natürlich ein Geschäft, die Aussicht, ein stolzer Besitzer zu werden, auf der einen Seite und die auf Profit auf der anderen – eine Gleichung, die so alt ist wie der babylonische Marktstand. Gelegentlich bietet uns eine gute Auktion außerdem echte Geschichte und biographische Einblicke, vielleicht sogar ein Verständnis für das Leben, das uns bisher verwehrt geblieben ist. Die Zaubertrickauktion war eine dieser Gelegenheiten. Wie sonst könnte man sich an diese verblüffenden Menschen in einer Zeit erinnern, in der sich Zaubertricks hauptsächlich auf Las Vegas und Bar-Mizwa-Feiern beschränken? Im digitalen Zeitalter sind Illusionisten einfach nicht mehr so gefragt, nicht nur, weil es so viele andere Arten gibt, seine Freizeit zu verbringen, sondern weil das Internet die Geheimfächer der Magie schon lange offengelegt hat. Die Illusionisten haben sich gezwungen gesehen, Menschen der Postmoderne zu werden, so wie die meisterlichen Showtalente Penn & Teller Tricks vorführen und gleich danach enthüllen, wie sie das gemacht haben, im Vertrauen, dass der Abstand zwischen dem Wissen und der Fähigkeit, es in die Tat umzusetzen, ihren Beruf noch eine Zeit lang sichern wird.

Aus Walkers Briefen erfuhr ich, dass sich das Mädchen in dem Radium-Girl-Trick hinter einer Platte versteckte, ehe die Klingen hindurchfuhren, und dass die Kiste tiefer war, als wir sahen, aber das machte aus mir noch keinen Magier. Ich war nicht besonders interessiert daran, wie die Tricks gemacht wurden. Ich war daran interessiert, wer sie gemacht hatte und warum und wie diese Menschen ihr Leben verbrachten. Als der Tag der Auktion kam, war ich entschlossen, Walkers Briefe zu ersteigern, also tauschte ich an diesem Donnerstagnachmittag meine Kreditkartendaten gegen ein Bieterschild aus Pappe und saß mitten im Saal, während die Nummern der Auktionslose dem meinen entgegeneilten.


Walker in einer Zwangsjacke.

Zuerst standen Bücher zum Verkauf. Mit Magie hatten sie nicht viel zu tun, oder nicht direkt. Da gab es Dodgson, Charles Lutwidge, seinen Lesern besser bekannt als Lewis Carroll, Alice im Wunderland, 1930, Black Sun Press, Vorsatz oben leicht eingerissen, Schutzumschlag Glassin, Ecken und Rückenenden bestoßen, Schätzwert 4000–6000 Pfund – nicht verkauft. Da gab es Wilde, Oscar, Das Bildnis des Dorian Gray, erste Buchausgabe, 1891, Erstauflage mit Druckfehler auf S. 208 (»nd« statt »and«), nachgegilbt, Ecken bestoßen, Schätzwert 750–1000 Pfund, verkauft für 700 Pfund.

Als die Magie an der Reihe war, kam ein Name immer wieder, wie gezinkte Asse. Bayard Grimshaw, der 1994 gestorben war, war der Empfänger zahlreicher Briefe aus der Auktion, und er schien einer der wenigen Supergroupies der Zauberwelt zu sein. Er war Magiekorrespondent für World’s Fair, die Wochenzeitung für Showkünstler, und freundete sich mit vielen Stars der Zauberkunst an.

Vielleicht weil er eine Marktlücke und ein leichtgläubiges Publikum entdeckt hatte, wurde er auch selbst zum Darsteller und pries zusammen mit seiner Frau Marion eine Gedankenlesenummer an. Dadurch brachte er es zur Kennerschaft als Illusionist, gewann das Vertrauen des Magischen Zirkels und häufte einen großen Schatz an Kuriositäten und Briefen an. Vielleicht dachte er, sie würden eines Tages viel wert sein.

Als eifriger Sammler – Briefmarken, U-Bahn-Pläne, der übliche Bodensatz bei Männern – war ich schon bei einigen Auktionen gewesen, aber keine war so schlecht besucht gewesen wie diese. Als die Bücher verkauft waren, waren wir noch ungefähr 15, und die Hälfte davon erkannte ich von der Besichtigung am Vortag wieder. Die meisten, die wegen des Buchangebots teilgenommen hatten, hatten sich verlaufen, und obwohl sich einige andere per Telefon und online zu uns gesellten, kletterten die Preise selten über den oberen Schätzwert, was mich hoffen ließ. Und die, die anwesend waren, schienen mehr an den Requisiten und eigentlichen Tricks als an Dokumenten interessiert.

Doch gerade als ich langsam die Zuversicht spürte, dass ich die Walker-Briefe zum Schnäppchenpreis oder zumindest irgendwo um den unteren Schätzwert von 300 Pfund herum bekommen würde, gingen die ersten paar Stücke zum Drei- oder Vierfachen ihres Schätzwertes weg und eine Handvoll für über 1000 Pfund. Eins davon war eine Sammlung von Kartentricks, die ältesten darunter von 1820, jede Menge »Trickdecks«, »Karten mit beweglichen Symbolen« und »Wasserfall-Misch«-Blättern, lauter so verlockende Namen, dass ich meinem Drang widerstehen musste, sie spontan zu kaufen.

Das schlicht »Hellseher« betitelte Los war eine Briefsammlung, die sich aufs Gedankenlesen bezog, und enthielt die genaue Beschreibung eines Tricks, den der Große Nixon vorführte, und dazu einen Brief von 1938, der bemerkte, der Große Nixon sei ein solches Phänomen, dass er eine Untersuchung im Labor verdient haben könnte. Natürlich war der Große Nixon ein Schwindler und nur so groß wie sein verdeckter Handlanger im Publikum. Aber der Reiz der Künstler in dieser Zeit war dermaßen groß, dass ich mir ein Publikum vorstellen konnte, in dem nur wenige bereit waren, nicht daran zu glauben; sie wollten, dass der Trick kein Trick war, sondern Zauberei. Die Welt hielt 1938 drohende Schrecken genug bereit, warum also zynisch sein, wenn man fasziniert sein konnte? Es war nicht so wie heute, da die Zauberei nur ein Trick sein kann und das Vergnügen nicht in der Illusion liegt, sondern darin, dahinterzukommen.

Die Auktion zog sich hin und erreichte mehrere Lose, in denen Madame Zomah sowie sieben Briefe über die Piddingtons vorkamen.2 Es war sicher nur eine Frage der Zeit, ehe auch noch Henry das Pferd einen Walzer tanzen würde. Aber dann war es Zeit für mich, Los 512. Die Gebote kamen langsam. Niemand interessierte sich noch für das Radium-Girl, geschweige denn das Aquamarin-Girl. Doch dann kam die Sache in Schwung. Das Gebot stand bald bei 200 Pfund. Ich hatte mir und meiner Frau versprochen, dass ich nicht über 400 gehen würde. Der Preis kletterte auf 260, dann 280. Inzwischen war ich so besessen, dass ich zwischen meinen Geboten nicht einmal die Hand senkte, wenn ein höheres Gegengebot einging. Ich machte einfach nur weiter. Ich wusste nicht einmal, gegen wen ich bot – gegen eine anonyme Stimme am Telefon, das ein Mitarbeiter des Auktionshauses hielt. Dann hörten die Gebote auf und ich war der letzte Interessent. Der Hammer fiel bei 300 Pfund ohne jede Reaktion, ohne Leute, die nach Luft schnappten, ohne Beifall; bloß ein weiteres verkauftes Los, und gleich ging es weiter zu Los 513. Ich aber hatte triumphiert: Ich hatte seine Briefe und seine Briefe hatten mich.

Als ich sie nach Hause geschafft hatte, las ich noch einmal, wie man ein Mädchen zersägt (eine Trickkiste, eine sehr gelenkige Assistentin, ein paar elektronisch gesteuerte Füße am einen Ende), und außerdem, wie man es so aussehen ließ, als wäre ein Schrank kleiner, als er war (schwarzes Band, ein schlau gewählter Winkel zum Publikum, eine Assistentin, die ihren Bauch richtig tief einziehen kann). Aber nicht alles Wissen lässt sich aufschreiben, und die Kunst der Zauberei lässt sich im Gegensatz zu einer bloßen Erklärung nicht lehren, sondern will gelernt sein, von Vorbildern und durch knallhartes, stundenlanges Üben. Eine ausführliche schriftliche Erklärung wäre nicht nur ein Bruch des Ehrenkodex der Zauberei, sondern als ob man jemandem das Cockpit eines Flugzeugs zeigte und dann erwartete, dass er fliegt. Manchmal jedoch enthielten die Briefe eine Portion geschliffenen Redeschwall für die Bühne:

Heute möchte ich Ihnen einen der fantastischsten Tricks zeigen, die Sie wohl je zu Gesicht bekommen werden. Hinter diesem Vorhang haben wir eine sehr merkwürdig aussehende Telefonzelle. An ihrem Inneren ist nichts Besonderes. (Öffnen und zeigen.) Außer dass kleine Löcher durch den Deckel und den Boden gebohrt sind. Honey [Miss Honey Duprez] steigt jetzt in die Kiste und wir fädeln die Seile durch diese Löcher nach draußen. (Musik, während man das macht. Mikro zurück auf den Ständer stellen. Nach dem Durchfädeln Mikro wieder nehmen.) Wir werden jetzt eine Reihe völlig unmöglicher Effekte versuchen. Wahrscheinlich bemerken Sie in diesem Laden heute eine besondere Feststimmung … Der Manager hat Geburtstag. Er hat gerade die 25 vollgemacht … Und das sogar schon zum zweiten Mal.

Man steckt Metallklingen und ein Holzrohr mit quadratischem Profil von 45 Zentimeter Länge durch die Mitte der Telefonzelle und scheinbar auch von Honey Duprez.

Rohr und Klingen in umgekehrter Reihenfolge herausziehen und fest gegen die Rückwand hauen. Kiste einmal drehen, damit Mädchen Zeit hat, Knoten einzusammeln und zu verstecken. Dann mit zielstrebigen Bewegungen die drei Riegel wegstoßen und Kiste aufziehen. Mädchen klettert raus. Sie nach vorn kommen und verbeugen lassen. Dann ihre Stelle einnehmen und sich selbst verbeugen.

Aber die Tricks waren alt und heute fast nicht mehr vorführbar; sie gehörten in ein Museum in Las Vegas. Die Beschreibungen erinnerten mich an ein altes Lied, das Clive James zusammen mit Pete Atkin schrieb, »The Master of the Revels«; darin hat ein Showkünstler in seinem Büro Blaupausen »des ersten explodierenden Händedrucks« und »die Skizze der Flugbahnen fliegender Torten«. Wo ist Honey geblieben? Wo diese Telefonzelle?


Ein trickreiches Urteil: 1966 greift der Magische Zirkel ein.

Wenn sie nicht gerade die einstigen Karrieren und verlorenen Illusionen anderer betrauerte, beschäftigte sich das Gros von Walkers Korrespondenz damit, seine eigenen zu verteidigen. Als er am Ende seines Lebens zurückblickte, machte er sich Sorgen um seinen Ruf und darüber, ob man an seine Kistentricks denken würde, wenn er einmal nicht mehr war. Walker hatte gehört, dass ein junger Magier inzwischen einen Trick mit einem tiefen Schrank vorführte, der verdächtig dem des Radium-Girl ähnelte, und dass ihm ein anderer Magier diesen Trick geliefert hatte. Ohne die fragliche Nummer gesehen zu haben, kam Walker zu der Überzeugung, dass das Patent für seine Illusion – das er 1934 hatte eintragen lassen – verletzt wurde.

Es wurde eine richtige Schlacht; fast ein Jahr lang flogen die Briefe hin und her. »Ich fürchte«, schrieb John Salisse, der Sekretär des Magischen Zirkels, »die Sache könnte sich zu einem Großbrand entwickeln.« Im selben Maße, wie die Briefe sich aneinanderreihten, kamen die Geheimnisse des Tricks zum Vorschein. Ein sachkundiger Zeuge behauptete, Walkers Fall sei aussichtslos, »es sei denn, Sie behaupten, dass die ganze Idee, einen lebenden Menschen zu durchbohren, mit Ihnen angefangen hat.« Ich spürte einen Anflug von Trauer, wie ich von den Feinheiten der Kunst las und von der vielen Arbeit, die in jeder Illusion steckt. Ich spürte, dass große Magier eigentlich nicht einfach so verschwinden durften.

Im Herbst 1968 kehrte Val Walker kurzzeitig ins Rampenlicht zurück. Er besuchte einen Magierkongress in Weymouth, wo er zusah, wie ein Mann namens Jeff Atkins zum letzten Mal das Radium-Girl vorführte. »Ich weiß nicht mehr, ob es 1921 oder 22 war, als ich das Original in Maskelynes Werkstatt unter der Bühne baute«, schrieb er. »P. T. Selbit sah sich das während der Proben an und fragte mich irgendwann später, ob ich was dagegen hätte, wenn er die Grundidee für einen anderen Effekt verwendete, und das hatte ich natürlich nicht. Was herauskam, war sein Eine-Frau-Zersägen, das dieselben Abmessungen für die Kiste vorsah. Die Unmenge an Variationen dieses Themas, die das Publikum während der vergangenen paar-und-vierzig Jahre hat schlucken müssen, hat mich betrübt und gleichzeitig amüsiert. Ich glaube nicht, dass während dieser langen Zeit meine Version einer Durchbohrung übertroffen worden ist.«

Der magischen Wochenzeitschrift Abracadabra teilte Walker mit, dass er sich nach seiner Rückkehr in den Schoß der Familie schon auf den Kongress in Scarborough im nächsten Jahr freue. Aber soweit kam es nicht. Seine Briefe zeigen eine fortschreitende Krankheit: »Ich weiß nicht, ob ich teilnehmen kann …« »Vielleicht kann ich Sie nicht treffen, so sehr ich mich auch bemühe.«

Einige Tage vor seinem Tod schrieb er seine letzten Briefe aus einem Krankenhaus an der Südküste Englands. In einem davon vermerkte er gegen Ende, er sei zu »erreichen unter der obigen Adresse«. Tatsächlich ausgeschrieben hat er das Wort »at« (für »unter«) aber nicht. Stattdessen verwendete er im Februar 1969 – mehr als zwei Jahre vor dem, was weithin als erste Standard-E-Mail zwischen zwei Computern gilt – ein altes, aber gemeinhin ungewöhnliches Zeichen dafür. Das Zeichen war @.

1 Das eigenwillige Briefsystem von Oscar Wilde kann man kaum erwähnen, ohne auch jenen überschwänglichen Brief zu nennen, den er nicht abschicken konnte. De Profundis, geschrieben auf zwanzig Blatt Papier in den letzten Monaten vor Wildes Freilassung aus dem Zuchthaus von Reading im Mai 1897, ist eine Studie über Leid, Schönheit und die Lage als Ausgestoßener und beginnt mit reuevollen Klagetönen: »Lieber Bosie, nach langem, fruchtlosem Warten habe ich mich entschlossen, meinerseits an Dich zu schreiben, so sehr um Deinet- wie um meinetwillen, da ich nicht gern denken möchte, ich hätte zwei lange Jahre der Gefangenschaft verbracht, ohne je eine einzige Zeile von Dir empfangen zu haben …«

Es folgt der Bericht vom Leben eines Ästheten, der nichts bereut – seine Suche nach dem Erlesenen in allen Dingen, seine extravagante Lebensweise, seine abenteuerlichen Momente der Leidenschaft mit Lord Alfred Douglas – sowie ein Bericht über die künstlerischen Tröstungen eines Christus geweihten Lebens. Da Wilde den Brief aus dem Gefängnis nicht abschicken konnte, übergab er ihn bei seiner Freilassung seinem Freund Robbie Ross mit der Anweisung, ihn zweimal abzutippen, wobei einige Passagen falsch gelesen oder ausgelassen wurden. Der Urtext liegt im British Museum, wo wir die saftige Tiefe seiner Sprache und die ruhige Gewissheit seiner Überzeugungen bestaunen dürfen.

»Ich habe von mir gesagt«, schreibt Wilde, »dass ich einer war, der in symbolischen Beziehungen zur Kunst und Kultur meiner Zeit stand. Es gibt an diesem elenden Ort nicht einen elenden Mann neben mir, der nicht in symbolischer Beziehung zum Geheimnis des Lebens selbst steht. Denn das Geheimnis des Lebens ist Leiden, das ist es, was hinter allem verborgen liegt. Wenn wir zu leben beginnen, dann ist, was süß ist, für uns so süß, und was bitter ist, so bitter, dass wir unweigerlich all unser Verlangen auf die Freuden richten und nicht allein nach ›einem Mond oder zwei’n, von Honigseim genährt‹ [Zitat aus A. C. Swinburnes Gedicht Before Parting, A. d. Ü.] suchen, sondern all unsere Jahre lang keine andere Nahrung kosten wollen, über all dem unwissend, dass wir in Wahrheit vielleicht die Seele hungern lassen.«

2 Ein Ehepaar aus Australien, das für seine »Telepathie« berühmt war. (»Henry the Horse dances the waltz« spielt auf den Beatles-Song »Being for the Benefit of Mr. Kite!« mit seiner Liste von Zirkusattraktionen an [A. d. Ü.]).

Briefe!

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