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Fünftes Kapitel
Wie schreibe ich den perfekten Brief – Teil 1
ОглавлениеEin neuer Papst ist gewählt. Hurra für Seine Heiligkeit. Aber wie schreiben Sie ihm im Jahr 1216 über die Verwaltung Ihrer Kirche? Oder über einen schrecklichen Justizirrtum? Wie unterrichten Sie Ihren Sohn, den Studenten, am besten über die Gefahren übermäßigen Studiums? Oder warnen ihn wegen der schlimmen Dinge, die Studenten geschehen können, wenn sie ganz frisch in den Hochschulbetrieb starten?
All diese Probleme lassen sich lösen durch den Kauf des Boncompagnonus (erhältlich auch unter dem Titel Boncompagnus), eines sechsbändigen Handbuchs, das sämtliche aus dem Leben gegriffenen Beispiele, die oben aufgezählt wurden, behandelt. Es gibt noch weitere: wie man einen Stipendienantrag oder einen Empfehlungsbrief schreibt, wie man Menschen davon überzeugt, auf Pilgerschaft zu gehen, und wie man einen Brief zur Beilegung eines Ehestreits aufbaut. Außerdem konnte man lernen, wie man Gauklern etwas zu ihrem Lohn schreibt. Der Leitfaden wurde 1215 durch Boncompagno aus Signa zusammengestellt. Der Bologneser Rhetorikprofessor und Schachmeister hatte den Ruf, größenwahnsinnig zu sein1 und gern Streiche zu spielen, doch sein Briefratgeber ist die Sachlichkeit selbst, besonders wenn es um Geld und Recht geht oder wie man einen Kondolenzbrief nach einem persönlichen Verlust schreibt. Die Muster für die Beileidsbriefe, die den Abschnitt 25 im ersten Buch bilden, waren so vielfältig angelegt, dass kein Irrtum passieren konnte. Berücksichtigt wurden die verschiedenen Trauergepflogenheiten der Ungarn, der Sizilianer, Slawen, Böhmen und Deutschen, dazu die unterschiedlichen Arten, den »geistlichen und priesterlichen Segen« oder die Gewohnheiten »gewisser Provinzbewohner« zu deuten.
Welches Motiv hatte Boncompagno, einen solchen Ratgeber zu schreiben? Er hoffte, der wohlgeschriebene Brief könne dazu beitragen, die Mängel der Gesellschaft ein wenig zu beheben, wobei seine Hauptfeinde Ungerechtigkeit und Neid waren. Diese Übel, so glaubte er, ließen die Hydra ihre Zähne in einen schlagen, ein Untier, das »niemals ruht, sondern durch die Welt streift, jederart Glücksfall verfolgt, und stets versucht sie irgendetwas Ausgezeichnetes zu finden, und sollte sie ihm nicht schaden können, dann ist sie verwirrt, knurrt, kreischt, tobt, rast, verschlingt, belästigt, wird grün, wird bleich, lärmt, spürt Übelkeit, verbirgt sich, bellt, beißt, wird irre, hat Schaum vor dem Mund, wütet, kocht, faucht« und dergleichen. Aber Motiv und Wirkung sind zwei Paar Stiefel.
Alain Boureau, Experte für mittelalterliche Briefe, hat angemerkt, dass Boncompagnos Handbuch eines unserer frühesten Zeugnisse für die komplexe und sich wandelnde Hierarchie innerhalb der europäischen Gesellschaft ist; seine Klassifikation beruhte auf einer großen Vielfalt von Rängen und Stellungen, nicht bloß innerhalb der Kirche und des Adels. Briefsteller – Handbücher zum Briefeschreiben – wie dieser dokumentieren das Entstehen einer Mittelschicht und den Einfluss der Universitäten. Sie verliehen einer neuen Bevölkerungsgruppe in den Städten und Städtchen eine Stimme, die bislang weder Teil der Adels- noch der Kirchenwelt geworden war; viele von ihnen zählten zu den aufstrebenden Rechtsberufen. Bald sollten auch die Kaufleute spezielle Hilfe beim Briefeschreiben fordern.
Doch der Boncompagnonus war nicht der erste Ratgeber in der Kunst, Briefe zu schreiben. Diese Ehre sollten wir einem Mann namens Demetrios zuerkennen, Datum unbekannt, Hintergrund ungewiss. Man hat ihn vage in die Zeit zwischen dem 4. Jahrhundert v. Chr. und dem 4. Jahrhundert n. Chr. datiert, und der Demetrios, um den es hier geht, könnte Demetrios von Phaleron oder Demetrios von Tarsos sein, doch die meisten Gelehrten haben es in ihrer Verwirrung leichter gefunden, den Autor als anonym anzusehen. Aus dem originalen griechischen Werk »Über den Stil« (Peri hermeneias) trennte die Renaissance den Abschnitt über Briefe heraus und in seiner lateinischen Version wurde er zum Bestseller, als ob es sich um ein eigenständiges Buch handelte.
Klar ist damit nur, wie selbstverständlich Rat gegeben wird. Zwar ist das Themenfeld des Autors weit weniger differenziert als viele der Handbücher, die ihm später folgten, aber durch seine Allgemeinheit nutzte er allen. Er beginnt damit, den Ratschlag in Frage zu stellen, den einmal Artemon gegeben hatte, der Herausgeber der Briefe des Aristoteles, dass nämlich »ein Brief auf dieselbe Art wie ein Dialog geschrieben sein sollte«, da ein Brief eine von zwei Hälften einer Unterhaltung bilde.2 »Vielleicht liegt eine gewisse Wahrheit darin, was er sagt, aber nicht die volle Wahrheit«, behauptete Demetrios. »Der Brief sollte ein wenig förmlicher als der Dialog sein, denn Letzterer bildet eine Unterhaltung aus dem Stegreif nach, während der erstgenannte geschrieben ist und als eine Art Geschenk verschickt wird.«
Weiter bemerkt er, dass die typischen jähen Satzbrüche, die in Dialogen so häufig sind, sich nicht gut in Briefform übertragen lassen: »Abrupte Schreibweise verursacht Unverständlichkeit.« Manches können Briefe überhaupt viel besser als das gesprochene Wort. »Der Brief sollte stark im Charakterisieren sein«, vermerkt Demetrios. »Jeder schreibt einen Brief gleichsam als Abbild seiner eigenen Seele. In jeder anderen Form der Rede ist es möglich, den Charakter des Schreibers zu sehen, in keiner aber so deutlich wie im Brief.«
Aristoteles, der glaubte, man solle so schreiben, wie man spricht.
Was die Länge betrifft, sollte ein Brief »maßvoll« sein. »Diejenigen, die zu lang sind, geschweige denn zu geschwollen im Stil, sind gar keine Briefe im eigentlichen Sinn, sondern Abhandlungen mit der Überschrift ›Sehr geehrter Herr‹.« Außerdem ist es »lächerlich, in Briefen so förmlich zu sein, ja es läuft sogar der Freundschaft zuwider, die verlangt, dass man die Dinge beim Namen nennt.« Und einige Themen gebe es, für die ein Brief schlicht und ergreifend ungeeignet sei, nicht zuletzt »die Probleme der Logik oder der Naturphilosophie«. Vielmehr »ist es das Ziel eines Briefes, in Kürze Freundschaft auszudrücken und ein einfaches Thema in einfachen Worten zu behandeln. (…) Derjenige, der salbungsvolle Sinnsprüche und Ermahnungen ausspricht, scheint nicht länger in einem Brief zu plaudern, sondern von der Rednertribüne herab zu predigen.« Ein oder zwei Ausnahmen von dieser Regel ließ Demetrios allerdings gelten, etwa Briefe an »Städte oder Könige«, die etwas ausgefeilter geraten durften. »Kurz gesagt, der Brief sollte zwei Stile verbinden, den eleganten oder anmutigen und den schlichten, und damit schließt meine Behandlung des Briefs.«
Im 13. Jahrhundert, als Boncompagno seinen Ratgeber schuf, hatte sich die Vielfalt der erhältlichen Musterbriefe beträchtlich erweitert, und ihre Fülle entsprach einem Bedarf: das Briefeschreiben war nichts, was man intuitiv beherrschte. Man begann in den europäischen Schulen erst, die Kunst des Briefeschreibens zu lehren, und obwohl Cicero und Seneca kurz davor standen, wieder in Mode zu kommen, passte ihr antiker Zuschnitt nicht immer zu den Anforderungen der Gegenwart. Darum gab es zwei Möglichkeiten: den bezahlten Berufsschreiber, der einen Marktstand aufstellte, als ob er Wurzelgemüse verkaufte, oder aber die ars dictaminis, das Handbuch zur Selbsthilfe. Bald sollte die ars dictaminis eine Zwillingsschwester erhalten, die ars notariae, die sich darauf spezialisierte, Schreibratgeber für Rechts- und Vertragsangelegenheiten zu sein; ihr Hauptzweck war es jedoch, einen Leitfaden zum Schreiben »vertraulicher«, persönlicherer Briefe allgemeineren Zuschnitts zu bieten, obwohl auch sie sich immer noch stark der rhetorischen Tradition einfügten (und üblicherweise darauf ausgelegt waren, allen Anwesenden laut vorgelesen zu werden, wenn sie eintrafen).
Italien und Frankreich waren die Vorreiter und England folgte ihren Spuren, und bald gab es so viele artes, dass man kaum zwischen ihnen unterscheiden konnte, diesen kurzlebigen Selbsthilfebüchern ihrer Zeit. Den ältesten greifbaren Beistand bot ein Leitfaden des Benediktinermönches Alberich von Monte Cassino, geschrieben um 1075, während ein kurzes, anonymes Handbuch, das 60 Jahre früher in Bologna veröffentlicht worden war, zu den frühesten zählt, die detaillierte Anweisungen über die korrekten Formen der Anrede zu Briefbeginn geben, also über die salutatio, die ein fester Punkt in Etikette-Leitfäden bleiben sollte. Die wiederum schloss die benevolentiae captatio, das Sichern von Wohlwollen durch Schmeichelei, mit ein (die beste Vorgehensweise bestand darin, den Eindruck väterlicher oder brüderlicher Gefühle zu vermitteln, oder wenn das nicht ging, ein Gefühl der Kameradschaft). Ein Schüler bekommt von seinem Lehrer vielleicht was er will, wenn er bei einer Floskel bleibt wie »Dem [Name des Lehrers einsetzen], durch Gottes Gnade glänzend in ciceronianischem Zauber, bekundet [deinen Namen einsetzen], der seinem hingebungsvollen Lerneifer Unterlegene, die Knechtschaft eines aufrichtigen Herzens.« Die nächsten drei Abschnitte waren nicht weit von dem entfernt, was wir heute noch erwarten würden: die narratio (was es Neues gab), die petitio (der eigentliche Grund des Briefes) und am Ende die conclusio.
Eines der ersten dieser Lehrbücher hatte ursprünglich ein Italiener zusammengestellt, Giovanni di Bologna, ehe es eigens für den Gebrauch des Erzbischofs von Canterbury ins Englische übersetzt wurde, während Laurentius von Aquileia einige der ersten bekannten Beispiele für den »Musterbrief« erstellte, bei dem der Benutzer die Lücken in einer Schablone ausfüllt, indem er sich die nötigen Wörter aus einer Liste heraussucht. Allein die Auswahl an Empfängern deckt eine beträchtliche Spannweite ab, von Königen und Archidiakonen bis hin zu Ketzern und »falsi infideles«, wobei letztgenannte »trügerische Ungläubige« vielleicht eher eine Schlägerei in der Kneipe verdient gehabt hätten als makellose Korrespondenz.
Bald boten die Universitätsstädte Bologna und Orléans so viele verschiedene Ratgeber an, dass ihre Autoren, die Meister-épistoliers, auch dictatores genannt wurden, ein Ausdruck, der ihren überragenden politischen Einfluss unterstrich. Viele waren Mitglieder des Klerus, einige lehrten gleichzeitig an den Universitäten. Zu ihrer Zeit waren ihre Namen berühmt: Geoffroi de Vinsauf, Arnulf von Orléans, Petrus von Blois, Ludolf von Hildesheim und Konrad von Mure.
Wie es auch für die feineren Schichten der Akademikerzunft galt, schienen viele dictatores allein zum Nutzen und für die Zustimmung der übrigen dictatores zu schreiben; viele ihrer Briefschablonen schildern die meisterliche Kunst des Briefeschreibens, ein wahres Spiegelkabinett. Ein hervorragendes Beispiel bietet Hugo von Bologna in seinen Rationes dictandi aus dem 12. Jahrhundert. Nach einem getragenen, angemessen kriecherischen Anfang (»An X, einen sehr großen Gelehrten in der Wissenschaft der Briefe, einen hoch beredten Mann« usw.) betreibt der Brief ausgiebig Nabelschau: »Die Gnade Gottes hat sich nicht damit begnügt, o Meister und hoch verehrter Herr, Dich zu einem unvergleichlichen Gelehrten in den freien Künsten zu machen; sie hat Dich auch mit einer großen Gabe in der Kunst des Briefeschreibens bedacht. Dies ist es, was ein beharrliches Gerücht vermeldet, welches den Großteil der Welt erfüllt; dieses Gerücht könnte sich nicht halten, wäre es nicht wahr.«
In solchen Farben geschildert, präsentierten sich die Brieflehrer der Gesellschaft des spätmittelalterlichen Europas als beneidenswerte Mischung aus Krankenheiler und Rock-Ikone:
Wahrlich, durch das Wirken unvergleichlicher Gnade hast Du es verstanden, wie Du Deinen Schülern das, was Gott Dir zu wissen verliehen hat, viel schneller beibringst als andere Lehrer. Deshalb verlassen so viele Schüler die anderen Lehrer und eilen von allen Seiten zu Dir, so schnell sie nur können. Unter Deiner Anleitung werden die Ungebildeten augenblicklich kultiviert, die Stotterer im Nu redegewandt, die Stumpfsinnigen sogleich erleuchtet und die Krummen umgehend begradigt.3
Das Handbuch zum Briefeschreiben wandelte sich im Lauf der Renaissance beträchtlich, als der Humanismus den Einfluss Petrarcas und folglich auch Ciceros in sich aufnahm. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts finden wir dann jene moderne Art Leitfaden, die auch wir vor 20 Jahren noch als nützlich betrachtet hätten, den methodus de conscribendis epistolis. Der jüngste Meister der Kunst war Desiderius Erasmus, der begnadete niederländische Humanist, möglicherweise der größte Gelehrte seiner Zeit. Nicht nur trug er dazu bei, dass es zur Reformation kam, er fand auch die Zeit, Tausende von Abhandlungen und Briefen über nichttheologische Themen zu schreiben. Seine Schriften sahen Problemen ins Auge, die nach Seneca schmeckten: wie man sein Leben am besten leben sollte und es nicht vergeudet; einer seiner berühmtesten Texte handelte von der Dummheit. Und seine Briefe, von denen rund 1600 erhalten sind (Erasmus behauptete, mit ihrem Schreiben habe er etwa sein halbes Leben zugebracht), reichen von der rationalen Verteidigung seiner Position gegenüber neuen Lehren der Kirche und Übersetzungen klassischer Schriften bis hin zu persönlichen Angelegenheiten, wie etwa dem enttäuschenden Jahrgang des örtlichen Weins oder seiner schlechten Finanz- und Gesundheitslage (Erasmus litt unter schwerer Arthritis und musste in späteren Jahren das Schreiben einem Mitarbeiter überlassen). Und natürlich enthalten gleich mehrere Briefe das eine wiederkehrende Thema, dem wir schon begegnet sind und noch weiter begegnen werden: Erasmus schimpft Freunde und Familie aus, weil sie nicht schneller und häufiger geschrieben haben.
Als er um 1487 aus einem Kloster bei Gouda an seinen älteren Bruder Pieter schrieb, der als Mönch in der Nähe von Delft lebte, drückte Erasmus von Anfang an auf den Schuldknopf:
Ist Dir alles brüderliche Empfinden so vollständig abhanden gekommen oder ist jeder Gedanke an Deinen Erasmus gänzlich aus Deinem Herzen entflohen? Ich schreibe Briefe und schicke sie wiederholt, ich frage wieder und wieder, was es Neues gibt, ich stelle immerzu Fragen an Deine Freunde, wenn sie aus Deiner Richtung kommen, aber nie haben sie die Andeutung eines Briefes oder irgendeiner Botschaft: sie sagen bloß, es geht Dir gut. Natürlich ist das die Nachricht, die mir am willkommensten sein könnte, aber das macht Dich nicht pflichteifriger. Verstockt, wie Du bist, glaube ich, es wäre leichter, Blut aus einem Stein zu zapfen, als Dir einen Brief abzuschwatzen!
Erasmus verteilte seine Briefe über ganz Europa: er schrieb an Empfänger in London, Cambridge, Dover, Amsterdam, Köln, Straßburg, Bologna, Turin, Brüssel und Lübeck. Er glaubte, es gebe »fast kein Thema, das ein Brief nicht behandeln kann«, doch insgesamt war er ein Traditionalist und hielt es für besser, einen durchdachten Brief zu bekommen als einen spontanen: »besser (…) sollte ein Brief nach der Lampe der Studierstube riechen als nach Alkohol, dem Döschen mit Salbe und nach Achselschweiß.« Vor allem mochte er die Idee des Briefes, den materiellen Gegenstand, den Brief als die große diskursive Schablone für die moderne Welt. Wenn man einen Brief gut schrieb (was man konnte, indem man sich genau an den Rat des Humanisten hielt), dann erwies man sich garantiert als ein Mensch dieser Welt.
Erasmus’ Briefhandbuch, zusammengestellt, als er in den Jahren nach 1500 Lehrer in Paris war, behandelte einige vertraute Themen (die Klarheit und Angemessenheit des Ausdrucks), und besonders gut schrieb er darüber, dass der Schreiber vor allem vielseitig sein müsse: ein Brief solle »so eng wie möglich angepasst sein an das Thema, den Ort, die Zeit, den Empfänger; handelt er von schwerwiegenden Dingen, heißt das, er ist ernst, handelt er von mittelmäßigen Dingen, heißt das, er ist gepflegt, handelt er von niedrigen Dingen, heißt das, er ist elegant und geistreich; das heißt, er ist drängend und heftig im Ermahnen, lindernd und freundlich im Trösten.«
Doch das vielleicht bemerkenswerteste Element sowohl des Handbuchs als auch seiner eigenen Briefsammlungen, deren Herausgabe Erasmus gegen Ende seines Lebens betrieb, bestand darin, dass sie nicht für den Schreiber, sondern für die Druckerpresse formuliert waren, ursprünglich 1521 in Cambridge, ehe sie sich mittels mehrerer anderer Druckereien in Italien und Deutschland weit verbreiteten. So ironisch das auch wirken mag, die Kunst des Briefeschreibens hatte ihren größten Verbündeten in Gestalt der beweglichen Lettern gefunden. Die Maschinen behinderten die Kunst keineswegs, im Gegenteil, sie verstärkten nur ihre Bedeutung für die Geschichte und die Ideen.
Jetzt konnte man Briefe sammeln und zu Büchern binden; der Druck sicherte ihre Aufbewahrung und eine bessere Überlebenschance; die einmalige Briefsammlung, die seltenen Manuskripte in Schönschrift – sie blieben auch so für die Nachwelt die wunderbaren, unschätzbaren Dinge, die sie waren. Nun aber waren für die großen öffentlich wirksamen Denker, deren gesammelte Briefe als Geschichtsschreibung und geistige Währung zugleich galten, die Entdeckung und sichere Aufbewahrung nicht mehr so notwendig; das sollten ab sofort die Bibliotheken übernehmen. Mit der Druckerpresse kamen die gesammelten Briefe, kam auch der Gelehrte und der homme de lettres, der Schriftsteller (und binnen zwei Jahrhunderten auch die Schriftstellerin), auf. Erasmus erhob den Anspruch, seine Briefe seien nicht Geschichtsschreibung, sondern Literatur, und nun sollte für beide Künste zugleich ihre große Zeit anbrechen – und sie sollte von Dauer sein.
Schrieb sein halbes Leben lang Briefe: Erasmus im Pelz, gemalt von Holbein.
Zwei englische Verleger gaben Handbücher heraus, die schnell zu Klassikern der Volkssprache wurden, und wenn man in der Bodleian Library in Oxford die Seiten des ersten der beiden umblättert, spürt man einen scharfen Beigeschmack machiavellistischer Intrige, der früheren Leitfäden auffällig fremd ist. Die neuen Musterbriefe waren auch weiterhin vorwiegend mit Fragen der Ehrerbietung beschäftigt – die korrekte Anredeform, der stets demütige Tonfall –, jetzt aber traten neue Erwägungen hinzu: Kunstgriffe, sanftes Manipulieren, schlaue Kompromisse, Tipps, wie man Briefe einsetzen konnte, um seinen Willen zu kriegen. Cicero hatte Briefe für seine politischen Zwecke verwendet, und jetzt gab es Anleitungen, wie wir alle das konnten.
William Fulwoods The Enimie of Idlenesse (1568) war das erste in englischer Sprache veröffentlichte Bestseller-Handbuch und brachte es in den nächsten 50 Jahren zu zehn Auflagen.4 Man liest das Buch mit einem deutlichen Empfinden, wie die Bedeutung von Briefen in der Gesellschaft des elisabethanischen Englands wuchs, nicht zuletzt als Mittel, eine Gesellschaft zusammenzuschweißen; hauptsächlich aufgrund des Handels und anderer wirtschaftlicher Zwänge begannen sich die Familien weit zu verstreuen. Fulwoods Werk war die Übersetzung eines erfolgreichen französischen Ratgebers, doch der Autor achtete darauf, soviel wie möglich an Lokalkolorit und einzelnen Situationen an seine englische Leserschaft anzupassen, wenngleich er die meisten Anschriften in seinen Beispielen in Lyon oder in Paris beließ. Der größte Reiz Fulwoods liegt darin, dass er sich eingesteht, dass die meisten Briefe Antworten auf andere Briefe sind, und in dem Umstand, dass die von ihm vorgestellten hypothetischen Situationen nicht nur praktisch verwendbar sind, sondern uns auch enorm für sich einnehmen. In einem Fall entwirft er das Szenario, dass ein Vater und Kaufmann seinen Sohn im Verdacht hat, die Seidenartikel der Firma weit unter Marktwert zu verkaufen. Im ersten Brief schreibt der Vater dem Sohn:5
Wahrlich, mein Sohn, durch Dein übel Betragen wirst Du die Ursache sein, mich schleuniger, als ich’s gedacht, zu meinem Grabe zu schaffen: denn dieser Tage haben mir in dieser Stadt Lyon gar manche ehrbare Männer und Kaufleut versichert, daß alle die scharlachnen Tuche, die Du mit Dir geführet, verloren sein. Auch bin ich durch meine getreuen Freunde berichtet, dass mancherlei Damen in Lyon aufs glücklichste geputzt in unsern seidnen Tuchen einhergehn und Du von ihnen kein andern Kaufpreis habest als jenen, welchen Du heimlich des Nachts einziehest.
Dies ist die Treue nicht, die Du mir bei Deiner Abreis versprochen: daher Deine Mutter beständig weinet und Deine zwei tugendhaften und ehrsamen Schwestern ohn Unterlaß klagen. Doch sage mir, mit welchen Messern gedenkest Du wohl, dass Du die heimlichen Flecken unserer Herzen verwundest? Darum sei bereit, Dein Fehl zu bessern, wo aber nicht, so stehe Du ab, mich Vater zu nennen, und sei versichert (es sei denn, Du bereutest’s), dass Du fürder nicht meines Gutes noch Geldes irgendeinen Anteil haben sollst.
Dein sorgsamer Vater
Der Sohn antwortet seinem Vater:
Mein vielgeliebter Vater, ich bin Eures schmerzlichen Briefes zum Mißgeschicke unserer Waren beschieden. Weil Ihr aber mein Vater seid & ein weiser Vater, ist es Eures Rechts, mich ohne Anlaß zu schelten und mir zu drohen; alldieweil jenen, so selbst den Fehl nicht begangen, allewege die süße Hoffnung begleitet. Jene, so Euch berichtet, ich gäbe Eure seidnen Tuche den Frauen von Lyon, haben’s vielleicht übel aufgenommen, daß ich ihren Weibern nicht auch ein Stück Seidentuches gegeben, und mögen wohl leicht für nichts geachtet haben, sich zu fragen, von wannen die Kleider gekommen, so daß sie ihrer Federn sparen könnten.
Daher ich Euch anflehe, mein teurer Vater, seid getrost & froh: denn ich verprasse nicht Eure Güter, sondern ich verhandle sie Weibern und Männern zugleich. Ich sende Euch durch unsern Faktor zweitausend Pfund für scharlachnes Tuch & sechshundert Pfund für seiden Tuch. Ich will hier weilen, das übrige zu vollenden, & der verfluchte Neid soll schmachtend zu Boden fallen, und Ihr möget mich finden (das walt Gott) einen guten, gerechten & getreuen Sohn usw.
Das zweite hoch erfolgreiche Handbuch (neun Auflagen in 50 Jahren) war Angel Days The English Secretorie (1586). Es enthielt mehr Originalmaterial als Fulwood, nicht zuletzt da, wo es um Anleitungen für Liebesbriefe ging. Und die Muster waren überzeugende Kreationen, die häufig um die Lösung von Konflikten zwischen Liebespaaren oder Vätern und Söhnen kreisten, womit sie vielleicht zur Grundlage für die frühesten Briefromane wurden. In den Schulen des elisabethanischen England war das verbreitete lateinische Handbuch, das stets neben Briefen von Cicero und Erasmus verwendet wurde, der Methodus de conscribendis epistolis von Georgius Macropedius. Eine Theorie besagt, es sei vor allem dieser Ratgeber gewesen, der den Briefstil in den Werken Shakespeares beeinflusst habe.
Doch nicht jeder schwor auf die Weisheit solcher Ratgeber. Der progressive französische Essayist Montaigne, der in den 1570er-Jahren schrieb, behauptete, er sei »ein geschworener Feind jeder Art Fälschung« (womit er Unaufrichtigkeit meinte), und in einem Essay namens Betrachtung über Cicero widersprach er Erasmus in skeptischem Ton, wenn es um die Formalien in einem Brief geht. Montaigne verwarf die Durchdachtheit zugunsten ausdrucksstarker Spontaneität und war der Ansicht, sein eigener Stil tauge nur für »vertrauliche«, nicht für Geschäftsbriefe. Er hielt seine Sprache für »zu kurz, unordentlich, unterbrochen und besonders«, um zu einer förmlichen Komposition zu passen, und er misstraute »Complimentirbriefe[n], die nichts anders als zusammengeflochtene höfliche Worte sind«. Stets schreibe er lieber persönlich, sagte er, als einen Schreiber zu beauftragen, und das, obwohl er sich »eine unerträglich schlechte Hand« bescheinigte. Und je weniger er vorher über etwas nachdenke, desto besser der Brief.
Ich habe die Grossen, so mich kennen, gewöhnet, daß sie es leiden, wenn ich darinnen auskratze, und das Papier ungebrochen und ohne Rand lasse. Diejenigen Briefe, die mich die meiste Mühe kosten, taugen am wenigsten. So bald als ich langsam schreibe, so ist diß ein Zeichen, daß ich meine Gedanken nicht drauf habe. Ich fange gern an, ohne vorher zu wissen, was ich schreiben will. Der erste Gedanke bringt den andern hervor.6
Und noch etwas mochte Montaigne nicht an den Handbüchern mit ihren fehlerlosen Musterstücken: den Anfang und das Ende. »Die Briefe ietziger Zeit enthalten mehr an Einkleidung und Vorreden, als an Sachen«, beschwerte er sich. Absichtlich, sagte er, habe er das Schreiben an »Justitz und Kammer [=Finanz-]Bediente« vermieden aus Sorge, Fehler bei ihrer Anrede zu begehen. Und was die Finessen am Schluss betrifft: »Ebenso wollte ich auch gern, wenn die Materie aus ist, einem andern die Mühe übergeben, diese lange Komplimente, Dienstbezeugungen, und Bitten, womit wir schliessen, hinzu zu setzen, und wünschen, daß eine neue Gewohnheit uns dieser Last überhübe.«
Die Satiriker seinerzeit hätten Montaigne sicher Beifall geklatscht. Vom Moment seiner Geburt an schien das Briefhandbuch geradezu auf Knien darum zu betteln, parodiert zu werden, und die einzige Überraschung lag darin, dass es bis 1602 dauerte, ehe der erste Erfolg erschien, A Poste with a Packet of Madde Letters von Nicholas Breton. Breton war ein englischer Pamphletist und ein Opportunist unter den Verlegern, ein Autor von Büchern, die wir heute als Klolektüre bezeichnen würden. Und darin war er sehr gut. Seine Madde Letters waren in der Absicht geschrieben, »viele zu vergnügen«, und dieses Ziel erreichte er über viele Auflagen hinweg, ein Zeichen dafür, dass Bretons Leser seine Zielscheiben für Freiwild hielten. Da seine Briefe fiktiv waren, könnte man sein Werk außerdem als den ersten Briefroman bezeichnen.
Er zielte auf den Bettelbrief, den Brief, der einem Freund das Heiraten ausreden sollte, und auf das mutmaßlich früheste Exemplar des »Dear John letter«, des Abschiedsbriefs zum Abservieren eines angehenden Ex-Partners. In diesem Fall will ein naives Landei sich seine Niederlage nicht ganz eingestehen:
Der Grund, warum ich Dir dieses Mal schreibe, ist, dass, Ellen, ich höre, seit ich aus Wakefield komme, als wo, wie Du weißt, wir dieses Gespräch hatten im Gasthaus zum Blauen Kuckuck, und wie Du mir Deine Hand gabst und geschworen hast, Du würdest mich um nichts in der Welt verlassen und wie Du mich einen Ring hast kaufen lassen und ein Herz, was mich 18 Pence gekostet hat, welche ich bei Dir ließ, und Du gabst mir ein Tüchlein, an meinem Hut zu tragen, ich danke Dir, welches ich bis zu meinem letzten Atemzug tragen werde; und nun rätsele ich, ob es wahr sein kann, wie ich höre, dass Du Dich anders entschieden hast, und an mein Nachbarn Hoblins sein jüngeren Sohn versprochen bist, wahrlich, Ellen, Du tust nicht gut daran, das zu tun, und Gott wird Dich dafür strafen, und ich hoffe, ich werde es überleben, und wenn ich Dich auch nie besitze: denn es gibt mehr Jungfern als bloß die eine Schlampe, und ich glaube wohl, ich bin ein richtiger Fang.
Breton gab den Anstoß zu weiteren Parodien. Auf Conceyted Letters, Newley Layde Open (»Eingebildete Briefe, frisch an den Tag gebracht«) folgte Hobson’s Horse-Loade of Letters, dann A Speedie Poste und darauf A President for Young Pen-Men, or the Letter-Writer, mutmaßlich das erste Buch, das den Briefschreiber in seinen Titel einschloss. Zu den besten zählte der anonyme Cupids Messenger von 1629, und wie der Titel schon verrät, befasst er sich hauptsächlich mit Liebesbriefen. Aber es handelt sich um Liebe in ihrer ganzen Unordentlichkeit, eine Komödie der Grausamkeiten, so wie dieser Aufschrei der Seele eines Gefangenen an seine Verflossene. Der Verfasser hat den Eindruck, dass sie mehr als bereit war, sein Geld zu akzeptieren, als er es an sie verschwendet hat, jetzt aber, da es ausgegeben ist, nicht mehr ganz so liebevoll ist, und vor lauter Galle spuckt er einen Racheplan aus, der aus den Zutaten für den Hexenkessel in Macbeth zusammengestellt scheint:
Wäre mein Papier aus den Häuten quakender Kröten oder gefleckter Ottern geschöpft, meine Tinte aus dem Blut von Skorpionen, meine Feder gerissen aus den Schwingen der Unheileule, sie wären die passenden Utensilien, Dir zu schreiben: Du bist ätzender, giftiger, verderblicher als das schlimmste unter ihnen, denn steige Du nur in die Tiefe Deines schuldigen Gewissens hinab und sieh, wie viele Eide, Versprechen und Herzensbeteuerungen, gar Millionen Eide Du mir auf Deine Treue geschworen hast, die eines Tages Zeugnis ablegen werden gegen Dich.
Als das Blatt zu Ende geht, sollte man eine kleine Atempause, vielleicht sogar ein versöhnliches Finale erwarten. Aber von wegen:
Der Aussatz ist im Vergleich zu Dir pure Gesundheit und alle Arten Ansteckung nur ein Flohbiss, und jegliche Seuchen, wären sie auch aus zwanzig Spitälern geholt, sie wären nur wie ein Anflug von Schüttelfrost: Du bist der Aussatz selbst, bist alle Seuchen zugleich, denn weder Dein Leib noch Deine Seele sind frei von der Seuche der Schande und vom Schmach der Welt … Gott bessere Dich und vergebe Dir.
Dein einstiger Freund
I. P.
Die ernstgemeinte Kunst des Liebeswerbens in Briefform erhielt im 17. Jahrhundert Auftrieb aus – woher auch sonst? – Frankreich und durch die Franzosen. Le secretaire à la mode von Jean Puget de la Serre kündigte sich an als eine »gehobene Ausdrucksweise für jede Art Brief« und setzte tatsächlich den Maßstab für das kommende Jahrhundert. 1640, als das Buch durch John Massinger ins Englische übersetzt wurde, hatte das Briefeschreiben einen ebenso erhabenen wie populären Status erreicht, den es seit den Tagen Plinius des Jüngeren nicht mehr innegehabt hatte: den des weithin betriebenen und völlig unentbehrlichen tagtäglichen Verkehrs in Worten. Vormals bedienten sich seiner nur Kirche und Staat, die Furchtbaren und Mächtigen, nun war der Brief als Kunstübung ins Reich der Mittelschicht eingezogen. Und trotz zahlreichen verstreuten Belegen, dass viele Briefschreiber es vorzogen, die in solchen Anleitungen vorgetragene Weisheit zu ignorieren, war die Gattung Ratgeber fest etabliert: 1789 wies das Inventar eines Druckers und Buchhändlers in Troyes in Nordostfrankreich 1848 Stück einer Neuauflage von Le secretaire à la mode und an die 4000 Exemplare ähnlicher Handbücher aus. Je mehr die Welt schrieb, desto mehr Schreibhilfe benötigte sie.
Wenn sie dann wussten, was sie schreiben sollten, wie sollten die Verfasser ihr frisch erworbenes Wissen zu Papier bringen? Wie sollte man einen Brief äußerlich gestalten?
Das hing weitgehend davon ab, wie reich der Betreffende war oder welchen Status er besaß. Die Musterhandbücher waren in ihren Darstellungen da ziemlich streng und erklärten, dass jeder in der Lage sein sollte, auf einen Blick und ohne ein Wort zu lesen sagen zu können, ob der Brief sich an einen Adressaten richtete, der unter oder über dem Absender rangierte. Nach Ansicht von Fulwoods Enimie of Idlenesse hatte man den Anfang eines Briefes »je nach dem Stande des Schreibers und der Würde der Person, an welche wir schreiben«, zu gestalten. »Denn an unsere Oberen müssen wir auf der rechten Seite am unteren Ende des Blattes schreiben wie folgt: Von Eurem ergebensten und gehorsamsten Sohne oder Diener … Und an unseresgleichen müssen wir gegen die Mitte des Blattes schreiben wie folgt: Von Eurem stets getreuen Freunde … An die Niederen können wir hoch oben auf der linken Seite schreiben.«
Auch die Handbücher von Angel Day und de la Serre legten Wert auf Feinheiten – wie groß genau der Abstand zwischen dem Namen des Empfängers und dem eigentlichen Text sein sollte, aber auch, wie weit man den ersten Absatz einrückte, wobei der leergelassene Raum abermals vom Grad der Unterwürfigkeit und des Respekts abhing, die man bekunden wollte, und als »der Ehrenrand« bezeichnet wurde. Der Historiker James Daybell behauptet, es lasse sich an Tausenden von Briefen belegen, dass man sich weithin an das hielt, was er als »Sozialpolitik des Schreibraums« bezeichnet. Als John Donne seinem Schwiegervater, mit dem er zerstritten war, voller Ehrerbietung schrieb, unterzeichnete er ganz außen unten rechts auf dem Brief, wodurch er – als kleiner ehrfürchtiger Schlusspunkt – seine Unwichtigkeit herausstrich. Besonders gut sichtbar war diese Praxis in Briefen, die Untertanen an ihre Monarchen sandten. Wenn Frauen im 17. Jahrhundert an Männer schrieben, stand ihr Name fast immer am äußersten Rand der unteren rechten Ecke, ein weiteres trauriges Anzeichen für ihren gesellschaftlichen Status.
Und auch das Gegenteil zeigte sich deutlich. Als der zweite Earl von Essex 1598 hastig eine Nachricht an seinen Vetter Edward Seymour hinwarf, wählte er bewusst den oberen Rand des Briefes, um seinen Namen zu hinterlassen. Die kurze Anweisung von sechs Zeilen ließ darunter einen riesigen Freiraum auf einem großen, nicht zerschnittenen Bogen Papier. Das war keine Frage des Designs, es war zur Schau gestellter Reichtum; Papier war teuer und die Botschaft lautete: »Von dem Zeug hab’ ich stapelweise.«
Das Papierformat im England der frühen Neuzeit würden wir auch heute als ziemlich üblich für Geschäftsbriefe betrachten, nur etwas quadratischer. Ein Foliobogen maß normalerweise entweder 30 × 35 oder 42 × 45 Zentimeter, je nach Papiermühle. Anschließend faltete man den Bogen üblicherweise in der Mitte und schrieb ein oder zwei Seiten voll. Die beiden verbleibenden Blankoseiten verwendete man, um durch Falten und Einstecken den Inhalt zu verbergen; eine davon trug die Adresse und die andere das Siegel.
Kleinere Briefe der elisabethanischen Zeit verraten oft Armut, doch in der Mitte des 17. Jahrhunderts schrumpfte das Briefformat vom Folio zum Quarto, das mit etwa 20 × 30 Zentimeter deutlich kleiner und rechteckiger war. Kleinere Bögen ließen weniger Leerraum zu, manchmal aber wünschte man sich gar keinen Leerraum: für die Schreibenden war es gängig, rund um ihre Worte Schraffuren anzubringen und so sicherzustellen, dass niemand versuchte, weitere Ansichten jenen hinzuzufügen, die sie ursprünglich formuliert hatten.
Was aber geschah danach? Ein jeder konnte fast jedem fast alles schreiben und es entsprechend den respektvollen Sitten der Zeit gestalten. Wie in aller Welt aber erreichte – vor Briefkästen, Briefmarken und einem festen Zustelldienst – ein Brief seinen Empfänger? Und wie konnten wir annehmen, dass ein persönlicher Brief, der wichtige Informationen enthielt, auch privat bleiben würde, während er sich tapfer seinem Bestimmungsort entgegenkämpfte?