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Kapitel 6 Amman, August 2023 - Februar 2024
ОглавлениеMonate waren vergangen. Ich hatte bisher nicht viel von Jordanien gesehen, noch nicht mal von Amman. Majid und ich waren nur dreimal zusammen aus. Das eine Mal sahen wir uns das Römische Amphitheater im Osten von Downtown Amman in der Al-Hashimi-Street an. Es ist das größte Theater in Jordanien. Über sechstausend Zuschauer können auf der Tribüne Platz nehmen. Auf dem Weg dorthin haben wir einen Abstecher zum von den letzten Unruhen betroffenen King Hussein Sport City unternommen. Das graubraune Gebäude war sichtbar von Granaten getroffen, das Dach an mehreren Stellen zerstört und nicht wieder aufgebaut worden. Auch ein Mast der Flutlichtbeleuchtung war den Kämpfen zum Opfer gefallen. Majid hatte mir in Offenbach erzählt, dass in Jordanien momentan zwei rivalisierende Volksgruppen gegeneinander kämpfen. Ich hatte jeden Tag in den Nachrichten die beunruhigenden Berichte über die brenzlige Lage im Land verfolgt mit der Hoffnung, es würde sich alles wieder beruhigen und nicht zum Bürgerkrieg kommen.
Der Norden lag in Händen der Moranih-Anhänger, die in Jordanien vor vier Jahren den Herrscher König Abdullah II ins französische Exil nach Paris vertrieben und seine Atomkraftwerke übernommen hatten. Die Moranihs waren ultraextremistische Nachfolger der ISIS, die das vor einigen Jahren gegründete Kalifat möglichst schnell um weite Teile Jordaniens vergrößern wollten. Der Süden befand sich in der Gewalt der treuen Anhänger König Abdullahs, die ihn unbedingt zurück auf den Thron wünschten. Immer öfter kam es zu Machtkämpfen, die sich auch auf die Mitte des Landes ausweiteten. Hinzukommend gab es Unstimmigkeiten zwischen Jordaniens Nachbarländern Israel und dem Irak. Jordanien trat infolgedessen völlig überraschend aus der Arabischen Liga aus. Es herrschte Chaos. Die Lebensmittelpreise stiegen in die Höhe, es fehlte zeitweise an Wasser und stundenweise fiel auch tagsüber der Strom öfter aus. Die Moranihs brannten ganze Dörfer nieder, mordeten, verbreiteten überall Angst und Schrecken. Angst hatte ich noch nicht, aber insgesamt betrachtete ich die Lage als sehr angespannt.
Ein anderes Mal fuhren wir in die antike Stadt Gerasa, vierzig Kilometer nördlich von Amman. Die ersten Spuren menschlicher Besiedlung in Gerasa stammten bereits aus dem 6. Jahrtausend v. Chr. Später stand die Stadt unter römischer Herrschaft. Ihre Einwohner gewannen in den nahen Adschlun-Bergen Erz. Das Ovale Forum, der Triumphbogen, Nymphäum, der Artemis-Tempel und der Jupiter-Tempel machten auf mich einen gewaltigen Eindruck. Die alten Denkmäler der uralten Kulturen zu betreten verursachte mir Gänsehaut und versetzte mich in eine eigentümliche, verträumte Stimmung. Die Ruinen ließen erahnen, wie prächtig die Bauten in ihrer Glanzzeit erstrahlt sein mussten. Ich versuchte mir in meiner Fantasie auszumalen, was sich hier damals ereignet haben mochte. Der blaue Himmel über unseren Köpfen war hier noch blauer und strahlender als je zuvor. Majid zeigte mir alles völlig entspannt und wirkte nicht sonderlich interessiert. Vielleicht hat er diesen Ausflug schon öfter unternommen? Wir verbrachten fast einen ganzen Tag in Gerasa. Ich machte viele wundervolle Fotos, die ich bei Gelegenheit meinen Eltern senden wollte.
Der dritte Ausflug mit Majid führte zum Kamelreiten in Wadi Rum, verbunden mit einer Übernachtung in der Wüste. Als Majid mich an einem Samstag mit dieser Neuigkeit überrascht hatte, war ich sofort begeistert. Schnell zog ich mir eine bequeme Jeans und ein leichtes T-Shirt an, packte meine Strickjacke, die Smartbrille, Smartphone, ein paar Feuchttücher und Wasserflaschen in meinen kleinen Rucksack und machte meine Haare fertig. Wir frühstückten ausgiebig mit der ganzen Familie und fuhren mit dem Familienjeep los. Majid erklärte mir, dass seine Familie diesen Ausflug bereits gemacht hatte, sie hatten keine Lust uns zu begleiten. Egal, ich war trotzdem Feuer und Flamme. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, wir hatten nicht mehr viel Zeit. Die Wüste begrüßte uns mit sengender Hitze und einer Schönheit, der ich bis dato so noch nie begegnet war. Wundervolle rot und rosa leuchtende Wüsten- und Felslandschaft erstreckte sich bis an den Horizont. Sand, soweit das Auge reichte! Plötzlich kam ich mir ganz klein und verloren vor. Sprachlos schaute ich in die Ferne, genoss den unbekannten Zauber der Dünen. Ich erwachte aus meinem Tagtraum, als Majid mir liebevoll die Wasserflasche reichte. »Trink jetzt! Du musst viel trinken, es ist überlebenswichtig«, belehrte er mich und zog sich seine Basecap tiefer ins Gesicht. Ich trank gierig fast eine ganze Flasche auf einmal aus. Wasser hat mir in meinem ganzen Leben noch nie so gut geschmeckt wie in diesem Moment.
Weiter ging es, immer noch mit unserem Jeep, zum grandiosen Massiv der Sieben Säulen der Weisheit, das wie gigantische Natursäulen aus der Wüste gen Himmel ragte. Der Anblick war überwältigend. Ich machte viele Fotos, um die Erinnerungen für immer festzuhalten. Auch Majid griff zum Fotoapparat und machte von mir viele schöne Erinnerungsfotos für meine Familie.
In der Nähe dieses Naturwunders trafen wir auf die von Majid bestellten Beduinen, die uns ihre Kamele für eine weitere Tour zur Verfügung stellten. Die Männer waren um die dreißig, traditionell in weiße Galabijas gekleidet. Sie begrüßten uns freundlich und luden uns ein, die Tiere zu begutachten. Dabei priesen sie die Vorzüge der Kamele an und übertrieben maßlos, wie mir Majid mit einem Augenzwinkern auf Deutsch ins Ohr flüsterte. Wir lachten und gingen langsam auf die ruhenden Tiere zu. Sie sahen gut genährt und gesund aus. Ihr Fell war an manchen Stellen abgegangen, hing in lappenähnlichen Hautfetzen ab, was sie lustig aussehen ließ. Majid begutachtete ihre Sättel, zog mich zu sich und half mir beim Aufsteigen. Etwas mulmig war mir schon zumute, als ich auf meiner Kamelstute sitzend nach unten schaute. Als das Tier zu laufen begann, verstand ich endlich, warum man sie als Wüstenschiffe bezeichnete. Es schaukelte wirklich beinahe wie auf einem Schiff. Ich musste lachen.
Mein Mann machte auf seinem Tier eine richtig gute Figur, man sah deutlich, dass er nicht das erste Mal auf einem Kamel ritt. Dann ging es los, unsere kleine Karawane bewegte sich langsam in die Tiefen der scheinbar endlosen Wüste. Vorweg der kleinere der beiden Kamelführer. Gleich hinter ihm lief mein Tier mit mir im Sattel. Neben mir Majid auf seinem Kamel. Wir warfen uns verliebte Blicke zu, schwiegen, ließen uns führen. Die Wüste nahm uns ganz in Beschlag, es war unglaublich still um uns herum, nur das Zischen und Keuchen der Tiere durchbrach die Stille. In meine Träume versunken, nahm ich die Umgebung nicht ganz wahr, ich fühlte mich wie in Watte eingehüllt, bis plötzlich ein schriller Ton meines Mobiltelefons meinen Tagtraum gewaltsam beendete. Meine Mutter! »Mama! Das ist ja eine Überraschung. Alles okay bei euch? Ja? Schön. Wir machen gerade einen Ausflug in der Wüste. Ich sitze auf einem Kamel und es schaukelt ziemlich. Ich rufe morgen zurück, wenn wir wieder zu Hause sind, in Ordnung? Danke für deinen Anruf, Grüße an Jan. Auch von Majid, bis dann, tschüss!« Erleichtert stopfte ich mein Smartphone zurück in den Rucksack. Meine Mutter! Immer dann, wenn man gerade beschäftigt war, ja – so war sie!
Kurz vor Sonnenuntergang erreichten wir eine kleine Oase, ein paar Zelte reihten sich aneinander, davor zwei verlassene Jeeps. Dattelpalmen, spärliche Vegetation, eine kleine Wasserstelle, einige Beduinen. Mehr war hier nicht zu sehen. Langsam wurde es deutlich kühler, ich zog die Strickjacke aus meiner Satteltasche und warf sie schnell über. Jetzt fühlte ich mich deutlich wohler, aber die Anstrengungen des Tages machten sich bei mir bemerkbar. Ich war sehr müde und ich verspürte großen Hunger. Es war Zeit, etwas zu essen.
Majid begrüßte die Beduinen, ich hatte den Eindruck, dass sie ihn schon kannten. Mich begrüßten die Männer nur mit einem dezenten Kopfnicken. Ich tat es ihnen gleich und wartete ab, was passieren würde. Nach einem kurzen Gespräch wurden wir gebeten, uns zu ihnen zu setzen. Ein Lagerfeuer wurde entzündet. Wir nahmen Platz. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Pick-up auf. Zwei junge Beduinen stiegen aus und brachten riesige Schüsseln mit Essen, auf das sich alle stürzten. In unmittelbarer Nähe war scheinbar noch ein Einheimischenlager oder eine Oase. Das Essen dampfte und roch sehr appetitlich. Es war Couscous und gebratenes Lamm mit Reis und Gemüse. Eine Mahlzeit ganz nach meinem Geschmack. Wir aßen gemeinsam aus den Schüsseln. Es machte mir nichts aus, mit Fremden aus einem Gefäß zu essen. Schweigend nahmen wir die ersten Happen zu uns. Später unterhielten sich die Männer aufgeregt und würdigten mich keines Blickes. Nach der einfachen, aber köstlichen Mahlzeit tranken wir noch etwas Kamelmilch. Es schmeckte mir, auch wenn die ersten Schlucke mich noch Überwindungen gekostet hatten. Der Durst siegte. Müde saß ich im Schneidersitz vor dem Feuer, meine Augen wurden immer schwerer, ich versuchte, mein Gähnen zu verbergen.
Aber Majids Augen blieb nichts verborgen. Er stand auf, winkte mir, ihm zu folgen und ging auf ein Zelt zu. Ich war dankbar, dass ich nach den Anstrengungen des langen Tages gleich ruhen konnte. Majid erhellte den Weg mit der LED seines Smartphones. Im Zelt lagen ein paar Decken und kleine Kissen für uns bereit. Majid wünschte mir eine gute Nacht und kehrte zum Lagerfeuer zurück. Er war noch nicht müde.
Ich lauschte dem Rauschen der Palmenkronen, hörte die Stimmen der Männer am Feuer. Kurze Zeit später schlief ich tief und fest. Ein kurzes Rascheln verriet mir im Halbschlaf, dass mein Mann das Zelt betrat und sich leise neben mich legte. Wir ruhten bereits eine ganze Weile, als ich plötzlich erwachte. Etwas, ein dumpfes Geräusch, drang an meine Ohren. Ich horchte. Erschrocken öffnete ich die Augen und erstarrte - eine dunkle Gestalt, ganz in Schwarz eingehüllt tauchte wie aus dem Nichts vor mir auf. Ein fremder Mann! Ich hörte mein Herz laut pochen, wilde Panik erfasste mich. Wie erstarrt lag ich auf meinem Platz, wagte mich nicht zu bewegen, zu tief saß die Angst in meinem Nacken, ich wollte Majid wachrufen, aber meine Angst schnürte mir die Kehle zu. Majid! Warum wacht er nicht auf?! Ich muss ihn unauffällig wecken, aber wie? Wer ist dieser Mann und was will er hier? Die Sekunden kamen mir wie Minuten vor, aber es war nur ein Augenblick, den der Fremde und ich uns anstarrten. Die Stille im Zelt kam mir fast schmerzhaft vor. Die Luft war stickig, ich fühlte wie sich meine Zunge versteifte, ich schluckte, trat mit meinem linken Fuß vorsichtig hinter mich. Meine Zehen ertasteten Majids Wade, ich legte nach.
Der Fremde erwachte scheinbar in diesem Moment aus seiner Starre und tat einen Schritt in unsere Richtung. Der Mond erhellte die Nacht und schien in unsere provisorische Behausung. Majid reagierte nicht auf meine verzweifelten Versuche. Als ich etwas in der rechten Hand des Fremden blitzen sah, schrie ich aus tiefster Kehle: »Majid! Majiiiiiiiid! Wach auf. Hier ist ein fremder Mann!«
Die Ereignisse überschlugen sich. Mein Mann erwachte und sprang sofort auf, aber der Fremde war schneller. Mit einem hinterlistigen Schlag seines Dolches an Majids Schläfe streckte er ihn nieder. Entgeistert sah ich zu, wie mein Majid zu Boden fiel, kroch in die hinterste Ecke. Der Fremde packte mich und zog mich an den Haaren aus dem Zelt. Ich sah aus den Augenwinkeln, dass er nicht allein war. Eine beachtliche Männergruppe, alle vermummt und in schwarze Roben gehüllt, nahm unser kleines Lager ein. Alle bis an die Zähne bewaffnet, jung und scheinbar zu allem entschlossen. Es war deutlich zu erkennen, dass das kein Pfadfinderspiel war. Höllischer Schmerz durchströmte meinen Körper, als mich der Fremde über den Erdboden schleifte. Ich schrie in Panik aus voller Kehle, aber er erstickte mit seiner Hand meine Schreie, ließ erst von mir ab, als wir am jetzt erloschenen Lagerfeuer angekommen waren. Unsere Beduinen vom Vortag lagen im Kreis versammelt, mit verbundenen Augen und gefesselt auf dem Boden. Inmitten dieser nächtlichen Stille waren wir den Angreifern praktisch ausgeliefert. Ich durfte mich neben die Beduinen setzen. Meine Gedanken kreisten um Majid, ich fürchtete, dass der Angreifer ihn schwer verletzt haben könnte. Hoffnungsvoll sah ich zum Zelt, horchte nach einem Lebenszeichen von Majid, vergebens. Die Vermummten musterten mich neugierig. Ich fühlte ihre penetranten Blicke auf meinen blonden Haaren und auf den entblößten Beinen kleben. Zum Schlafen hatte ich mich bis auf das T-Shirt und den Slip ausgezogen. Unter ihren Blicken fühlte ich mich nackt und ausgeliefert. Ich zog mein T-Shirt weit nach unten über meine Knie, versuchte mich zu verhüllen, was sie mit schallendem Lachen quittierten. Aufgeregt unterhielten sie sich auf Arabisch, lachend sprachen sie über die Vorzüge meiner Figur. Ich verstand nicht alles, weil mein Arabisch noch spärlich war, aber das, was ich verstand, ließ mich erschaudern. Ein brennendes Feuer stieg in mir hoch. Sie werden doch nicht …? Ich warf einen Hilfe suchenden Blick Richtung Zelt, aber von dort war scheinbar keine Hilfe zu erwarten. Noch immer kam kein Lebenszeichen von Majid und meine Angst wurde unerträglich. Wer waren diese Männer? Was wollten sie von uns? Warum? Die bedrohliche Ungewissheit fraß sich wie alles zerstörende Krebszellen langsam durch meine Glieder. Die Männer verteilten sich jetzt in kleine Gruppen. Ich versuchte, sie zu zählen, aber es gelang mir nicht, sie waren irgendwie ständig in Bewegung. Es waren schätzungsweise dreißig. Einige von ihnen bewachten die Beduinen, andere versorgten die Tiere und wieder andere verschwanden in den Zelten, sodass ich sie immer nur kurz zu sehen bekam. Da sie für mich alle gleich aussahen, konnte ich sie nicht auseinanderhalten. Ihre Gesichter waren stets bedeckt.
Einer kam plötzlich auf mich zu, beugte sich tief über mich. Mir wurde unbehaglich. Er schaute wie gefesselt in meine Augen. Erneut erstarrte ich, zuckte leicht, als er mit seinen Lippen fast mein Ohrläppchen berührte. »Vous êtes belle!« (Du bist schön!), flüsterte er. Ich antwortete nicht, sah verstohlen zu Boden, wollte nach Wasser fragen, fand aber meine Worte nicht. Der Schock saß mir noch in den Knochen. Der Junge warf mir noch mal einen Blick zu und ging zu seiner Gruppe zurück.
Die Sonne ging langsam auf, die Schreckensnacht fand endlich ihr Ende, aber der Albtraum sollte erst beginnen.
Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, beobachtete ich, dass die Männer einen Anführer hatten. Ein großer, kräftiger Mann mit einer sehr tiefen Stimme, die Respekt einflößend klang. Zielsicher bewegte er sich im Lager und sorgte für eine gewisse Ordnung, der die anderen Männer nachkamen. Mit knappen Kommandos und Handzeichen steuerte er das Geschehen in der Oase. Das Feuer wurde entzündet, Wasser aus dem Brunnen geholt und der knappe Proviant verteilt. Ich bekam ein trockenes Fladenbrot und eine kleine Schale mit Kamelmilch gereicht, was ich dankend annahm. Schweigend riss ich das Brot in kleine Stücke und aß. Das chaotische Treiben am Lagerfeuer nahm zu. Den zusammengeschnürten Beduinen wurden ihre Fesseln abgenommen. Sie durften unter strenger Bewachung austreten. Bei dem Anblick spürte ich, wie meine eigene Blase zu platzen drohte. Peinlich berührt signalisierte ich, dass auch ich ein Bedürfnis hatte. Von belustigten Blicken begleitet, trat ich den Weg in den hinteren Teil des Lagers an, wo ich abseits der Gruppe mein Bedürfnis nach Privatsphäre zu stillen versuchte. Als ich erleichtert meinen Slip hochzog, hörte ich jemanden hinter mich schleichen. Erschrocken drehte ich mich um und blickte in die Augen des Mannes, der mich vorhin auf Französisch angesprochen hatte.
Er war noch sehr jung, ich schätzte ihn auf höchstens zwanzig Jahre. Seine dunklen Augen hatten einen fiebrigen Ausdruck und auf seiner Stirn glitzerten feine Schweißtropfen. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart unwohl, wollte an ihm vorbeigehen, aber er ließ mich nicht. Er packte mich an der Taille und zog mich zu Boden. Ich wehrte mich nach Leibeskräften und versuchte, mich loszureißen, aber es gelang mir nicht. Der Junge war sehr kräftig und durchtrainiert. Ich wollte um Hilfe schreien. Aber er hielt mir mit einer Hand den Mund zu, die andere Hand schob er unter mein T-Shirt und begrapschte meine nackten Brüste. Sein Kopf näherte sich meinen Lippen und ich konnte seinen heißen Atem auf meinem Hals spüren. Er drückte mich mit seinem Körper fest auf den Boden, versuchte mir meinen Slip runterzuziehen. Ich wehrte mich heftig. Langsam ließen meine Kräfte nach, ich bekam keine Luft. Der Sand flog mir in Augen und Nase. Der Junge versuchte mich zu küssen, ich presste meine Lippen fest zusammen, drehte meinen Kopf zur Seite. Er wurde wütend und zischte etwas, das ich nicht verstand, mir wurde plötzlich schwarz vor Augen.
Wie aus dem Nichts tauchte in diesem Moment der Anführer auf. »Khalaas!« (Es reicht!) Sofort ließ der Angreifer von mir ab, machte sich von dannen und überließ mich meinem Schicksal. Der Anführer entschuldigte sich in sehr gutem Französisch für diesen unangenehmen Vorfall und sagte, es käme nie wieder vor. Dann war er wieder fort. Ich schüttelte mir den Sand aus den Kleidern, versuchte mühsam mein Äußeres in einen akzeptablen Zustand zu bringen, sofern es überhaupt möglich war. Ich holte tief Luft, meine Beine zitterten noch, ich konnte nicht begreifen, dass ich mich so leichtsinnig in diese Situation begeben hatte.
Erleichtert, dass ich mit dem Schrecken davongekommen war, trat ich den Weg zurück an, ging ich an unserem Zelt vorbei und versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Nichts! Resigniert ging ich zurück zu meinem Platz, setzte mich auf den staubigen Boden und befreite meine Füße vom Sand. Ich sammelte mich, erholte mich langsam von dem Schock. Der Angreifer war nicht zu sehen, was ich mit Erleichterung aufnahm. Ich hatte Angst ihm wieder zu begegnen, da ich seine Rache fürchtete. Er schien mir noch sehr unreif, fast kindlich, dennoch, auf mein Verständnis konnte er nicht hoffen. Ich ekelte mich vor ihm. Apathisch saß ich auf meinem Platz, schaute mich um, wollte mir nichts anmerken lassen. Was mir widerfahren war, war furchtbar, ich wollte nicht, dass diese Männer sich noch darüber ausließen. Es war mir zutiefst peinlich.
Die Tiere wurden getränkt und notdürftig mit Futter versorgt. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und brannte gnadenlos auf meine ungeschützte Haut, die jetzt knallrot war. Vor dem Lagerfeuer versammelte sich eine kleine Gruppe, die Männer gestikulierten wild und stritten sich. Unauffällig horchte ich ihren Worten und versuchte zu verstehen, was sie mit uns vorhatten. Der Anführer sprach gerade über Majid, ich blickte zu Boden, fummelte scheinbar gelangweilt an meinen Schuhen, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Geschwind drehte sich der alte Mann um, kam auf mich zu, seine Augen wirkten kühl, ich erschrak. »Dein Mann lebt. Du musst keine Angst um ihn haben, aber er braucht einen Arzt. Hier gibt es keine Ärzte. Wir werden von hier fortgehen. Geh zu ihm und bereitet euch vor«, sagte er leise und deutete auf das Zelt. Dann ging er zurück zu den anderen.
Ich stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Majid lebt! Gott sei es gedankt. Meine Freude könnte nicht größer sein. Rasch verwandelte sie sich jedoch in erneute Besorgnis. Ist er schwer verletzt? Ich rannte zum Zelt. Bevor ich es betreten konnte, torkelte er mir entgegen. »Majid! Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Was haben sie mit dir gemacht?« Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle, die aufgestaute Wut, die Angst, entluden sich jetzt in einem verwirrten Geplänkel. Ich wollte meinen Mann umarmen, aber er sah so schwach aus, dass ich es mir verkniff. Stattdessen nahm ich aus dem Rucksack ein Feuchttuch und wischte ihm damit vorsichtig das Gesicht ab. Das Blut an seinem Kopf verklebte die Haare, ich entfernte behutsam den Großteil der Kruste, reinigte die Wunde und streichelte tröstend seine Wange. Majid sah nachdenklich aus. Was wohl jetzt in seinem Kopf vorgeht? Warum sagt er nichts? Ich schwieg auch. Wir tranken gierig das übrig gebliebene Wasser aus unseren Getränkeflaschen, es schmeckte abgestanden und war viel zu warm, dennoch fühlte ich, wie die Lebensgeister wieder in mir erwachten.
Majid, jetzt nicht mehr so blass, schaute schweigend zu, wie ich unsere Sachen im Rucksack verstaute. Ich sah ihm an, dass es noch eine Weile brauchen würde, bis er wieder ganz der Alte war. Erschöpft von dem Kampf und der Wärme setzte ich mich auf den Zeltboden, um meinem Körper ein wenig Ruhe zu gönnen. Draußen wurden die Tiere zusammengetrieben. Die implizite Botschaft hatte ich verstanden. Sie wollten das Lager räumen und wir mussten mit.
Als Majid endlich seine Sprache wiedergefunden hatte, schaute er mich besorgt an. »Wir wurden als Geiseln genommen, das steht fest.«
Diese Worte bestätigten das, was ich schon lange vermutet hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, was uns erwarten könnte. Ich fühlte mich hilflos und hatte schlicht Angst, in diesem fremden Land mein Leben zu verlieren.
Majid sah mich lange mit einem durchdringenden, seltsamen Blick an. Ich erhob mich, nahm meine Jeans und zog sie an. Fragend schaute ich ihn an, aber er wirkte abwesend und schwieg weiter. Mit dem letzten Rest aus der Wasserflasche wusch ich notdürftig mein Gesicht und die Hände, ich fühlte mich beschmutzt und verspürte ein starkes Bedürfnis nach Frische.
Als Majid leise fragte »Haben sie dir etwas angetan, diese Hurensöhne?«, war ich völlig überrumpelt. Sein prüfender Blick durchbohrte mich förmlich, ich konnte nicht länger in seine Augen sehen. Ich fühlte, wie mir langsam die Röte ins Gesicht stieg. »Antworte!« Er sah mich misstrauisch an, aber ich konnte nicht, ich schämte mich zu sehr.
Plötzlich wurde ich gewaltsam aus meinen trüben Gedanken gerissen. Einer der Männer betrat das Zelt, deutete mit seiner Hand, dass wir das Zelt verlassen und ihm folgen sollten. Die Beduinen standen schon in der Nähe der Tiere, warteten auf weitere Anweisungen und sahen sehr mitgenommen und verängstigt aus. Wir schleppten uns langsam zu den anderen, Majid humpelte und zog sein Bein hinterher. Ich stützte ihn. Die Sonne stand hoch am Himmel brannte gnadenlos von einem wolkenlosen Himmel herunter, ich fühlte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterfloss. Die Kamele wurden unter uns verteilt, wir stiegen auf und bildeten eine kleine Karawane. Unter der strengen Aufsicht der vermummten Männer ritten wir los. Vor und hinter uns fuhren die Geiselnehmer in ihren Jeeps. Sie hielten ihre Maschinengewehre auf uns gerichtet. Die Wüste schien endlos. Ich klammerte mich an den Griff des Sattels, um nicht hinunterzufallen. Majid ritt hinter mir, sodass ich ihn nicht sehen konnte. Ich machte mir Sorgen, ob er in seinem Zustand diese Anstrengungen überstehen würde. Wie hatten alle schrecklichen Durst und brauchten dringend das lebensnotwendige Wasser. Doch die Wasservorräte waren ausgeschöpft und wir mussten unbedingt eine Quelle finden. Nach circa zwei Stunden im ewigen Sand hörten wir in der Ferne Schüsse. Wie hielten sofort an und versammelten uns. Jeder suchte auf eigene Faust Schutz vor der drohenden, fremden Gefahr. Das war nicht einfach, weit und breit gab es nur Dünen. Wir krochen verängstigt durch den heißen Sand und gruben uns mit den Händen kleine Höhlen.
Die Geiselnehmer berieten sich, sie schienen ernsthaft besorgt und aufgeregt zu sein. Ich suchte Majids Nähe. Die Angst kroch durch meinen Körper und verursachte wallende Schweißausbrüche. Das T-Shirt auf meinem Körper war nass und voller Sand. Der Sand war überall, in den Schuhen, unter der Kleidung, in den Haaren, im Mund. Meine Lippen waren spröde und rissig, meine Zunge trocken vor Durst. Wir hörten Stimmen und Autogeräusche, die sich uns in hohem Tempo näherten. Die Geiselnehmer beachteten uns nicht mehr. Sie waren mit der drohenden Gefahr beschäftigt. Wir hätten unbemerkt fliehen können, aber wohin? Wir hatten keine Ahnung, wo wir uns befanden und ohne Wasser würden wir nicht weit kommen. Die Wüste wäre für uns zum Grab geworden.
Plötzlich hörten wir sich nähernde Rotorengeräusche, ein Helikopter! Angst überflutete mich. Ich dachte an all die sich gegenseitig bekämpfenden Rebellentruppen, von denen überall die Rede war. Wir sind einer von ihnen in die Hände gefallen. Jetzt schlachten sie sich gegenseitig ab und nehmen uns mit in den Tod. Bei dieser Vorstellung bekam ich Gänsehaut. Auch Majid schien diese Gedanken zu haben, aber er schwieg. Wir kauerten uns im Schutz der Düne aneinander und warteten ängstlich ab, was geschehen würde.
Ich kann es immer noch nicht glauben, aber wir haben diesen Albtraum ohne großen körperlichen Schaden überstanden. Wir hatten sehr viel Glück. Der Helikopter und die Männer, die wir für eine andere Rebellentruppe gehalten hatten, gehörten der jordanischen Militärpolizei an. Sie hatten uns über die gesendeten Signale meiner Smartbrille geortet und nach einem kurzen Kampf mit den Geiselnehmern befreit. Einige Geiselnehmer kamen bei der Befreiungsaktion ums Leben, andere konnten flüchten, aber es war nicht mehr unser Problem. Auch die Beduinen konnten glücklicherweise befreit werden und fanden nach einem Aufenthalt im nächstgelegenen Krankenhaus den Weg zurück in ihre Häuser.
Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt kehrten wir leicht geschwächt, aber erleichtert heim. Die Familie versammelte sich im großen Wohnzimmer und überfiel uns mit Fragen. Sie hatten sich schreckliche Sorgen gemacht, als wir am Abend nicht zurück waren und in ihrer Verzweiflung die Polizei angerufen. Wir mussten bis in die Nacht hinein erzählen. Asma versorgte uns mit viel Essen und Getränken und unsere Kräfte kehrten allmählich zurück. Spät in der Nacht gingen wir endlich ins Bett. Überschwänglich küsste ich meinen Mann und schmiegte mich an ihn. Ich war einfach nur glücklich, dass Majid nichts Ernstes passiert war, und wollte es ihm zeigen. Aber es zogen schon die nächsten Gewitterwolken über meinem Leben auf, ich wusste es nur noch nicht.