Читать книгу Nach dreizehn Jahren - Sofie Schankat - Страница 10
ОглавлениеDer erste Tag
Amy saß zitternd und schweißgebadet im Bett. Sie spürte, wie ihre Brust sich heftig hob und wieder senkte und wie ihr Herz raste. In ihren Ohren hallte dieses Brüllen wieder. Eine dunkle, tiefe Stimme. Was sie sagte, hatte Amy noch niemals verstanden. Es war bloß ein verschwommenes Schimpfen, aber trotzdem machte es ihr nicht weniger Angst, im Gegenteil.
Die erste Nacht im Mariannenweg. Amy fror plötzlich, obwohl sie gleichzeitig schwitzte. Die Umrisse im Zimmer waren ihr noch nicht bekannt, nicht vertraut, sie waren keine Beruhigung und bedeuteten keine Sicherheit.
Bin ich überhaupt zu Hause, in Sicherheit? Amy sah sich, immer noch zitternd, um. Auf der gegenüberliegenden Zimmerseite stand eine Gestalt. Ein Mann, dunkel, groß, bedrohlich, Amy konnte seine Umrisse genau erkennen. Er hatte sich aufgerichtet und die Arme ausgestreckt, eine Hand gehoben, um zu einem kräftigen Schlag auszuholen. Er keuchte und brüllte – »Nein!« Amy warf sich schreiend auf die Matratze, vergrub den Kopf in den Händen, wand sich auf der Stelle, wäre am liebsten ins Bett hineingekrochen. »Nein! Ne-ein!« Er kam auf sie zu, die Hand gehoben, bereit, zuzuschlagen, genau über ihr –
»Amy!« Jemand packte sie.
»Nein!« Amy zappelte hysterisch um sich, schlug mit aller Kraft und stieß gegen etwas Hartes und zugleich Weiches. Ein Mensch. Der Mann aus der Zimmerecke. »Nein, nein, lass mich, nein!«
»Amy!« Es wurde hell und die Gestalt verwandelte sich in Yannick, der über ihr im Bett hockte und ihre Arme festhielt, damit sie ihn nicht traf. »Amy, wach auf! Du hast geträumt!«
»Da ist einer!«, stieß Amy hervor und drückte zitternd ihren Kopf ins Kissen. »In der Ecke … ein Mann …«
»Amy, da ist nichts! Beruhige dich doch! Da ist nichts!« Yannick strich ihr sanft über den Rücken, und ganz allmählich beruhigte Amy sich, spürte, wie sich ihr verkrampfter Körper lockerte und ihr Herz wieder langsamer schlug. »Es ist hell. Ich habe das Licht angemacht. Schau hin«, raunte Yannicks Stimme sanft.
Amy lugte langsam über das Kissen hinweg ins fremde Zimmer hinein. Auf der gegenüberliegenden Seite standen Kartons, in drei Reihen aufeinandergestapelt. Der linke Stapel umfasste zwei Kartons mehr als der mittlere und der rechte einen weniger. Da war ihre Gestalt. Umzugskartons.
Die Anspannung und die Angst fielen langsam von ihr ab und sie begann zu weinen. Sie tastete schluchzend nach Penny, der bei ihrer Zappelei ein Stückchen nach hinten gerutscht war. »Tut mir leid.«
»Psst.« Yannick schloss sie in seine Arme und strich ihr übers Haar. »Du kannst doch nichts dafür! Es ist alles gut. Schscht.«
»Ich dachte, die Umzugskartons wären ein Mann …«
»Morgen packen wir sie alle aus«, wisperte Yannick und wiegte sie sanft in seinen Armen.
»Hoffentlich ist Papa nicht aufgewacht«, murmelte Amy leise in sein Shirt.
»Na, und wenn.«
Sie löste sich etwas von ihm, um in sein Gesicht sehen zu können. In dieses freundliche Gesicht mit den dunklen Augen. »Können wir noch mal Cinderella hören?«, bat sie zaghaft.
Yannick strich ihr über die nasse Wange. »Klar.« Er beugte sich vor zum Nachttisch, auf dem der CD-Rekorder stand, und drückte noch einmal auf Play. Dann löschte er das Licht wieder. Amy deckte sich trotz der Hitze zu, schmiegte sich an Yannick, hielt Penny von der anderen Seite im Arm und schloss erschöpft die Augen. Sie wollte sich zu Cinderella und dem Prinzen ins Schloss denken, um vielleicht doch noch einmal einzuschlafen und genau dorthin zu gleiten, ein Teil zu werden von dieser Disney-Welt, in der es außer der bösen Stiefmutter keine Gefahren gab und vor der sie auch keine Angst hatte, weil in der Disney-Welt alles stets gut ausging und sie das Ende von Cinderella auch schon kannte.
Yannick hielt sie in seinen Armen und spürte ihr Herz immer noch sehr schnell in ihrer Brust hämmern. Es standen ihm noch deutlich die Bilder von früher vor Augen, an die er sich in aller Klarheit erinnern konnte, obwohl die meisten anderen Erinnerungen aus dieser Zeit verschwommen waren, weil er noch sehr klein gewesen war. Amy war stumm gewesen. Sie hatte in ihren ersten Lebensjahren nicht gesprochen. Hatte immer nur mit großen Augen vor sich hin gestarrt, hatte oft geweint und geschrien … Es hatte blanke Panik in ihren Augen gelegen, vor der Yannick selbst manchmal Angst gehabt hatte. Er erinnerte sich auch noch genau an ihr tägliches Gebet vor dem Zubettgehen, etwas später dann, als sie schließlich doch angefangen hatte zu sprechen: »Bitte beschütze Mama, Papa und Yannick, bitte gib, dass ihnen nichts passiert, bitte pass auf sie auf und beschütze sie, bitte mach, dass kein Mann kommt, bitte mach, dass keiner schreit und weint, bitte mach, dass keiner Angst hat und dass keinem etwas wehtut.« Diese Worte hatte sie haargenau so jeden Abend vor dem Zubettgehen gebetet. Mit zusammengepressten Händen und Augen und bebender Stimme. Ein inbrünstiges Flehen nach Schutz. Ihnen war nie etwas zugestoßen. Es war nie ein Mann gekommen. Trotzdem hatte Amy das jeden Abend gebetet, als hätte sie genau davor wahnsinnige Angst.
Aber wenn Yannick sie in den Arm genommen hatte, sie gestreichelt, ihr etwas vorgelesen oder erzählt hatte, dann hatte sie sich beruhigt. Er hatte schon damals den heftigen Wunsch verspürt, Amy zu beschützen, sie fröhlich zu machen und ihr die Angst zu nehmen. Weil sie seine kleine Schwester war und er alles für sie sein wollte. Bereitwillig hatte er auch zwei Wochen hintereinander in Dauerschleife dasselbe Hörspiel gehört, denselben Film geschaut, wenn es Amy dadurch gutgegangen war, obwohl das oft genug eine Herausforderung für ihn gewesen war. Oft war es ja tatsächlich er gewesen, der sich um Amy kümmern musste, wo sie doch schon so früh so viel alleine gewesen waren. Er liebte sie trotz allem mehr als alles andere – wie sollte das anders sein, wo er doch im Grunde oft nur sie und sie nur ihn gehabt hatte?
Yannick hatte absolut keine Lust auf die Tests, die zum Ende des Sommertrainings und vor dem Start des On-Ice-Trainings durchgeführt wurden. Um zu sehen, wie man sich während des Sommertrainings entwickelt hatte. Hinter seiner Stirn pochte es leicht. Er hatte eine Zeitlang wachgelegen, nachdem Amy ihn durch ihren Alptraum geweckt hatte.
»Du bist nicht konzentriert, Yannick«, riss ihn Markus aus seinen Gedanken.
»Ich bin konzentriert.«
»Nein, bist du nicht. Du bist mit deinen Gedanken wieder einmal ganz woanders.«
»Trotzdem kann ich mich konzentrieren.«
»Na, das hoffe ich, auch wenn es nicht so wirkt.«
Yannick verdrehte innerlich die Augen und hielt demonstrativ an einer roten Ampel. Er spürte den Blick seines Vaters genau auf sich und wusste, ohne hinzusehen, dass er kritisch war aufgrund seiner Verträumtheit. Markus war äußerst schlecht gelaunt. Du kannst hier in der ersten Liga trainieren, Papa. Aber Markus schien sich überhaupt nicht darüber zu freuen. Er hatte sich nicht einmal richtig über das Angebot gefreut. Das war so eine Sache, die Yannick dann wieder nicht verstand. Ständig so tun, als gäbe es nichts Wichtigeres als Sport, aber dann bei einem sportlichen Erfolg immer nur griesgrämig und miesepetrig sein.
Der Ton, in dem Markus jetzt weitersprach, verstärkte Yannicks Verdacht nur noch mehr, denn er stellte missbilligend fest: »Du siehst ausgesprochen lustlos aus, Yannick.«
Musst du gerade sagen! Yannick presste seine Lippen aufeinander. Vielleicht liegt es daran, dass ich gestern noch am Meer bei Mama war, in den Sommerferien, und mich jetzt in einer neuen Stadt wiederfinde, nicht gut geschlafen habe und prompt direkt nach dem Frühstück ins Auto springen muss, um zur Eishalle zu fahren, um mich irgendwelchen Tests zu unterziehen, die zeigen werden, dass ich ein sehr unbefriedigendes Sommertraining gemacht habe. Yannick hatte ein unbefriedigendes Sommertraining gemacht. Das musste er sich eingestehen, und diese Tatsache war auch verantwortlich für seine Stimmung. Weil das jetzt gleich unter den Augen seines neues Trainers und nachher bei den Tests in der Sportklinik rauskommen würde.
Kaum war Yannick wieder hier, bei seinem Vater, holte ihn das schlechte Gewissen ein. Er hatte natürlich vor den Sommerferien in Biesfeld am Sommertraining teilgenommen, war aber auch da schon nicht sehr motiviert gewesen, und da hatte er auch schon seit ein paar Monaten geraucht, und das hatte sich im Sommertraining bemerkbar gemacht. Genauso wie seine gelegentlichen Fressattacken. Sehr gesund hatten er und Amy, die sie sich seit jeher sehr oft aus der Tiefkühltruhe ernährt hatten, wohl nie gegessen, was nicht hieß, dass Yannick gesundes Essen nicht mochte. Aber gelegentlich überkamen ihn Phasen, in denen er tagelang überhaupt keine Lust hatte, auf seine Ernährung zu achten, sondern einfach nur genießen wollte. Und das hatte in den Sommerferien bei Veronica am Meer zugegebenermaßen etwas überhand genommen. Es waren ja auch Ferien. Aber nicht für einen Leistungssportler. »Ein Sportler hat keine Ferien«, pflegte Markus zu sagen.
In diesem Sommer hatte Yannick regelrecht dagegen rebelliert. Er hatte am Strand den ersten Eindruck, den er auf seinen neuen Trainer machen würde, die bevorstehenden Tests, den schon ziemlich baldigen Saisonstart und nicht zuletzt seinen Vater verdrängt und sich ganz bewusst hängenlassen. War das vielleicht sogar eine Art grimmige Zufriedenheit, die er dabei verspürt hatte? Einfach seinem Wunsch, normale Sommerferien zu haben, nachzugeben. Er hatte unheimlich viel gelesen und das übrige Nichtstun einfach genossen. Unter den Augen seiner Mutter und seiner Schwester, die ihn so akzeptierten, die nichts dagegen gesagt hatten. Und diese zweieinhalb Wochen waren wirklich schön gewesen. Erholung pur, wenn man mal von den Temperaturen absah. Eine komplette Auszeit vom Alltag und auch vom Eishockey. Das hatte gutgetan. Ich habe den Sport überhaupt nicht vermisst, stellte Yannick jetzt fest und war selbst ein bisschen überrascht davon. Er hatte immer gerne Sport gemacht. Er warf seinem Vater einem Blick von der Seite zu. Wie hatte er die Tests früher geliebt! Seine eigenen Verbesserungen und Steigerungen zu sehen, in aufregende Kliniken zu fahren, gelobt zu werden und in Markus’ stolze Augen zu sehen! Davon schien nichts übrig zu sein.
Yannick wäre heute viel lieber einfach zu Hause geblieben. Hätte gefaulenzt, gelesen, mit Amy ihr neues Zimmer eingeräumt … Sie war wahrscheinlich in genau dieser Sekunde schon dabei, ihre Bücher ins Regal zu sortieren. Diese bescheuerten Tests sind doch pure Zeitverschwendung. Das Training beginnt doch erst am Montag! Wir könnten jetzt noch bei Mama sein! Gäbe es das Training nicht, könnten wir noch ganze drei Wochen bei Mama sein! Yannick zuckte innerlich zusammen bei diesen heftigen Gedanken.
»Bist du denn schon eingestellt aufs erste Training am Montag?«, drang Markus’ Stimme zu ihm durch.
Yannick starrte geradeaus auf die Straße. »Äh … ja.« Nein. Überhaupt nicht. Er war noch vollkommen im Sommerferienmodus. Und den wollte er auch gar nicht verlassen.
Markus stierte ihn an. »Was hast du denn in Holland so gemacht, an sportlichen Aktivitäten?«
Yannick schimpfte entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten über des Fahrverhalten des Fahrer vor ihm, um die Antwort noch etwas hinauszögern zu können. Denn er wusste genau, wie Markus’ Reaktion ausfallen würde. Als das Auto vor ihnen im Schneckentempo rechts abbog und sie freie Fahrt hatten, gab es leider keinen Aufschub mehr. »Naja … nicht so ganz so viel …«
Markus runzelte die Stirn. »Was heißt das, nicht so ganz so viel?«
»Na, das eben …«
»Yannick, das waren drei Wochen Sommertraining!«, begann Markus, ganz so, wie Yannick es schon im Kopf gehabt hatte, in haargenau demselben Tonfall. Eine Mischung aus vorwurfsvoll und verständnislos und äußerst, äußerst verärgert.
Yannick wagte es nicht, Markus anzusehen, hatte aber doch irgendwie das kühne Bedürfnis, sich zu verteidigen. »Ich hatte doch Ferien …«
»Ein Sportler hat keine Ferien!«, würgte Markus ihn gleich wieder mit scharfe Stimme ab. »Das sage ich dir doch nicht zum ersten Mal! Also hast du jetzt in Holland gar nicht trainiert? Hast dich überhaupt nicht in Form gehalten?«
Yannick spürte plötzlich, wie er ärgerlich wurde. »Ich bin doch kein NHL-Spieler!«
»Das hat doch damit nichts zu tun! Das hat was damit zu tun, dass du Leistungssport betreibst und eine Karriere anstrebst! Du bist mittlerweile in der DNL angekommen! Da kann man nicht drei Wochen lang überhaupt keinen Sport machen! Du durftest mit der Auflage zu deiner Mutter, dein Sommertraining währenddessen nicht zu vernachlässigen!«
Das war das Falsche gewesen, und genau deshalb gab es Yannick unvernünftig viel Mut. »Ich durfte zu meiner Mutter mit einer Auflage? Es ist mein Recht, meine Mutter zu besuchen! In meinen Sommerferien! Ein einziges Mal im Jahr, weil ja sonst immer, immer das Training oder Spiele im Weg sind! Nicht einmal drei Wochen hatte ich bei ihr!« Und plötzlich saß da ein Kloß in seinem Hals.
»Fast ganze drei Wochen, in denen du nicht trainiert hast!«, schoss Markus zurück, dann wurde er für einen winzigen Moment ruhiger. »Ich weiß, dass es nicht schön ist, dass du deine Mutter nur so selten sehen kannst, das tut mir leid und das bedaure ich, wirklich. Aber dann nicht zu trainieren! Wie stellst du dir das vor? Ein Viertel des Sommertrainings zu verpassen! Ich glaube das nicht! Mann, ich dachte, du bekommst das hin! Du musst doch auch selbst mal an deine Karriere denken! Meinst du, deine Kameraden haben auch alle den Sommer über nur gechillt? Ganz bestimmt nicht. Die waren hier und sind zum Training vor Ort gegangen! Und gegen die musst du dich durchsetzen! Ärgerlich. Äußerst ärgerlich.« Wie enttäuscht das plötzlich klang! Yannick musste schlucken.
Sie rollten auf den Parkplatz der Eishalle und das Auto kam zum Stillstand.
»Tja, dann.« Markus hatte auf die andere Schiene gewechselt. Von laut und wütend auf leise und verachtend, und wo das Laute oft an Yannick abprallte und ihn selbst innerlich wütend machte, kroch das Leise ganz tief und quälend unter Yannicks Haut.
Yannick löste mit einem Klumpen im Magen seinen Anschnallgurt, weil ihm jetzt plötzlich die Strafe für seine Faulenzerei bevorstand. Im nächsten Moment fiel sein Blick auf etwas, das ihn noch schlechter gelaunt machte.
»Was ist denn nun?« Markus folgte seinem Blick, entdeckte den roten Mazda CX-3 auf dem Parkplatz und zog die Augenbrauen hoch. »Ach, sieh mal einer an! Der Leon Brücker! Na, das hätten wir uns ja denken können, wie?« Er sah Yannick an. »Dein Nachbar, dein Mannschaftskamerad … Vielleicht freundet ihr euch wirklich an. Hmm? Er macht doch einen netten Eindruck.«
Yannick starrte auf seine Hände, die auf den Lenkrad lagen.
Markus stieß den nächsten missbilligenden Seufzer aus. »Das ist auch so eine Sache. Ich verstehe das nicht, Yannick. Du hattest noch nie Freunde. So richtig gute Freunde, meine ich. Du hast dich ja nicht einmal mit deinen Mannschaftskameraden angefreundet. Du hast dich noch nie in deinem Leben verabredet, kann das sein?«
Ich habe doch Amy, dachte Yannick und spürte, wie der Unmut wieder in ihm aufstieg. Was wunderte es ihn denn überhaupt, dass Markus das nicht verstand? Der hatte jeden Tag seines Lebens Menschen um sich herum, der war nie alleine. Yannick hingegen hatte nie das Bedürfnis nach Menschen und Freunden verspürt. Er hatte doch mit Amy praktisch immer alles gehabt, was er brauchte.
Yannick öffnete die Fahrertür mit einem »Dann tschüss«, das noch weniger freundlich klang als beabsichtigt.
Markus stieg ebenfalls aus, um sich hinters Steuer zu setzen, und bedachte Yannick über das Autodach hinweg. »Sieh mal zu, dass du dich mit deinen Mannschaftskollegen anfreundest. Eishockey ist ein
Mannschaftssport. Dich beißt ja keiner. Auf Wiedersehen. Ich hole dich dann ab.«
Yannick schmiss den Kofferraum zu und schulterte seine Tasche. »Ja, bis dann.«
Markus sah ihm nach, wie er über den Parkplatz auf die Eishalle zustapfte. Auf die Eishalle, in der er selbst trainiert hatte, als er nur ein paar Jahre älter gewesen war als Yannick jetzt. Er hat die Chance, es besser zu machen als ich, dachte Markus wie so oft. Du hast das alles noch vor dir, Junge, und du kannst das so viel besser machen. Du kannst das bessere Leben von uns beiden leben. Markus hatte Yannick schon so oft angesehen und mit einem seltsamen Gefühl des Friedens gedacht: Du kannst das Leben haben, das ich selbst mir immer gewünscht habe, das mir aber verwehrt geblieben ist. Dir wird das Schicksal keinen so dicken Strich durch die Rechnung machen, ganz bestimmt nicht. Dieser Gedanke war tröstlich für Markus. Als könnte es ihn mit sich selbst und dem Schicksal versöhnen, wenn er Yannick das Leben leben sah, das er nie hatte leben können und am Ende fast ganz verloren hatte.
Amy musste sich eingestehen, dass ihr das neue Zimmer gut gefiel, nachdem sie den Großteil ihrer Kartons ausgepackt hatte. Nicht nur schmückten ihre geliebten Bücher und Filme und CDs, mit denen sie stets in andere Welten abtauchen konnte, jetzt die Hälfte der Regale, auch hatte sie die schönsten ihrer selbstgemalten Bilder aufgehängt und ihre glitzernden Muscheln, Kerzen in Rosen- und Herzformen, ihre wunderschönen Steine und die liebsten ihrer Schleich-Pferde und -Feen dazugestellt. Einen Ehrenplatz auf einem der Regale hatten wie immer ihre Aschenputtel-Glasschuhe, die natürlich aus Plastik waren und die ihr gepasst hatten, als sie in der Grundschule gewesen war. Wie oft war sie in ihnen durchs Haus getanzt! Außerdem hatte sie die rosa Vorhänge aufgehängt, die sie bei jedem Umzug mitnehmen durfte, und die Fenster in der ganzen Wohnung dekoriert. Amy hatte im Laufe der Zeit wunderschöne Fensterbilder gebastelt, mit denen sie jeder ihrer Wohnungen eine persönliche Note verlieh.
Nachdem sie mit dem Einrichten ihres Zimmers und dem Dekorieren der Fenster fertig war, fühlte sie sich wahrhaftig schon wohler, machte sich den Temperaturen zum Trotz eine heiße Milch mit Honig und kuschelte sich in ihr neues Bett, in ihre Herzkissen hinein. Eigentlich konnte Amy sich an keinen Tag ihres Lebens erinnern, an dem sie nicht ein paar Stunden einfach nur im Bett oder auf dem Sofa gelegen hatte, ihren Gedanken nachhing, durch ein Buch blätterte oder ein Hörspiel oder Musik hörte.
Heute nahm sie ein paar ihrer alten Bilderbücher mit ins Bett. Während sie sie durchblätterte, war es ihr wie immer einen Moment möglich, zu vergessen, dass sie kein Kind mehr war, dass sich seitdem so vieles verändert hatte, dass sie wieder umgezogen waren und schon in drei Wochen ein neues Schuljahr anstand, nicht nur auf einer neuen Schule, sondern auch in der Oberstufe, dass sie … ja, langsam, aber doch mit Riesenschritten erwachsen wurde, und dass das so viele Veränderungen mit sich bringen würde. Wann immer ihr das Leben und die Gedanken an die Zukunft zu anstrengend und bedrohlich wurden, flüchtete Amy zurück in das Nest ihrer Kindheit, das ihr als das sicherste und geborgenste in Erinnerung geblieben war.
Aber das waren immer nur Momente, und irgendwann tauchte sie unweigerlich wieder auf. Und mit der Zeit waren diese Momente immer kürzer geworden.
Amy tastete auf dem Nachttisch nach der Tasse, setzte sie an ihre Lippen, doch es war nicht mehr mehr als ein Tropfen darin. Amy stellte die leere Tasse seufzend zurück, rieb sich über die wie immer leise pochende Stirn, zwinkerte mit den müden Augen, schlug das Bilderbuch zu, das sie erst zur Hälfte durch hatte, und rollte sich auf den Rücken mitten in ihre flauschigen Herzkissen hinein. Ja, es wurde immer schwerer, in ihre Kinderwelt abzutauchen, auch wenn Amy sich das nicht eingestehen wollte. Es war, als würden die Sorgen und Probleme in der Gegenwart immer lauter und schwerer werden und sich dadurch immer schwieriger ignorieren und verdrängen lassen. In der Schule wurde immer mehr von Amy erwartet, gleichzeitig wurde immer weniger darüber hinweggesehen, wenn sie irgendetwas nicht konnte und wollte, ihre Klassenkameraden interessierten sich immer mehr für völlig andere Dinge und sahen in Amy auch immer mehr eine Außenseiterin, die irgendwie komisch und nicht so ganz normal war. Gesagt hatten sie Amy das nie, aber sie wusste das trotzdem. Als sie Kinder gewesen waren, war diese Abgrenzung und dieses Auf-sie-hinunterschauen noch nicht so ausgeprägt gewesen. Und nicht zuletzt hatte auch Yannick zunehmend ein eigenes Leben. Er musste immer mehr Zeit für die Schule investieren, und dann war da natürlich das Training, die vielen Auswärtsspiele – und dabei verbrachte Yannick ja sogar seine freie Zeit stets zu Hause. Er war als Einzelgängertyp nicht ständig auf Achse und mit Freunden unterwegs.
Amy tastete wie zufällig über ihren Bauch, der dicker geworden war, über ihre Taille, die breiter war – weiblicher. Erwachsener. Und in gewisser Hinsicht machte ihr das Angst und sie verschloss sich davor. Wollte davor flüchten – in ihr Kindheit zurück. Bloß dass das immer schwieriger wurde. Amy war nie wie andere Kinder gewesen. Sie hatte sich inzwischen recht gut unter Kontrolle, aber trotzdem waren da immer noch die Besonderheiten, Probleme. Amy war nicht einfach nur verträumt und still, das war nicht einfach nur ihr Charakter. Irgendetwas stimmt mit mir nicht.
Amy richtete sich auf, sah sich einen Moment im Zimmer um, betrachtete die Bilder an den Wänden, die sie gezeichnet und gemalt hatte und von denen sie manchmal das Gefühl hatte, sie würden mehr erzählen als das, was auf ihnen zu sehen war. Als würden sie etwas Verborgenes – und zwar etwas Düsteres – erzählen, das nicht einmal Amy, die Künstlerin, selbst verstand.
Amy kletterte aus dem Bett, innerlich unruhig und ruhelos wie so oft, und verließ das Zimmer. Das Wohnzimmer lag zur Sonnenseite hin, die Sonne knallte durch die hohen Scheiben, die Amy so gut gefielen, und der helle Laminatboden blendete sie beinahe. Sommer. Sonne, Wärme, Licht. Amy öffnete die Balkontür und trat auf den großen Balkon, auf dem sie heute Morgen gefrühstückt hatten. Sie schloss einen Moment die Augen, als die Sonne auf ihr Gesicht schien, dann vernahm sie unter sich Geräusche und wagte einen Blick über die Brüstung.
Ein beigefarbener Boxer lief durch den Garten der Brückers, die unter ihnen wohnten, und ließ seine Zunge weit aus dem Mund hängen. Amy vermisste Ginny mit einem Mal sehr.
»Baya!« Amy zuckte zusammen, als ein Mädchen dem Hund hinterherlief. Sie sah mit ihren dunklen Locken, der eher kräftigen Figur und ihrem braungebranntes Surfer-Gesicht Leon sehr ähnlich. Das musste seine kleine Schwester sein. Sie hockte sich auf die Wiese und rief noch einmal: »Baya!«
Baya stand einen Moment auf der Wiese und schien zu überlegen, ob sie ihrem Frauchen gehorchen sollte oder nicht. Dann trabte sie auf Leons Schwester zu und bekam eine Streicheleinheit.
Amy stand ganz still auf dem Balkon, mit angehaltenem Atem, um bloß nicht bemerkt zu werden. Schließlich zählte sie leise bis drei, dann trat sie rückwärts wieder ins Wohnzimmer und verschloss die Tür.
Sie schlich in die Küche und stand einen Moment unschlüssig da. Dann beschloss sie, für heute Abend, wenn Yannick und Markus aus der Sportklinik nach Hause kamen, zu kochen. Sie und Yannick hatten immer schon viel Tiefkühlkost und Nudeln gegessen – was sollen kleine Kinder anderes essen, wenn sie alleine zu Hause sind? –, doch vor einiger Zeit hatte Amy das Kochen für sich entdeckt.
Sie entschied sich mit Blick aufs Thermometer für Blätterteig-Schinken-Spinatrollen und dazu einen Salat, schaltete Disney-Lieder ein und war schließlich so im Flow, dass sie kurzerhand noch Brownies hinterherbuk. Gerade, als sie das Blech mit dem duftenden Schokoteig aus dem Ofen zog, ging die Haustür auf. Sie schlüpfte schnell aus den Backhandschuhen und pausierte das gerade laufende Lied.
Yannick kam als erster in die Wohnung, streifte sich wortlos seine Schuhe von den Füßen und stürmte sofort weiter in sein Zimmer, wo die Sporttasche mit einem hörbaren Knall in der Ecke landete.
Markus schloss die Wohnungstür mit einem mindestens ebenso lauten Knall und befreite sich mit Gewittermiene aus seinen Schuhen. Dann sah er Amy in der Küche stehen und sein Gesicht glättete sich, auch wenn ihn das sichtbar Anstrengung kostete. So war das immer. In Amys Gegenwart wurde er ruhiger, riss sich zusammen, nahm sich gegenüber Yannick zurück. Amy wusste das zu schätzen, gab es doch nichts, was sie mehr hasste als laute Stimmen und Streit.
»Hallo«, presste Markus hervor und starrte von den extra hübsch angerichteten Spinatrollen über den Salat und die Brownies zu Amy. »Du hast gekocht.«
»Ja«, murmelte Amy und blickte zu ihm auf. Für Yannick und dich. Bitte sei wieder guter Laune! Sei fröhlich und nett!
»Schön«, sagte Markus, und wenn er dabei wirklich gelächelt hätte, dann hätte er Amys stumme Bitte erhört. »Auf dem Balkon müsste es eigentlich ganz angenehm sein.«
Also deckten sie den Balkontisch. Mit einem vorsichtigen Blick über die Balkonbrüstung stellte Amy fest, dass jetzt niemand mehr im Garten unter ihnen war.
»Es sieht sehr lecker aus«, sagte Markus und meinte es ehrlich, und jetzt lächelte er, und Amy lächelte zurück, in der Hoffnung, dass ihn das noch fröhlicher machen würde, und haderte ganz kurz mit sich, dann schlang sie die Arme um ihn. Sie war so klein, dass sie ihren Kopf genau auf seiner Brust ablegen konnte.
Sie spürte Markus’ Hand auf ihrem Kopf, wo er ihn sanft streichelte, und das war etwas ganz Besonderes für sie, wo er doch so selten da war und noch seltener in einer liebevollen Stimmung. Es war stets, als würde ein kalter Stein für einen ganz kostbaren Moment warm werden.
»Und du hast auch die Fenster schon geschmückt«, raunte er.
Amy blinzelte zu ihm hoch. »Das ist dir aufgefallen?«
»Na klar! Du bist doch … die gute Fee in diesem Haus.«
Amy musste lächeln und schloss einen Moment die Augen, um diese Worte in sich aufzusaugen.
Dann kam Yannick nach draußen, und Amy konnte fast spüren, wie der Stein wieder erkaltete. Sie löste sich von Markus und sie setzten sich hin.
»Es riecht echt lecker«, sagte Yannick zu Amy und griff nach der Salatschüssel. »Und so gesund …!«
Markus schaufelte sich mit einer Miene, die wieder so versteinert war wie bei seiner Ankunft, Spinatrollen auf den Teller. Dann klingelte sein Handy. Markus legte die Gabel, mit der er gerade das erste Stück seiner Spintrolle in den Mund hatte schieben wollen, auf seinen Teller zurück, erhob sich und meldete sich auf dem Weg ins Wohnzimmer mit den Worten: »Kettler, was gibt’s?«
Yannick und Amy sahen ihm einen Moment durch die Scheibe dabei zu, wie er erst dastand und lauschte, dann verschwand und kurz darauf mit Notizzetteln zurückkam. Kettler war sein neuer Headcoach. Dieses Gespräch würde lange dauern. Es war wieder alles wie immer. Der Alltag war wieder eingekehrt.
Yannick schob sich eine ganze Spinatrolle auf einmal in den Mund und schmatzte Amy an. »Die riechen nicht nur lecker, die sind auch lecker. Dir kann ich das ja sagen, ohne dass du mich gleich für den faulsten, verfressensten, ungesündesten Menschen auf der Welt hältst.« Es klang Bitterkeit in Yannicks Stimme mit.
Amy senkte den Blick und schob ein Maiskorn auf ihrem Teller hin und her. »Dann waren die Tests also nicht so gut.« Yannick antwortete nicht, doch sein Blick gab Aufschluss genug.
»Ehrlich, Amy … ich freue mich überhaupt nicht aufs Training«, murmelte er irgendwann und starrte seine halbe Blätterteigrolle an, als wäre ihm der Appetit mit einem Mal vergangen.
»Vielleicht musst du nur … erst wieder reinkommen …«
Yannick sah Amy einen Moment an, dann umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel. »Wenn ich dich nicht hätte, Hasenherz. Dann wäre ich schon längst verrückt geworden mit Papa. Rennt immer mit so einer Fresse durch die Gegend, kann sich scheinbar nicht einmal über seine Chance in der ersten Liga freuen, aber meint, mir ein Vorbild sein zu wollen, was einen motivierten Sportler angeht. Als würde mir sein Leben eine Profikarriere schmackhaft machen! Ich sage dir, was ich gleich mache: Ich fresse das halbe Blech von den Brownies, die mich unfit und krank und träge machen, ganz alleine. Und danach rauche ich eine Zigarette. Mein Beitrag zu dem Thema.«
Amy starrte Yannick an, wartete auf ein Anzeichen, das ihr verriet, dass er das nicht ernst meinte, aber es gab keins. Er war nicht einfach nur verärgert, er war bitter, in seiner Miene schimmerte etwas wie Provokation, wie Rebellion. Ein ganz neuer Ausdruck an ihm.