Читать книгу Nach dreizehn Jahren - Sofie Schankat - Страница 6
ОглавлениеSommerferien
Ich habe Angst. Ich habe solche Angst. Da ist irgendetwas. Es ist so dunkel und kalt. Ich will weglaufen, aber ich bin wie gelähmt. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist falsch. Ich will schreien, aber es kommt nichts aus meinem Mund. Ich klebe an meiner Matratze fest. Ich kann nicht aufstehen, ich kann mich nicht einmal umdrehen, ich klebe fest, mein Rücken klebt fest. Es ist so dunkel, die Dunkelheit kommt immer näher, sie rückt auf mich zu, sie packt mich, sie ist kalt, sie fesselt mich und hält mich fest, sie erdrückt mich. Yannick! Yannick! Er ist nicht da! Er ist weg! Ich habe solche Angst! Wo ist er? Warum ist er nicht hier? Was ist passiert? Ist er gestorben? Hat die Dunkelheit ihn verschluckt? Nein, Yannick, du musst bei mir sein! Wo bist du? Nein, nein, nein, Yannick, »nein, Yannick!«
Amy Sladowski riss die Augen auf. Sie saß aufrecht im Bett. Ihr Schlafanzug klebte an ihrem Körper und ihre dunkelblonden Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Ihr Herz pochte wie wild und ihre Augen waren feucht. Ihr Kopf dröhnte, ihr Körper war starr vor Angst, sie saß wie gelähmt da, konnte sich nicht bewegen. Noch immer war es dunkel um sie. Diese Dunkelheit aus ihrem Alptraum war immer noch da. Die bedrohliche Dunkelheit. Ein Schatten. Ein dunkler Schatten. Amy zuckte. Sie starrte ins dunkle Zimmer hinein, in dem es jetzt ganz langsam heller wurde. Langsam nahm Amy das Licht wahr, das durch die Jalousien schon ins Zimmer fiel. Langsam beruhigte sie sich wieder, atmete ruhiger, konnte sich bewegen, und in ihren Körper kroch die Wärme zurück, die in diesem Dachzimmer Ende Juli auch nachts herrschte. Von draußen vernahm Amy jetzt das Zwitschern von Vögeln, die mit der Dämmerung langsam zu singen begannen. Und auch gleich neben sich hörte sie jetzt etwas. Das vertraute, gleichmäßige, ruhige Atmen ihres Bruders. Sie bewegte langsam den Kopf und sah auf Yannick hinunter, der selig schlief; die Decke hatte er im Schlaf von sich gestoßen und einen Arm merkwürdig unter seinem Oberkörper vergraben.
Der Anblick ihres schlafenden großen Bruders, ihres Helden und Beschützers, holte Amy endgültig aus der Schreckensstarre. Sie tastete auf der Matratze nach ihrem Plüsch-Pinguin Penny, legte sich wieder hin, zog trotz der Hitze die Decke über sich und schmiegte sich an Yannick an, der mit seinem tiefen Schlaf nichts von ihrer Unruhe wahrgenommen hatte.
So lag Amy lange mit offenen Augen, obwohl sie vor Müdigkeit brannten, starrte ins Zimmer hinein und sah zu, wie die Tapete immer mehr Rosa annahm, je heller es draußen wurde.
Als Yannick aufwachte, blinzelte er geradewegs in das Gesicht seiner schlafenden kleinen Schwester. Amy lag an ihn geschmiegt da, ihren Plüsch-Pinguin Penny zusätzlich an ihre Brust gepresst, und sah wie immer im Schlaf nicht ganz friedlich, sondern vielmehr etwas angespannt und unruhig aus.
Sie hatte sich an ihm wieder einmal eingerollt wie ein Kätzchen; er spürte ihre Brüste an seinem Oberkörper und ihr Hintern lugte unter der Decke hervor. Ein kräftigerer Hintern als früher. Amy war weiblich geworden. Nicht einfach nur reifer, wirklich weiblich. Sie hatte richtige weibliche Kurven bekommen, füllige Brüste und kräftige Oberschenkel und sogar so etwas wie ein kleines Bäuchlein. Amy war nicht dick, auch als pummelig hätte man sie nicht bezeichnen können – sie war einfach an den richtigen Stellen fülliger geworden. Sie war ja auch schon sechzehn Jahre alt.
Plötzlich regte sie sich, schlug ihre blaugrünen Augen auf, in denen seit jeher Misstrauen und Angst lag, Argwohn, aber auch ebenso viel Liebe, Sanftmut und Wärme. Wie so oft sahen sie sich beim Erwachen in die Augen, ganz und gar vertraut miteinander. Sie verstanden sich stumm.
Ihre vollen Lippen umspielte ein Lächeln. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen.« Yannick streckte seine Hand aus und gab ihr mit dem Zeigefinger einen Stupser auf die zarte Nase. Das war seine Art, ihr seine Zuneigung und Liebe zu zeigen. Ein sanfter, neckischer Stupser auf die Nase.
Und wie immer brachte Amy das zum Lächeln. Sie versteckte ihre Nase rasch unter ihrem Pinguin und revanchierte sich mit einem Pikser in seinen Bauch. Yannick musste grinsen und knuffte zurück.
»Nicht!«, murrte Amy ohne Nachdruck und gähnte. »Ich bin noch nicht richtig wach.«
Yannick setzte sich im Bett auf und streckte seine Arme, dass es knackte. »Weißt du, was wach macht? Frühstück.«
»Ich glaube, ich habe in diesen Ferien schon fünf Kilo zugenommen «, murmelte Amy und machte keine Anstalten, sich zu rühren, als Yannick aufstand und die Jalousien hochzog. »Bei Mama gibt es einfach zu gutes Essen!«
»Ich habe doch doppelt so viel gegessen wie du, und ich habe nicht den Eindruck, auch nur ein Gramm zugenommen zu haben.«
»Du hast auch Glück mit deinem Stoffwechsel. Du bist und bleibst dünn.«
Yannick hatte das Dachfenster aufgedrückt und spähte durch den Spalt. »Oh, Mama hat schon den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt! Es gibt Croissants! Und Obstsalat!« Er ging zum Bett und zog Amy die Decke weg. »Los, steh endlich auf, sonst esse ich dir alle Croissants weg!« Damit war er aus dem Zimmer.
Amys Kopf fühlte sich schwer an, hinter ihrer Stirn pochte es und ihre Augen brannten. Ihre ständigen Schlafmangelerscheinungen. Aber dass Yannick ihr die Croissants wegaß, das konnte sie nicht zulassen. Also rappelte sie sich auf, legte Penny liebevoll auf ihr Kissen und deckte ihn zu, dann lief sie ihrem Bruder hinterher die schmale Holztreppe hinunter.
Ihre Mutter Veronica Treu wohnte den größten Teil ihrer Zeit in dem kleinen alten Dünenhaus gleich am Meer in Holland. Sie hatte es vor einigen Jahren erworben und sich somit einen Traum erfüllt. Lange Spaziergänge am Strand, frische Seeluft in der Nase, windzerzauste Haare und das Rauschen der Wellen in den Ohren waren seitdem ihr Alltag, der ihr jedoch nicht langweilig geworden war. Den anderen, weitaus geringeren Teil ihrer Zeit verbrachte sie in ihrem Apartment in Hamburg, oder in Hotels, wenn sie gerade auf Lesereise war. Die machte sie jedoch nur äußerst selten. Veronica Treu war Bestsellerautorin, weltweit begeistert gelesen, und sie gehörte zu der Sorte Autoren, die am liebsten nur hinter ihrem Schreibtisch saßen und schrieben, schrieben, schrieben, mit den Worten kämpften, mit den Figuren haderten, in aller Einsamkeit und Ruhe überlegten, sinnierten, ihren exzentrischen Gewohnheiten und Launen nachgingen und nichts von lästigen Lesungen, Autogrammstunden und überhaupt dem Auftreten in der Öffentlichkeit hielten. Sie gehörte gleichzeitig zu der Sorte Autoren, die wirklich Talent besaßen und ihre Arbeit als Kunst betrachteten und nicht als einen mit handwerklichem Geschick für die breite Masse auszuführenden Bürojob. Yannick hatte sich schon oft gedacht, dass das eine mit dem anderen bestimmt in Zusammenhang stand.
Als Amy auf die Terrasse kam, steckte sich Yannick gerade bereits grinsend seine erste Croissant-Hälfte in den Mund. Veronica saß ihm gegenüber, eine Kaffeetasse und einen Notizblock vor sich. Veronicas ständiger Begleiter war ein Notizblock. Jetzt gerade kritzelte sie wie wild darin herum, kreiste so energisch Dinge ein, strich andere wieder durch oder versah sie mit Pfeilen, dass das Papier ratschte. Als Amy sich neben Yannick setzte, sah sie nur flüchtig auf. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
Amy sicherte sich schnell ein Croissant und schnitt es auf, wobei sie ihre Mutter unauffällig beobachtete. Sie war weiblich gebaut, mit den Jahren fülliger geworden und eigentlich sehr hübsch mit ihren dunklen Locken, den blauen Augen und der Brille, die sie richtig nach einer Autorin aussehen ließ. Wäre sie nur nicht immer so traurig gewesen. In ihren blauen Augen lag beinahe immer diese bedrückte, wehmütige Traurigkeit. Wenn man Veronica Treu kannte, sie und ihre zurückgezogene, abwesende Art und ihre traurigen Augen, dann wusste man, dass die Worte, aus denen ihre Geschichten bestanden, geradewegs aus ihrem Herzen kamen.
Amy und Yannick waren jetzt endlich in dem Alter, in dem sie die Romane ihrer Mutter lesen konnten. Dramatische Liebesromane waren das, in denen stets Schicksalsschläge, gebrochene Herzen und verwundete Seelen vorkamen. Ein von Amy so sehr geliebtes Happy End hatten Veronicas Geschichten nicht, aber trotzdem mochte Amy sie, denn man konnte sich dennoch in ihnen verlieren. Yannick und Amy sahen ihre Mutter hauptsächlich als genau das, als ihre Mutter, aber sie, die sie beide gerne lasen, waren auch stolz darauf, dass sie eine Autorin war.
»Gehen wir gleich zum Strand?«, fragte Amy.
»Das fragst du noch?« Yannick spielte mit seinen Augenbrauen. »Du musst mich doch endlich beim Schwimmen schlagen!«
»Das werde ich nie schaffen, Yannick, das weißt du!«
»Vielleicht, wenn ich aus Versehen ganz viel Salzwasser auf einmal schlucke und es in die Augen bekomme und einen Moment orientierungslos herumrudere …«
Amy musste kichern. »Dann bin ich ja dadurch trotzdem nicht schneller als du.«
Veronica schob sich den Rest ihres Brötchens in den Mund und nahm den letzten Schluck Kaffee. »Hört mal, ich … ich gehe nur rasch in mein Arbeitszimmer und schreibe diese Szene hier, die ich gerade konzipiert habe. Ich bin gerade so im Flow …« Sie sah von Yannick zu Amy und wieder zurück, mit einer schuldbewussten, beinahe etwas flehenden Miene. »Okay?«
Yannick und Amy warfen sich einen Blick zu. »Du bist aber fertig, wenn wir zum Strand gehen?«
»Auf jeden Fall!«
Veronica war nicht fertig, als Amy und Yannick zum Strand gingen. Sie hatten es schon gewusst, als Veronica vom Frühstückstisch aufgestanden war. Weil das immer so war.
»Eigentlich ist es ein Wunder, dass wir es in diesen Ferien geschafft haben, nach Amsterdam zu fahren. Dass Mama nicht kurz vor der Abfahrt doch wieder ein Flow dazwischengekommen ist«, grummelte Yannick vor sich hin, als er und Amy auf dem Weg durch die Dünen zum Strand waren. Veronicas Beagle-Hündin Ginny lief einige Meter vor, dann blieb sie wie immer mit ungeduldiger Miene stehen, um zu warten, bis Amy und Yannick sie eingeholt hatten, bevor sie wieder vorlief. Ginny war die treuste Seele von Hund, die man sich nur vorstellen konnte. Fast so treu wie Veronicas früherer Hund, ein ruhiger, sanftmütiger, geduldiger und verschmuster Berner Sennenhund, dem Yannick immer noch nachtrauerte.
Amy sah zaghaft zu ihm hoch. »Wir machen uns aber trotzdem einen schönen Tag am Meer … vielleicht kommt Mama ja auch noch nach … und zum Mittagessen können wir uns wieder Fisch holen … es sind doch Sommerferien!«
Yannick schluckte seine grimmige Stimmung hinunter und lächelte Amy an. »Ja, natürlich!« Amy selbst war auch enttäuscht, dass Veronica wieder einmal keine Zeit hatte, obwohl sie sich doch nur so selten in den Ferien sehen konnten, aber noch mehr litt sie unter schlechter Stimmung und Streit.
Amy lächelte erleichtert zurück und blieb kurz stehen, um ihre Flip Flops auszuziehen, denn sie waren jetzt am Strand angekommen. Dann sprang sie fast ebenso leichtfüßig und verspielt durch den Sand wie Ginny.
Yannick beobachtete Amy von der Seite. Ihre dunkelblonden Haare flatterten im Wind, ebenso wie der leichte Stoff ihres Sommerkleides um ihre Beine. Amy trug beinahe ausschließlich Kleider. Im Sommer sowieso, aber auch im Herbst und Winter konnte man sich die Tage, an denen sie in einer Hose steckte, rot im Kalender markieren. Amy liebte luftige, bauschige Kleider, und am liebsten trug sie mädchenhafte, verspielte, romantische Kleider mit Blumenmuster. Dabei machte Amy sich nicht einmal fein. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben geschminkt, und das Aufwändigste, was sie mit ihren Haaren veranstaltete, war, sie zu einem Zopf zu flechten. Nagellack stank ihr zu sehr, vorm Ohrlöcherstechen hatte sie Angst und Ketten nervten sie. Aber trotzdem wirkte Amy in ihrer Schlichtheit stets … ja, fein, bezaubernd. Wie eine von den Prinzessinnen, die sie so sehr liebte. Keine eingebildete, verwöhnte Prinzessin, sondern eine zarte, stille Prinzessin, die dadurch jedoch eigentlich nur umso anmutiger wirkte.
In diesem Moment sah sie sich zu ihm um. »Was schaust du so?«
»Nur so. Ich habe mir nur gerade gedacht, dass du heute ein sehr schönes Kleid anhast«, sagte Yannick ehrlich.
Amy senkte ihren Blick wieder, doch ihr Lächeln verriet Yannick, wie sehr sie sich über das Kompliment freute.
Sie waren an Veronicas dauerhaft gemietetem Strandcontainer angekommen und machten es sich gemütlich. Der Strand füllte sich bereits zusehends und Ginny hatte schon einige Hundefreunde gefunden, mit denen sie am Meer entlangwetzte. Es war heute wunderbar am Strand. Immer noch so warm, dass man in Badehose hier sitzen konnte, jedoch bei weitem nicht mehr so erdrückend heiß wie in den letzten Tagen.
Yannick kramte seine Zigarettenschachtel hervor, zündete sich eine an, nahm den ersten Zug, ließ sich nach hinten in seinen Liegestuhl fallen und versuchte, den Strand ebenso wie den Rauch so tief wie möglich in sich aufzunehmen. Er reiste nicht besonders gerne, aber ans Meer war er immer schon gerne gefahren. Besonders gefiel Yannick am Strand die scheinbare Unendlichkeit. Man konnte weder das Ende des Strandes erblicken noch das des Meeres am Horizont. Eigentlich war es ziemlich verständlich, dass die Menschen früher geglaubt hatten, die Erde sei eine Scheibe und man würde einfach hinunterfallen, wenn man nur weit genug segelte.
Am Meer überkam Yannick stets eine gewisse Ehrfurcht vor der Schöpfung. Das Meer wirkte so mächtig und schien, wenn es wollte, all das vom Menschen Geschaffene und die Menschen selbst überrollen, mit sich reißen und zerstören zu können. Das Meer führte einem besonders eindrücklich vor Augen, wie mächtig die Natur selbst eigentlich war. Und wir Menschen treten mit Füßen darauf herum, dachte Yannick und betrachtete einen Moment die Kippe zwischen seinen Fingern. Dann seufzte er tief und nahm den nächsten genießerischen Zug. Was war denn heutzutage überhaupt noch umweltfreundlich? Funktionierte ein menschliches Leben auf der Erde überhaupt, ohne auf eine Sicht von Tausenden von Jahren alles zu zerstören?
Es war wunderschön hier. Yannicks Herz wurde schwer, wenn er daran dachte, dass die Zeit hier in einigen Tagen schon wieder vorbei wäre. Knapp drei Wochen hatten sie hier immer nur, dann mussten sie nach Deutschland zurück. Denn in der zweiten Hälfte der Sommerferien begann das Eishockeytraining wieder. Yannick spielte inzwischen bei den Junioren in der DNL, der deutschen Elite-Nachwuchsliga. In dieser Saison würde er in der Heschbacher Mannschaft spielen. Sie zogen nämlich wieder einmal um, Amy, Yannick und ihr Vater. Die vielen Umzüge brachte Markus Sladowskis Job als Eishockeytrainer mit sich. Diesmal zogen sie nach Heschbach. Markus, der früher Profieishockey gespielt hatte, hatte einen Vertrag als Assistenztrainer der Heschbacher Geparden unterschrieben. In der ersten Liga. Das war ein Aufstieg für ihn, wo er doch zuvor immer in der DEL2 trainiert hatte.
Yannick wäre viel lieber noch länger hiergeblieben. Er hatte keine Lust auf den Umzug, und auf die neue Mannschaft auch nicht. Und irgendwie hatte er auch überhaupt keine Lust auf seinen Vater. Mit dem stand er seit einiger Zeit irgendwie auf Kriegsfuß. Ständig bekamen sie sich in die Haare und Markus brüllte herum. Seit er herausgefunden hatte, dass Yannick rauchte, wurde er noch schneller reizbar. Markus hatte sich furchtbar aufgeregt und ihn angeschrien, was er sich denn eigentlich dabei dächte und dass er doch nicht jeden Scheiß mitmachen müsste und dass er doch Leistungssport betrieb. Und fast bei jedem Streit wiederholte Markus seitdem aufs Neue, was er von Zigaretten hielt. Yannick wusste sich zu verteidigen; was war denn zum Beispiel mit der NHL-Legende Mario Lemieux, der vor seiner Erkrankung eine halbe Schachtel pro Tag geraucht hatte? Ganz zu schweigen von einem Theo Fleury, der gewissermaßen von Drogen gelebt hatte?
»Die sind ja auch mit einem Wahnsinnsausnahmetalent gesegnet«, pflegte Markus dann zu kontern. »Aber nicht ganz so begabte Spieler können sich so was nicht erlauben, gerade heutzutage nicht mehr! Mann, dass du solchen Scheiß mitmachst …«
Dabei machte Yannick solchen Scheiß ja überhaupt nicht mit. Seine Schulkameraden wären wohl die Letzten gewesen, von denen er sich mitziehen ließ. Es war sein Lieblingsbuch gewesen. Drei Kameraden von Erich Maria Remarque, seinem Lieblingsschriftsteller. Remarque konnte Gefühle und Stimmungen beschreiben wie kaum ein anderer Autor. Yannick hätte sich von morgens bis abends nur mit Remarques pazifistischen Werken und auch mit der Person selbst beschäftigen können. 1898 geboren, hatte er den ersten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und auch den zweiten Weltkrieg erlebt. Von den Nazis wurden Remarques Bücher verboten und öffentlich verbrannt und ihm selbst die Staatsbürgerschaft entzogen, seine Schwester hingerichtet. In den USA, deren Staatsangehörigkeit er schließlich erlangte, war er ein geschätzter und angesehener Schriftsteller und er war sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Mit Im Westen nichts Neues, einem schonungslosen Antikriegsroman, in dem es um Paul Bäumer und seine Erlebnisse als Soldat im ersten Weltkrieg an der Westfront ging, wurde er über Nacht berühmt. In Drei Kameraden erzählte er von jungen Soldaten, die nach dem Krieg versuchten, ins Leben zurückzufinden.
Die drei ehemaligen Kriegskameraden Otto Köster, Gottfried Lenz und Robert Lohkamp versuchten sich nach dem ersten Weltkrieg eine Existenz als Automechaniker und Taxifahrer aufzubauen, allerdings liefen ihre Geschäfte mehr schlecht als recht. Ihr – und besonders Kösters – ganzer Stolz war das Rennauto Karl. Mit Karl, der beinahe so etwas wie ein vierter Kamerad war, gewannen sie Rennen und lieferten sich außerdem immer wieder einen Spaß auf offener Straße mit dem ein oder anderen protzigen Fahrer, der sie abschätzig überholen wollte. Denn Karl sah so alt und klapprig aus, dass ihm niemand zugetraut hätte, dass er so schnell werden könnte. An Robbys dreißigstem Geburtstag jagten sie wieder einmal in halsbrecherischem Tempo mit einem solchen Fahrer um die Wette. Sie hatten zufälligerweise dasselbe Ziel, ein Gasthaus, in dem sie Robbys Geburtstag feiern wollten. Und was stieg da hinter dem aufgebrachten Fahrer aus dem Auto, als sie angekommen waren? Patrice Hollmann, eine wunderschöne und charmante junge Frau aus einer besseren Schicht – Robbys große Liebe. Sie und Robby wurden trotz ihres unterschiedlichen sozialen Umfeldes ein leidenschaftliches Paar und Pat fügte sich wunderbar in Robbys Umfeld ein und wurde zu einem fünften Kamerad. Doch Pat litt an Tuberkulose, was Robby durch einen Blutsturz während eines Urlaubs herausfinden musste. Aufgeben tat er Pat jedoch nicht, im Gegenteil. Er versuchte, ihr das Leben noch so schön wie möglich zu gestalten, sie versuchten, ihre Krankheit zu vergessen und jeden Moment zu genießen, sie klammerten sich aneinander und ihre Liebe steigerte sich zuletzt in ein so intensives und unerschütterliches Ausmaß, dass es schon fast nicht mehr realistisch war. Am Ende starb Pat in Robbys Armen. Lenz war während einer politischen Auseinandersetzung ums Leben gekommen und Köster hatte sein heißgeliebtes Rennauto verkauft, um Robby den Aufenthalt im Sanatorium zu finanzieren, damit er bis zum Schluss bei Pat sein konnte. Am Ende hatte Robby drei Kameraden verloren: Lenz, Karl und Pat.
Drei Kameraden war das romantischste, traurigste, tragischste, herzzerreißendste und doch zugleich schönste Buch, das Yannick gelesen hatte. Diese Geschichte hatte es ihm einfach angetan. Liebe, Kameradschaft, das Schicksal, die soziale und politische Situation nach dem Krieg, Leben, Tod und Krankheit waren perfekt miteinander verknüpft.
Die drei Kameraden Otto Köster, Gottfried Lenz und Robert Lohkamp waren Yannicks persönliche Helden. Und die rauchten – wie jede von Remarques Figuren – alle drei, und auch, wenn es vielleicht absolut bescheuert war, so hatte Yannick irgendwie wissen wollen, wie sich das anfühlte. Er hatte sich ein bisschen wie Robert Lohkamp fühlen wollen, also hatte er im letzten Frühling eine Zigarette probiert, und sie hatte ihm wider Erwarten total gut geschmeckt. Er hatte dieses Prickeln und Kribbeln gemocht, und immer, wenn er jetzt rauchte, fühlte er sich wahrhaftig ein bisschen wie sein persönlicher Held. Und vielleicht war es insgeheim auch ein kleines bisschen wie ein stummer Protest gegen seinen Vater mit seinem Profisport und seinen Predigten darüber, wie man sich als ein zukünftiger solcher zu verhalten hatte. Yannick rauchte auch nicht viel; aber seine fünf Kippen am Tag genoss er in wortwörtlich vollen Zügen.
Was so etwas anging, war Veronica viel entspannter als Markus. Sie war nicht ständig hinter seiner sportlichen Leistung her, behauptete nicht, er würde zu viel essen, hatte noch nie ein Wort über seine Zigaretten verloren und akzeptierte ihn einfach so, wie er war.
Amy hatte ihre Leinwand gezückt, die sie sich mitgebracht hatte, setzte die Spitze ihres Bleistiftes darauf und machte den ersten Strich. Wenn es eine Sache gab, die Amy konnte, dann war das Zeichnen und Malen. Das war ihre Art, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, Dinge zu verarbeiten. Und ihr absolutes Lieblingsobjekt war Yannick. Eigentlich hatte sie die Leinwand mit an den Strand genommen, um einen Sommerferientag einzufangen. Mit faulen Badegästen, dem freundliche Wellen schlagenden Meer und einem wolkenlosen Himmel. Aber nun war sie doch wieder bei Yannick. Sie hatte alles an ihm lieb. Seine goldig-blonden Haare, seine dunklen Augen, seine freundlichen Züge, die zu große Nase, den Bartschatten, sogar die Nikotin-Fettpölsterchen … Ja, Yannick war erwachsener geworden. Was hieß erwachsener; er war erwachsen. In ein paar Wochen wurde er achtzehn.
Amy konnte nicht umhin, ihn von oben bis unten zu betrachten. Er war männlich geworden. Nicht muskulös; obwohl Yannick Eishockey spielte, baute er keine sichtbaren Muskeln auf, sondern war seit jeher schlank. Aber doch war er kräftiger geworden. Und behaarter. Amys Blick verweilte einen Moment auf seiner behaarten Brust, rutschte etwas tiefer zu seinem Bauch, auf dem sich ebenfalls Haare abzeichneten, die unter seine Badehose führten – Amy sah wieder hinauf, in sein Gesicht. Seine Züge waren auch männlicher geworden, und dazu der Stoppelbart.
Diese Männlichkeit ließ ihn noch viel mehr wie einen Helden und Beschützer wirken. Amy konnte noch viel mehr zu ihm aufsehen, seit er so erwachsen geworden war. Sie konnte sogar der Tatsache, dass er seit einem halben Jahr rauchte, etwas Positives abgewinnen: Auch das machte ihn männlicher, das passte zu ihm als ihrem Helden.
Plötzlich löste er den Blick aus der Ferne, in die er gestarrt hatte, voll und ganz in seine Gedanken vertieft, und sah Amy geradewegs an. »Was schaust du mich so an?«
Amy fühlte sich ertappt, senkte ihren Blick und spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. »Ich zeichne dich.«
Yannick stieß ein nicht ernst gemeintes Seufzen aus. »Warum zeichnest du immer mich?«
»Na, weil du mein Lieblingsobjekt bist. Und jetzt schau wieder nach vorne, ich muss deine Nase zeichnen!«
Yannick kam ihrer Bitte nach. »Dann mach sie wenigstens etwas kleiner.«
»Das wäre ja verfälscht!«
»Früher haben Maler die edlen Herrschaften auch immer zu ihrem Vorteil verfälscht. Wenn ich schon unfreiwillig als Model herhalten muss …«
»Deine Nase ist genau richtig so, wie sie ist!«, sagte Amy bestimmt, fühlte sich im nächsten Moment glatt schon wieder irgendwie ertappt und war froh, auf ihre Leinwand sehen zu können. Schließlich machte sie den letzten Strich, der vermutlich niemandem gefehlt hätte, der für Amy aber das Werk erst vollkommen machte. »Fertig!«
Yannick musste sich eingestehen, dass das Bild toll geworden war, auch wenn er selbst darauf zu sehen war. Sie hatte nicht einmal eine halbe Stunde gebraucht, um wieder einmal ein unglaubliches Bild zu zeichnen. Amy besaß die Fähigkeit, durch ihre Bilder etwas auszudrücken. Sie strahlten stets etwas aus, sie vermittelten Gefühle und Stimmungen. Und hier hatte sie es geschafft, Yannicks Nachdenklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Seine Augen schienen ganz weit weg zu sein, um seinen Mund lag … ja, so etwas wie Melancholie, seine Stirn ganz leicht gerunzelt … Aber das Beste war doch sein ferner Blick. »Du bist eine Künstlerin«, stellte Yannick wieder einmal fest und sah in ihre erwartungsvoll strahlenden Augen. »Ehrlich, das ist einfach toll geworden! Woher kannst du nur so gut zeichnen?«
Amy zuckte mit den Schultern und senkte wieder den Blick. »Komm schon, so gut ist es auch wieder nicht …«
»Keine falsche Bescheidenheit, Amy!« Yannick zückte sein Handy. »Das wird mein neues WhatsApp-Profilbild. Wenn das nicht genau das Richtige über mich aussagt …« Er tauschte sein altes Profilbild, auf dem er in Eishockeyausrüstung während eines Spiels zu sehen war, gegen Amys Zeichnung aus.