Читать книгу Nach dreizehn Jahren - Sofie Schankat - Страница 11

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Das erste Auswärtsspiel

Leon fand es natürlich wahnsinnig »cool« und »geil« und »mega«, dass sein neuer Nachbar und Sohn einer Legende, für die er Markus zu halten schien, auch sein neuer Mannschaftskamerad sein würde. Er hatte ihn sofort der ganzen Kabine vorgestellt und so getan, als sei er unwahrscheinlich stolz darauf, Yannick schon vor den anderen kennengelernt zu haben. Dann hatte er unter Beweis gestellt, dass er tatsächlich so gerne redete, wie Yannick es befürchtet hatte, und ihn jedem einzelnen vorgestellt, als würden sie verschiedene Sprachen sprechen und nur Leon könnte alle verstehen und dolmetschen. Es war sofort klar, dass Leon einer der Clowns und Stimmungsmacher in der Mannschaft war.

In den nächsten Tagen widmete sich Leon dann während des Trainings immer ganz besonders Yannick. Er erweckte aber dabei nicht den Eindruck, einfach nur nett zum Neuen sein und ihm die Aufnahme ins Team erleichtern zu wollen, sondern er schien Yannick wirklich gerne zu haben. Für Yannick, der es gewohnt war, zwar gemocht, aber eher ein bisschen als der ruhige, zurückhaltende, träumerische Bücherfreak abgestempelt zu werden, war das eine neue Erfahrung, von der er aber feststellen musste, dass er sie mochte. Er musste sich sehr schnell eingestehen, dass er Leon auch gerne hatte. Er war eigentlich sogar ein ziemlich netter Kerl. Vielleicht sogar, weil er so viel redete. Yannick bekam in seinem Beisein dadurch nämlich nie das unangenehme Gefühl, jetzt wohl mal etwas sagen zu müssen, und außerdem besaß Leon eine derart angenehme Art zu sprechen, dass man ihm den ganzen Tag hätte zuhören können.

Auch die übrige Mannschaft war ganz nett, wenn man von den hohen Erwartungen absah, die sie an Yannick Sladowski gestellt hatten, ganz so, als wäre sein Vater wer weiß wer gewesen. Gerecht geworden war Yannick den Erwartungen natürlich nicht, doch zu Yannicks Erleichterung waren seine Kameraden nicht noch einmal darauf zurückgekommen und nicht einmal Leon hatte ihn später darauf angesprochen.

Auf der einen Seite war es schön, wieder auf dem Eis zu stehen, doch auf der anderen Seite ertappte Yannick sich während der ersten Trainingsstunden immer wieder dabei, dass er unkonzentriert war und mit den Gedanken ganz woanders. Er hatte sich auch jedes Mal regelrecht dazu aufraffen müssen, zum Training zu gehen. Irgendwie wäre er lieber zu Hause geblieben und hätte gelesen, einfach nachgedacht oder in seinem neuen Zimmer herumgeräumt.

Er und Amy hatten jetzt alle Kartons ausgepackt. Am besten gefielen Yannick wie immer die Bücherregale. Er sortierte seine Bücher immer nach Themen und hatte zwei ganz besondere Regalbretter: Auf einem standen alle Bücher, die Veronica Treu geschrieben hatte, auf dem anderen seine Remarque-Bücher. Amys besondere Aufmerksamkeit galt ihrem dicken, edlen Märchenbuch, das einen Goldschnitt, ein glitzerndes Lesebändchen und gold-glitzernde Verschnörkelungen hatte, und ihren romantischen Liebesromanen. Keine dieser locker-leichten erotischen Romanzen, sondern die wirklich herzzerreißenden, tief unter die Haut gehenden, vor Kitsch – jedoch nicht zu dick und auffällig aufgetragenem – triefenden Geschichten. Aschenputtel war ihre absolute Lieblings-Liebesgeschichte, die praktischerweise auch gleichzeitig ein Märchen – natürlich ihr Lieblingsmärchen – war. Von Yannick angesteckt, konnte sie sich aber auch für Bücher wie Drei Kameraden begeistern – denn schließlich war Yannicks Lieblingsbuch auch eine Liebesgeschichte, und eine sehr herzzerreißende, tief unter die Haut gehende noch dazu.

Die Geschwister hatten einen sehr ähnlichen Geschmack, weil sie sich vielleicht auch gegenseitig von Anfang an geprägt hatten. Sie hatten Filme zusammen geschaut, sich Bücher vorgelesen, dem anderen von ihnen vorgeschwärmt und sich trotz anfänglicher Zweifel oft anstecken lassen und ihre eigenen Geschichten gemeinsam gesponnen.

Sie besaßen sehr viele Filme und Bücher. Sie lasen nur gedruckte Exemplare. Es gab für sie kaum etwas Schlimmeres als Ebooks. Ein Buch ohne duftende, raschelnde Seiten zwischen den Fingern und ohne ein Cover fürs Regal war doch kein Buch! Und Bücher konnten so schön aussehen. Manchmal hielt Yannick ein Buch einfach in den Händen und betrachtete es. Am schönsten waren dicke, gebundene Bücher mit Lesebändchen. Die sahen einfach am edelsten aus. Man durfte sich zwar niemals auf das Cover verlassen, wenn man auf der Suche nach einem guten Buch war, denn manchmal schien es fast, als wollte ein wunderschönes Cover einen weniger guten Inhalt ausgleichen, aber Yannick fand, ein gutes Buch verdiente auch eine wunderschöne Hülle.

Insgeheim träumte Yannick von einer kleinen Leseecke mit einem Sessel und einer Leselampe, aber die gab es leider nur bei Veronica. Ebenso wie Amy nie ein richtiges Atelier hatte. Dabei hatte sie neben Büchern über das Zeichnen, Farben, besonderen Papierarten, Leinwänden und sogar einer Staffelei von Veronica im Laufe der Jahre sogar einen Zeichentisch bekommen, das einzige Möbelstück, das ihr Eigentum war. Aber wirklich ausreichend Platz hatte sie dafür nie. Eine Ecke des neuen Zimmers sah jetzt aber doch nach einem richtigen Atelier aus mit dem Tisch und der Staffelei und den ganzen Farbtuben und -paletten. Das Zimmer war fast eine Mischung aus einer Bibliothek und einem Kunstatelier.

Seine Pucksammlung hatte Yannick auch aufs Regal gestellt, doch bei seinen alten, bereits eingerissenen, schon tausendmal mit Tesa aufgehängten Postern von Eishockeyspielern hatte er gezögert. Er hatte sich umgesehen und war der Meinung gewesen, sie passten nicht mehr recht. Er hatte sie mit einem seltsamen Gefühl wieder in die Mappe gelegt und sie in eine Schublade geschoben. Er konnte sich nicht helfen – ohne die Poster gefiel es ihm besser.

Ihm gefiel das neue Zimmer. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er ein bisschen unter Amys Schleich-Pferden und -Feen und Barbies und den knallpinken Vorhängen und ihren Herzchenkissen, die ebenfalls bei jedem Umzug mitgenommen worden waren, gelitten hatte. Aber seit einiger Zeit stellte er fest, dass ihn das überhaupt nicht mehr störte. Die rosenförmigen Kerzen und Lichterketten und die mit Glitzer besprühten Muscheln auf der Fensterbank und die in Szene gesetzten Cover ihrer Liebesgeschichten, ihre Prinzessinnen-Bilder und -Filme, das Die schöne und das Biest-Filmposter mit Emma Watson an der Zimmertür, das alles störte ihn nicht mehr. Das alles … mochte er, weil Amy es so sehr liebte. Weil ihr ganzer Mädchenkram, ihre Vorliebe für alles Pinke, Glitzernde, Romantische und Kitschige so gut zu Amy passte, weil das zu ihr gehörte, ein Teil von ihr war – und irgendwie mochte Yannick diesen Teil. Mehr als früher. Anders als früher. Er sah sie anders als früher. Vielleicht war ihm dieser romantische, prinzessinnenhafte, sanftmütige, zarte Teil an ihr auch erst vor kurzem überhaupt so wirklich aufgefallen.

Auch Amy mochte das neue Zimmer. Sie musste sich eingestehen, dass die neue Wohnung wirklich schön war; schöner als die in Biesfeld. Und als sie ihre Sachen ausgepackt, sich ihr kleines Atelier eingerichtet und ein paar Nächte überstanden hatte, fühlte sie sich bereits schon wohler und innerlich ruhiger – doch unweigerlich stand Yannicks erstes Auswärtsspiel vor der Tür.

Amy graute es seit jeher vor diesen Nächten. Wenn Yannick früher ins Trainingscamp oder auf Klassenfahrten gefahren war, war das für Amy die Hölle gewesen, weil Yannick tagelang am Stück nicht da gewesen war. Und je älter – erwachsener – sie wurden, desto öfter hatte Yannick Auswärtsspiele. Fast jedes Wochenende während der Saison.

Das Frühstück verlief ziemlich ungemütlich. Das erste Testspiel rückte näher und Markus war wie immer schon vollkommen in seiner Arbeit vergraben, gestresst und schlecht gelaunt, und fast war es, als wäre er dieses Mal sogar noch schlechter gelaunt als sonst. Und seine Zielscheibe war, wie seit einiger Zeit so oft, auch heute wieder Yannick. Die Tests, die besser hätten sein können, waren ein ziemlich schlechter Start zwischen den beiden in diese Saison gewesen. Und die Nikotin-Wolke, die Yannick nun vom Balkon mit an den Frühstückstisch brachte, machte Markus’ Laune natürlich nicht im Geringsten besser. Dann grabbelte er mit seinen Zigarettenfingern auch noch in der Brottüte herum. Markus rührte wild in seinem Kaffee. »Nutella? Muss das sein, Yannick?«

Yannick drehte das Nutellaglas gereizt wieder zu und zog sich die Käsepackung heran.

»Warum schaust du jetzt so angepisst?«, wollte Markus wissen und klang ebenfalls ziemlich angepisst. Manchmal vergaß er, zu Hause von der Eishockeykabinensprache umzuswitchen. »Ich frage mich so langsam, wie du dich bei deiner Mutter ernährt hast. Seit ihr wieder da seid, isst du ja nur noch ungesundes Zeug!« Markus’ Stimme wurde wieder ruhiger. »Ich arbeite ja jetzt mit Jakob Thiel.«

Na toll, der wieder! Markus hatte Yannick jedes Mal einen Vortrag gehalten, wenn etwas über Thiel in den Medien gestanden hatte. Was der schon alles erreicht hatte in seinem Alter und dass das absolut bemerkenswert und vorbildlich sei, mit welch einer Disziplin der trainieren musste und welchen Ehrgeiz der haben musste.

»Der ist achtzehn, ein halbes Jahr älter als du. Und weißt du, was für ein Leben der mit fünfzehn Jahren schon geführt hat?«, fuhr Markus auch prompt fort. »Der hat darauf geachtet, dass seine Ernährung stimmt, dass er in Topform ist, der raucht auch nicht und faulenzt auch nicht so viel wie du …« Da war er wieder, der leise Vorwurf, der deutlich genug jedes Mal in Markus’ Stimme mitschwang, wenn er wieder einmal von Thiel faselte.

Yannick musste in sich hineinseufzen. Er spürte plötzlich gleichzeitig Wut und auch Traurigkeit in sich. Je älter er wurde, desto öfter schien er Markus einfach nicht mehr zu genügen, desto öfter hatte Yannick regelrecht das Gefühl, ihn zu enttäuschen.

»Aber Jakob Thiel ist ja auch schon ein Profi«, murmelte Amy leise und blickte Markus über den Rand ihres Glases hinweg schüchtern an.

Er stieß ein Seufzen aus. »Ja, natürlich. Aber ohne diese Disziplin wäre er das noch nicht. Ich meine, ich war ja mit siebzehn auch noch kein Profi, aber ich war auf dem Weg dahin – mit der richtigen Disziplin. Mit dem nötigen Ehrgeiz.« Er stupste Yannick über den Tisch hinweg an. »Und du befindest dich doch auch auf dem Weg! Sieh zu, dass du nicht auf der Stelle stehenbleibst, verdammt! «

›Und du befindest dich doch auch auf dem Weg!‹ Amy warf Yannick einen Blick zu. Auf dem Weg, ein Profi zu werden? Mit genau so einem Alltag wie Markus? Der nie zu Hause und ständig unterwegs war?

»Wie fühlst du dich denn in der Mannschaft?«, fuhr Markus fort, als von Yannick nichts kam. »Ich glaube, mit dem Leon Brücker verstehst du dich ganz gut, wie? Nett von ihm, dass er dich auch heute mit zur Eishalle nimmt … Der macht einen sehr netten Eindruck – und einen durchtrainierten. «

Einschleimer, dachte Yannick ärgerlich und fühlte gleichzeitig ein merkwürdiges Ziehen in der Brust. Leon Brücker, der Vorzeigenachwuchssportler! War ja klar, dass Markus den ganz toll fand.

»Auf welcher Position spielt der eigentlich?«, wollte Markus wissen.

»Verteidiger.«

»Und? Ist er gut?«

»Ja, schon. Aber ich weiß nicht, ob er eine Profikarriere anstrebt.«

Markus nahm einen Schluck Kaffee. »Nun ja, es will ja auch nicht jeder Profi werden.«

Yannick starrte auf sein Brot hinunter. »Nein, das will wahrhaftig nicht jeder.«

»Und die anderen?«

»Sie sind ganz nett …«

»Das klingt doch gut. Dann nimm auch ruhig mal Anteil an deinen Kameraden. Gerade in den Ferien ist doch viel Zeit, um sich auch privat mal zu treffen. Ich weiß das noch von mir früher, wir sind ins Schwimmbad gefahren in den Ferien und .

Yannick tauschte einen Blick mit Amy, schaltete auf Durchzug und schob sein Käsebrot in sich hinein.

Leon Brückers Schwester, der beigefarbene Boxer Baya und eine Frau, die Leons Mutter sein musste, denn sie war ebenfalls dunkel gelockt und gebräunt, hatten Leon nach draußen begleitet. Die Frau schüttelte den Sladowskis herzlich die Hand, stellte sich als Anja Brücker vor und war tatsächlich Leons Mutter. Seine Schwester hieß Fabienne, begrüßte die Sladowski ebenfalls freundlich und offen und erklärte: »Aber nennt mich bitte Ienni!« Baya beschnupperte Amy mit einer etwas feuchten, aber freundlichen Nase. Anja und Ienni umarmten Leon zum Abschied und wünschten ihm ganz viel Spaß und Glück.

Markus klopfte Yannick auf die Schulter und ließ noch ein paar Tipps von einem echten Profi vom Stapel, bei denen Leon große Ohren machte. Amy nahm Yannick natürlich in den Arm, ganz, ganz fest. Yannick spürte ihren warmen, weichen, ihm so vertrauten Körper an seinem und blickte in ihre blaugrünen Augen hinunter, in denen wie immer Misstrauen und Argwohn lag und heute eine noch größere Traurigkeit und Bedrückung als sonst. Ein … ein heftiges Bedürfnis nach Liebe und Wärme und gleichzeitig die Angst, diese Liebe zu verlieren, lag in ihren Augen, deren Schönheit Yannick irgendwie plötzlich zum ersten Mal so richtig wahrzunehmen glaubte. Er war irgendwie einen Moment ganz gefesselt von ihrem tiefen Blick. Dann wurde ihm bewusst, wie tief er seinerseits ihr in die Augen sah, und zuckte leicht zurück. Er wusste, wie sehr Amy jeder Abschied schwerfiel, dass sie solch eine Angst vor Verlusten und dem Loslassen hatte, doch noch nie schien ihn das so berührt zu haben wie jetzt. Er selbst verspürte plötzlich auch den Drang, unbedingt bei ihr bleiben zu wollen. Er hatte sie immer über alles geliebt, doch noch nie hatte er selbst sich so schwer mit dem Abschied getan. Irgendwie … irgendwie war über den Sommer etwas mit ihm passiert. Es war, als sähe er Amy irgendwie anders, neu .

»Mach’s gut«, murmelte Amy leise und zog ihre feine Nase hoch.

Yannick gab ihr einen Stupser darauf, wie er das so oft schon getan hatte, doch noch nie hatte er so dabei gefühlt wie jetzt. »Du auch, Hasenherz. Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch! Du schreibst mir, oder?«

»Aber ja! Halt die Ohren steif!« Irgendwie war Yannick plötzlich verwirrt über sich selbst, über seine Gefühle, löste sich beinahe etwas ruckartig von Amy und ging auf Leons Mazda zu.

Amy sah ihm nach und hatte das eigenartige, noch nie da gewesen Gefühl, ihre Nasenspitze, auf die Yannick so zart und sanft gestupst hatte, würde brennen.

Bitte, lass ihn gut ankommen, lass ihn die Fahrt gut überstehen, schoben sich die quälenden Gedanken und Sorgen in ihren Kopf zurück, aus dem sie für einen Augenblick vertrieben worden waren von diesen ganz und gar komischen Gefühlen, die sie bei diesem Abschied, den es doch schon so oft gegeben hatte, überkommen hatten. Er kam ihr noch schwerer vor als sonst.

Ienni und Anja Brücker winkten dem roten Mazda nach, bis er um die Kurve verschwunden war. Kaum war er nicht mehr zu sehen, ließ Ienni ihre winkende Hand sinken und rüttelte ihre Mutter am Arm. »Fahren wir jetzt?«

Anja lachte. »Ich muss noch meine Handtasche holen, dann kann es losgehen.« Sie drückte Ienni die Hundeleine in die Hand und streckte ihre eigene Markus zum Abschied noch einmal entgegen, bevor sie im Haus verschwand.

Ienni warf ihre dunklen Locken über die Schultern und wandte sich geradewegs an Amy, die noch immer trübsinnig und zugleich verwirrt die Straße entlang starrte. »Mama muss heute nicht arbeiten und wir fahren shoppen und Eis essen.« Ienni lächelte Amy aufgeschlossen und freundlich an. »Hast du vielleicht Lust, mitzukommen? Am liebsten esse ich Schokospagettieis. Du kennst unsere Lieblingseisdiele bestimmt noch gar nicht. Da gibt es das leckerste Schokospagettieis, das du dir vorstellen kannst …«

Amy spürte, wie die Tränen sie überwältigten, sie drehte sich auf dem Absatz um und war im Haus verschwunden.

Ienni verstummte in ihrer Schwärmerei über die Eisdiele, in der Markus und Veronica vor so vielen Jahren Eis essen gegangen waren, und starrte die Haustür an, die mit einem leisen Klick wieder ins Schloss fiel.

Markus fuhr sich übers unrasierte Kinn und blickte Ienni an, von der er sich so sehr wünschte, dass Amy sich mit ihr anfreunden würde, was er aber insgeheim für ebenso unmöglich hielt, und hörte sich sagen: »Nimm es ihr nicht übel. Es geht ihr momentan nicht so gut.«

Heschbach gewann in Augsburg mit Sechs zu Fünf, ein Tor hatte Yannick geschossen. Er freute sich über den Sieg vor allem deshalb, weil er sich von Markus zu Hause dann nicht wieder einen Vortrag würde anhören müssen. Vielleicht würde er Yannick sogar loben. Wenn Markus Zeit dafür fand.

Die Spieler waren ausgelassen angesichts des ersten gewonnenen Testspiels, planten beim Abendessen schon die Siegesfeier, zu der sie nachher aufbrechen wollten, und alberten dabei lautstark und blödsinnig herum. Yannick schob still sein Essen in sich hinein. Diese gemeinsamen Abendessen ermüdeten ihn und strengten ihn an. Es war ja nicht so, als hätte man nicht schon von morgens an ununterbrochen zusammengehockt. Ab einem gewissen Punkt ertrug Yannick das nicht mehr und wollte einfach nur noch seine Ruhe haben. Er konnte die Ansicht, eins der schönsten Dinge beim Mannschaftssport sei das Zusammenhocken mit den Kameraden, nicht recht verstehen. Er beendete daher ziemlich schnell sein Abendessen und fegte nach oben.

Ein weiterer Vorteil daran, so schnell wie möglich aus der Gesellschaft zu verschwinden, bestand darin, dass man dann nahezu den gesamtem Waschraum für sich alleine hatte. Yannick machte sich rasch für die Nacht fertig, dann krabbelte er in sein Bett. Er schob sich Kopfhörer in die Ohren, nur, damit die Geräusche etwas leiser und gedämpfter zu ihm drangen und damit die Leute dachten, er wäre nicht ansprechbar, und zog Drei Kameraden aus seiner Tasche, das er sich mitgebracht hatte. Bücher und Chatten mit Amy, das half ihm immer, die Auswärtsspiele zu überstehen. Und heute hatte er wieder einmal sein Lieblingsbuch dabei. Yannick las viel, aber seit er Drei Kameraden vor einem Dreivierteljahr zum ersten Mal gelesen hatte, schob er die Bücher, die er eigentlich gerade las, oft beiseite, um wieder zu Drei Kameraden zu greifen.

Yannick war pingelig, was den Zustand von Büchern anging; er konnte durchgeknickte Buchrücken oder Eselsohren nicht ausstehen – aber seinem Lieblingsbuch sah man es an, dass es schon tausendmal in den Händen gehalten und durchblättert worden war. Yannick hatte es schon so oft quergelesen, überflogen, durchblättert und an bestimmten Szenen Halt gemacht, um sie noch einmal zu lesen. Er glaubte, dass es ihm niemals langweilig werden könnte. Das Schicksal von Robby, Pat, Köster und Lenz hatte es ihm angetan wie sonst kein anderes. Das Schicksal von Robby und Pat. Von Robby, der sich gleich zu Pat hingezogen fühlte, von dem der Leser gleich wusste, dass er verliebt war, der es selbst aber lange noch nicht wusste oder es sich nicht eingestehen wollte. Dass dieses Mädchen seine große Liebe war. Sein kurzes Glück, an das er sich zunächst weigerte zu glauben, daran, dass er sich bei ihr fallen lassen konnte. Weil ihn der Krieg und die Nachkriegszeit gelehrt hatten, dass es wohl auf der Welt kein Glück geben konnte, zumindest keins, dem nicht unweigerlich eine noch größere Leere als vorher folgen musste. Aber schließlich konnte er sich selbst nichts mehr vormachen. Als ihm bewusst wurde, dass er für sie anders fühlte als für andere Frauen und dass er viel mehr von ihr wollte als bloß ihren Körper. Als er begann ihr vorzulügen, durch Südamerika gereist zu sein, und ihr die Eindrücke aufzutischen, die eigentlich Lenz dort gesammelt hatte, aus lauter Angst, andernfalls zu wenig für sie sein und sie verlieren zu können. Als er mit der Prostituierten Lisa nicht mehr schlafen konnte, weil das Untreue für ihn war. Als er ihr einen Hund schenkte, damit sie jemanden hatte, während er versuchte Geld zu verdienen, damit sie keinen Grund hätte, sich mit einem anderen Mann die Langeweile zu vertreiben. Als er, der harte Robby, zu weinen begann, weil Pat den Blutsturz überlebt hatte. Als er erfuhr, wie es um sie stand, dass ein unvermeidlicher Aufenthalt im Sanatorium kurz bevorstand – und ab da war er alles für Pat. Ab da nahm er jede Gelegenheit wahr, ihr zu zeigen, wie viel sie ihm bedeutete, dass er sie trotz ihrer Krankheit mit Haut und Haaren liebte. Sie gingen gemeinsam durch die Straßen und stellten sich vor, sie seien reich und könnten sich die Pelze und Fracks aus den Schaufenstern kaufen. Auf dem Sterbebett versprach er ihr ein Kind, wenn sie nur erst wieder gesund wäre. Sie fantasierten auf eine so verzweifelte, krampfhafte Weise, um Pats Krankheit zu vergessen, Robby quälte sich selbst so verzweifelt mit der Hoffnung und der Zuversicht, an die er selbst und auch Pat nicht glaubten, um ihr Mut zu machen und stark und tapfer für sie zu sein – Robby tat alles für Pat, was Yannick auch für Amy getan hätte. Er mochte sie alle drei, Lenz, Köster und Robby, aber Robby war sein Lieblingscharakter. Weil er unter der harten und unnahbaren Schale romantisch und leidenschaftlich war und auch ein bisschen schüchtern und unsicher manchmal, weil er sich manchmal wie ein kleiner Tollpatsch und sehr kindlich verhielt, weil er einfach sehr menschlich war und man seine Gefühle und Gedanken nachvollziehen konnte. Aber am meisten mochte Yannick Robbys Hingabe, mit der er sich um Pat kümmerte und sorgte.

So wie ich mich um Amy. Beim Lesen hatte Yannick sich an mancher Stelle wahrhaftig an sich selbst und Amy erinnert gefühlt. Weil er das alles, was Robby für Pat tat, auch für Amy getan hätte. Robby Lohkamp war Yannicks Held. Er hatte ja sogar mit dem Rauchen angefangen wegen ihm. Ich bin gefühlsduselig, dachte er und lehnte sich in seinem Kissen zurück. Oder gefühlsselig. Das klang schöner, positiver.

Da flog die Tür auf, Yannick zuckte zusammen und wusste wieder, dass er sich in der Jugendherberge befand, wo er nie so ganz alleine mit seinen Gedanken und Träumereien sein konnte. Seine Zimmerkollegen polterten herein. »Mensch, Yannick, du liegst schon im Bett? Jetzt ist doch Parytime! Unser erster Sieg!«, grölte Pascal und machte sich an seiner Tasche zu schaffen.

Yannick zupfte sich seine Kopfhörer aus den Ohren und sah ihnen verärgert zu. Er hasste Auswärtsspiele.

»Was ist mit dir?« Leon, der auch auf Yannicks Zimmer war, erschien in der Tür und streckte sich im Rahmen. »Gehst du mit?«

»Nein. Ich bin nicht so der Typ fürs Feiern und Saufen und Spaß haben«, knurrte Yannick.

Leon warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Fürs Feiern und Saufen vielleicht nicht, aber das mit dem Spaß haben doch wohl!«

Nun war es Yannick, der skeptisch schaute. »Ach ja?« Er hatte die Erfahrung gemacht, von Jugendlichen gleich als Spaßbremse oder gar Langweiler abgestempelt zu werden, wenn man sich für Alkohol und laute Musik nicht begeistern konnte.

»Also, ich mag dich«, erklärte Leon, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, und löste sich vom Türrahmen.

Du kennst mich ja nicht einmal richtig, dachte Yannick.

Leon ließ sich auf sein Bett sinken. »Ich bleibe auch hier.«

»Du kannst ruhig gehen, Leon! Du musst nicht wegen mir hierbleiben!«

»Ich habe ja selbst keine Lust.« So hätte Yannick ihn nach dem ersten Eindruck nicht unbedingt eingeschätzt. Leon hatte auf ihn eher wie jemand gewirkt, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ und nichts langweiliger fand als Ruhe.

Doch als die Schritte, das Lachen und Reden und Türenknallen auf dem Flur schließlich verebbt war, ließ Leon sich mit einem zufriedenen Seufzer nach hinten in sein Kissen sinken. »Stille! Endlich!«

Yannick betrachtete ihn einen Moment. »Ich hätte eher gedacht, dass du nur glücklich bist, wenn um dich herum was los ist«, gab er dann zu.

Leon drehte sich auf die Seite und schob eine Hand unter seinen Kopf, um Yannick ansehen zu können. »Ich bin gerne mit Kumpels zusammen und gehe auch gerne feiern, aber ich weiß auch Ruhe zu schätzen.« Er lachte. »Ich war sogar total schüchtern als Kind. Bis zur siebten Klasse oder so habe ich mich nie gemeldet, weil ich Angst hatte, etwas Falsches zu sagen.«

»Mir war die Meinung der anderen schon immer mehr oder weniger egal.«

»Dabei bist du ja eher der stille, zurückhaltende Typ, oder?«

»Ich bin eben introvertiert. Das verwechseln viele mit Schüchternheit. Dabei hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun.«

»Als schüchtern hätte ich dich auch nicht bezeichnet. Eher als ein bisschen … abweisend.«

Yannick musste lächeln und Leon tat es ihm nach. »Liegt wohl daran, dass ich einzelgängerisch bin.«

Leon richtete sich etwas auf. »Also, wenn ich dich nerve …«

»Nein, ist schon okay.« Yannick hatte sich ebenfalls in sein Kissen gekuschelt und spielte gedankenverloren mit seinem In Ear-Kopfhörer herum, als eine Nachricht von Amy auf seinem Handy einging. »Ich freue mich so für euch!«, hatte sie ihm auf Yannicks knapp zusammengefassten Spielbericht geantwortet.

Yannick konnte nicht anders, als zu lächeln. Sein kleines Hasenherz, sein größter Fan. Egal, wie gut er bei dem war, was er tat, und egal, was er tat, Amy stand doch einfach immer hinter ihm und stärkte ihn mit ihrer Zuneigung und unerschütterlichen Liebe.

»Hast du denn auch einen schönen Abend?«, schrieb Yannick zurück.

»Ich überprüfe, ob meine Barbies den Umzug gut überstanden haben.«

Yannick musste schon wieder lächeln. Ihre Schleich-Tiere und Barbies hatte sie immer noch. Sie spielte nicht mehr mit ihnen, sah sie sich aber manchmal an und schwelgte dann in Erinnerungen daran, wie sie mit ihnen gespielt hatte. Amy war einfach etwas ganz Besonderes. Yannick konnte sich daran erinnern, dass er mit dreizehn, vierzehn, fünfzehn dieses Verhalten als süß belächelt hatte. Seit einiger Zeit dachte er anders darüber. Jetzt machte so etwas sie für ihn liebenswert. Er sehnte sich plötzlich sehr nach ihr. Sie war anders als andere Mädchen. Nicht nur wegen ihrer Probleme und Alpträume, obwohl sie vielleicht zum Teil auch deshalb so geworden war. So still und sanft und verträumt und feinfühlig. So liebevoll. Sie hatte früher sogar einmal einen kleinen Vogel, der scheinbar verletzt auf der Straße hockte, in ihre Hände genommen und darauf bestanden, ihn zum Tierarzt zu bringen, und wenn Veronica Spinnen und Schnaken erschlug, die sich in die Wohnung verirrt hatten, hatte sie stets geweint. Yannick musste warm lächeln bei dieser Erinnerung. Bei Amy fühlte er sich so lebendig und frei, wie er das bei einem anderen Menschen doch nie könnte. Sie war einfach wunderbar. Es gab kein Adjektiv, das sie besser beschreiben konnte. Sie ist eine Prinzessin. Bloß einen Prinzen braucht sie noch.

»Aber ich werde langsam ziemlich müde«, schrieb sie. »Ich werde wohl gleich ins Bett gehen müssen …« Dazu ein herzzerreißender Smiley.

Yannick streckte sich in seinem Bett aus und tippte ein: »Stell dir vor, dass ich bei dir bin, dich ganz fest im Arm halte, dass du dich an mich kuscheln kannst und mein Herz hörst.« Er suchte nach einem passenden Emoji, wählte denjenigen aus, der einen Herzchen-Kuss zuwarf, hielt inne, fand das plötzlich irgendwie komisch und wählte stattdessen das freundlich und etwas schüchtern lächelnde Emoji mit den zur Umarmung ausgestreckten Händen. Ja, das passte gut. Yannick schickte die Nachricht ab und hatte urplötzlich ein … ein Kribbeln im Magen. Ganz sacht und zart, ganz tief irgendwo in sich drin, aber dennoch spürte er es ganz deutlich. Er hielt inne, um dem genauer auf den Grund zu gehen, doch da schrieb Amy zurück mit dem Emoji mit den riesigen, schimmernden Augen, die ihre eigenen hätten sein können: »Wenn du doch nur wirklich bei mir wärst! «

»Das wünschte ich auch«, schrieb Yannick zurück und meinte es ernst. Er verspürte den Drang, sie jetzt im Arm zu halten. Wie er es gewohnt war. Er war auch in gewisser Weise darauf angewiesen. Oft genug schreckte er in Nächten, in denen sie getrennt schliefen, mitten in der Nacht aus dem Schlaf, tastete über die Matratze, suchte nach Amy – bis er dann so wach war, dass ihm einfiel, dass sie ja gar nicht da war. Er kam nicht halb um vor Angst, wenn sie mal nicht da war, aber er vermisste es trotzdem. Er vermisste sie. Es war, als wäre er nicht ganz vollständig ohne sie im Arm, als wäre sie in seinem Arm ein fester Bestandteil von ihm.

Was zum Kuckuck war das für ein Kribbeln? Was zum Kuckuck war das plötzlich für ein aufregendes, verlegenes Gefühl, mit ihr zu schreiben, ihr Emojis zu schicken? Yannick hatte ihr doch immer alle möglichen Emojis geschickt, ohne groß darüber nachzudenken, und plötzlich traute er sich nicht, seiner kleinen Schwerster ein Küsschen zu schicken? Sie hatten sich doch auch oft mit genau solchen Nachrichten einfach nur geneckt! Mit Amy konnte er doch jeden Scheiß machen, albern und dumm sein!

»Schreibst du mit deiner Freundin?«, drang plötzlich Leons Stimme zu ihm durch. Yannick zuckte leicht zusammen und drehte sich um. Er hatte beinahe vergessen, dass Leon mit im Zimmer war, und stellte verlegen fest, dass er mit dem Gesicht zu Yannick gewandt im Bett lag und ihn unverblümt beobachtete.

»Mit meiner Schwester«, stellte er schnell richtig. »Ich habe keine Freundin.«

Leon lachte. »Ach so! Sorry. Ich dachte nur …«

»Was?«

Leon musterte Yannick einen weiteren Moment mit einem undefinierbaren Blick, dann fragte er, ohne auf Yannicks Frage einzugehen: »Wie alt ist Amy eigentlich?«

»Sechzehn. Und deine Schwester?«

»Fünfzehn. Sie kommt in die zehnte nach den Ferien.«

»Amy auch! Auf welche Schule geht ihr eigentlich?«, wollte Yannick langsam wissen.

»Aufs Heine-Gymnasium.« Leon begann zu grinsen. »Sag bloß, da kommt ihr auch hin! Wie cool ist das denn? Nachbarn, Mannschaftskollegen und Schulkameraden! Kommst du auch in die zwölfte?«

»Ja.«

»Was für LKs hast du?«

»Deutsch und Geschichte.«

»Dann sind wir ja im selben Deutsch-LK! Ich habe nämlich als zweiten LK Sport, und das ist genau wie Geschichte ein Koop-LK.«

»Und wie ist unser Deutschlehrer so?«, fragte Yannick. Irgendwie freute es ihn plötzlich, dass er Deutsch mit Leon zusammen hatte.

Leon wiegte den Kopf. »Sehr anspruchsvoll. Ich gehöre leider zu denen, die Deutsch gewählt haben, weil sie nichts so richtig können – und dann kommt da so ein Herr Reimann um die Ecke. Der wäre an der Uni besser aufgehoben, wenn du mich fragst. Der leidet unter uns dummen Schülern. Naja, wenigstens schaut er mit uns viele Filme. Der hat bisher zu jedem Buch, das wir gelesen haben, Hunderte von Verfilmungen und Theateraufführungen angeschleppt und mit uns zentrale Szenen geschaut, um zu analysieren, wie gelungen oder weniger gut gelungen die Regisseure die Werke interpretiert haben.«

»Das hört sich nach einem spannenden Deutschunterricht an! So was mache ich in meiner Freizeit auch gerne.«

Leon starrte ihn entgeistert an. »Wie bitte? Du vergleichst in deiner Freizeit zentrale Szenen aus Filmen und den dazugehörigen Büchern?«

»Ja klar! Ich könnte mich damit stundenlang beschäftigen!«

Leon grinste breit. »Okay, ich erkläre dich jetzt schon zu Herrn Reimanns Lieblingsschüler!«

»Wie ist der Kurs denn so?«, wollte Yannick wissen und musste ebenfalls grinsen.

»Ach, es gibt schon auch einige gute Schüler.«

»Dann ist ja gut! Auf meiner alten Schule war ich in einem unterirdischen LK.«

»Wo habt ihr eigentlich vor eurem Umzug gelebt?«, wollte Leon wissen.

»In Biesfeld. Da war Papa ja Trainer.«

»Oh, im kleinen Biesfeld. Und, wie ist die Umstellung auf eine Großstadt?«

»Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir in einer Großstadt leben. Wir sind schon so oft umgezogen …« Yannick wurde ernster und musste seufzen. Das Thema Deutschunterricht hatte ihm deutlich besser gefallen. »Einer der Nachteile, wenn man einen Vater hat wie ich.«

Leon starrte auf seine angewinkelten Knie. »So habe ich darüber noch nie nachgedacht. Ich habe dich eigentlich ein bisschen um ihn beneidet«, gab er leise zu und warf ihm einen kurzen Blick zu. » Mein Vater interessiert sich nicht für Eishockey. Der fragt mich nie, wie das Training war, wie es momentan läuft.« Ein dunkler Schatten huschte über Leons Gesicht. »Ich habe mir schon oft gewünscht, er wäre einer dieser völlig begeisterten Väter, die früher immer über der Bande gehangen und sich im Verein engagiert haben und mit ihren Kindern mitgehen bis zum Geht-nicht-mehr. Deiner tut das doch bestimmt.«

»Es kann aber auch ziemlich nervig sein, einen Vater zu haben, für den es praktisch nichts anderes gibt. Der immer alles ganz genau wissen will und dir ständig Tipps gibt und sauer ist, wenn es nicht so gut läuft, der sich einbildet, man könnte wie ein Lukas Reichel spielen, wenn man sich mehr anstrengen würde …«

»Wahrscheinlich weiß er aus Erfahrung, dass man selbst diesen Ehrgeiz aufbringen muss, um es zu schaffen.«

»Ja, geschafft hat er es … aber was hat er denn letztendlich davon? Er ist nicht berühmt, nicht einmal in Deutschland. Hat wenig Geld verdient, ist von Club zu Club geschickt worden, musste sich abrackern … Fünf Jahre hatte er in seiner ganzen Karriere richtig Erfolg. Hat bei den Geparden in der ersten Reihe gespielt und ist sogar dreimal Meister geworden – aber über diese Zeit schweigt er sich tot. Er tut regelrecht so, als hätte es diese fünf Jahre Erfolg nicht gegeben. Und jetzt, wo er hier seine Chance als Trainer in der ersten Liga bekommt, da freut er sich nicht mal ein bisschen darüber, nein, seine Laune wird seit dem Zeitpunkt, wo er den Vertrag unterschrieben hat, nur schlechter und schlechter und schlechter. Ehrlich, wenn ich sein griesgrämiges Gesicht sehe, dann will ich meine Schlittschuhe am liebsten gleich an den Nagel hängen, wenn man als Profi so depressiv und bitter wird …« Yannick holte Luft und musste feststellen, dass es ihm besserging.

»Dein Vater hat bei den Geparden gespielt?«, horchte Leon auf.

Yannick gelang sogar ein klitzekleines Lächeln. »Ja. Amy und ich, wir sind sogar in Heschbach geboren worden.«

»Ach so. Dann bin ich da ja auch gerade erst geboren worden. Deshalb erinnere ich mich gar nicht daran. Ich bin immerhin schon Fan, seit ich denken kann!«

Yannick sah ihn einen Moment an. »Und du hast trotzdem nie etwas von Markus Sladowski gehört in all den Jahren? Er wurde nie erwähnt?«

Leon kratzte sich an der Nase. »Hmm, nein … ich kann mich zumindest nicht erinnern. Vielleicht ist es mir einfach entgangen, weil ich mit dem Namen ja nichts anfangen konnte …«

Yannick schüttelte den Kopf, insgeheim auch, um dieses komische Gefühl, das ihn plötzlich überkommen hatte, zu verscheuchen. Eine Legende war Markus schließlich trotz drei Meistertiteln nicht geworden und selbst seine eigenen Kinder hatten doch nie etwas über seine Zeit in Heschbach gehört. »Jedenfalls ist mein Vater im Grunde immer im Stress und meistens schlecht gelaunt und hat so wenig Zeit für seine Familie und alles andere, was nichts mit dem Sport zu tun hat. Meinst du denn, das hat sich am Ende gelohnt?«, fragte er, um das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu lenken.

Leon sah so aus, als hätte er viel lieber noch weiter darüber gerätselt, warum er in all den Jahren nie von Markus Sladowski gehört hatte, doch dann ging er auf Yannicks Themawechsel ein. »Wenn es das ist, was er immer wollte?«

Yannick konnte das nicht recht glauben. Dass Markus wirklich glücklich damit war, dass er der Auffassung war, es hätte sich gelohnt. Wäre er denn sonst immer so schlecht gelaunt und verbittert?

»Ich meine … dabei zu sein, mit Profis, als Teil von ihnen, Geld – wenn auch nicht viel – damit zu verdienen, für Zuschauer zu spielen, im Fernsehen übertragen zu werden … das alles hat doch was!«, fuhr Leon fort.

Yannick warf ihm einen Blick zu. »Willst du Profi werden?«

Leon schüttelte sofort den Kopf. »Nein. Ich mag den Sport wirklich, aber ich habe nicht vor, ihn zu meinem Beruf zu machen. Dafür bin ich auch nicht gut genug. Ich will Feuerwehrmann werden.«

»Echt?«

»Ja. Meine Mutter ist auch Feuerwehrfrau. Wenn ich Ferien habe, fahre ich manchmal mit ihr zur Wache.« Er lächelte plötzlich gedankenversunken. »Ich wollte schon immer Feuerwehrmann werden. Mich hat das schon als kleines Kind fasziniert. Die Einsätze, wenn alles ganz schnell gehen muss, mit den fetten Löschzügen und den Helmen und den Schläuchen …« Er kicherte kurz auf bei der Erinnerung. »Inzwischen möchte ich es machen, weil ich Menschen retten will und weil der Beruf nicht langweilig ist. Ich will nie im Büro arbeiten. Mein Vater ist bei einer Versicherung und hockt den ganzen Tag hinter seinem Schreibtisch. Ehrlich, da würde ich wahnsinnig werden!«

Yannick spürte, dass er plötzlich ein Nagen in der Brust hatte. Wie glücklich Leon doch sein konnte! Er hatte ganz normale Eltern mit gewöhnlichen Berufen, die sogar noch zusammenlebten, er war von einem normalen Leben umgeben und auch sein zukünftiges Leben würde normal sein. Etwas anderes kam für ihn gar nicht in Frage, etwas anderes kannte er gar nicht. Er musste doch wirklich sorgenlos und entspannt aufgewachsen sein.

»Was macht denn deine Mutter?«, wollte Leon wissen.

Yannick setzte sich im Bett auf. Krankenschwester, Bürokauffrau, Erzieherin, hätte er am liebsten gesagt. Irgendein ganz normaler Beruf, eine ganz normale Mutter. »Sie ist Schriftstellerin«, hörte er sich zäh antworten.

Leon riss die grünen Augen auf, wie Yannick es befürchtet hatte. »Schriftstellerin? So richtig mit einem Verlag und so?«

»Ja, natürlich. Sonst könnte sie ja davon nicht leben.«

»Profisportler als Vater, Schriftstellerin als Mutter … krass!« In Leons Blick lag doch wahrhaftig Neid.

Das ist kein Grund, neidisch zu sein. Wenn du wüsstest, wie das ist… Eltern, die nie ganz für dich da sind, die dich oft alleine lassen und launisch und gestresst sind …

»Wie heißt denn deine Mutter? Kennt man die?«

»Veronica Treu. Aber du gehörst wahrscheinlich eher nicht in ihre Zielgruppe.«

»Hmm … muss ich mal googeln.«

»Oder du lässt es einfach bleiben, weil es ohnehin schon genug nervt, so unnormale Eltern zu haben«, sagte Yannick heftiger, als er beabsichtigt hatte, und schämte sich im nächsten Moment schon dafür.

Leon hatte sich erschrocken ebenfalls aufgesetzt. »Sorry. Ich meinte nicht, ich wollte nicht …«

»Nein, mir tut es leid. Vergiss es einfach. Du wirst meine Mutter wahrscheinlich sowieso nie kennenlernen. Sie lebt in Holland.« Und mit einem Mal machten ihn seine getrennten, mehr oder weniger berühmten Eltern regelrecht wütend. »Sie haben sich getrennt, als ich ein Baby war«, fuhr er bitter fort. »Ich habe nicht einen Geburtstag oder ein Weihnachten mit ihnen beiden zusammen gefeiert. Eigentlich habe ich meine Mutter bisher in meinem Leben kaum gesehen, weil sie immer woanders gelebt hat. Seit ein paar Jahren nicht einmal mehr in Deutschland.«

Einen Moment war es still. »Das … das wusste ich nicht«, murmelte Leon dann und sah ehrlich betroffen und auch mitfühlend aus.

»Ich habe ja nicht einmal einen Streit zwischen ihnen mitbekommen oder so was«, fuhr Yannick leise fort und starrte in seinen Schoß. »Ich kenne es ja auch gar nicht anders, als dass sie getrennt sind. Und trotzdem beschäftigt es mich oft. Diese Vorstellung, wie zwei Menschen sich so sehr lieben können, dass sie heiraten und zwei Babys miteinander bekommen – und dann bricht alles auseinander und sie wollen scheinbar nichts mehr voneinander wissen.« Warum erzähle ich Leon das alles? Yannick hatte noch nie so offen über so persönliche Dinge mit jemandem gesprochen. Das zunächst so lockere Gespräch hatte sich in ein sehr tiefgehendes entwickelt. Das guttat. Er hatte plötzlich ein Gefühl von Freundschaft in der Brust. Ein sehr schönes Gefühl.

Nach dreizehn Jahren

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