Читать книгу Nach dreizehn Jahren - Sofie Schankat - Страница 5

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Prolog

Markus starrte auf die Pistole. Der dumpfe Aufprall auf dem Parkettboden hallte in seinen Ohren nach. Er starrte wie gelähmt auf dieses kleine schwarze Ding, das er nur aus Filmen kannte, und die Sekunden kamen ihm vor wie Stunden. »Woher hast du das?«, hörte er sich schließlich fragen, mit einer Stimme, die er nicht als seine erkannte. Er hob den Kopf, was sich anfühlte, als wäre sein Genick steif und mechanisch und eingerostet. »Woher hast du das, Richi?«

Richard hatte ebenfalls auf den Boden gestarrt, auf die Pistole, und vermutlich schaute er ebenso erschrocken-verdattert wie Markus. Allerdings war er wohl eher erschrocken über die Tatsache, dass die Pistole aus seiner Jackentasche geflogen war, als er die Jacke hatte ausziehen wollen, als über die Tatsache, dass er eine Waffe bei sich trug, die verdammt echt aussah und klang und es vermutlich auch war.

Markus starrte in Richards Gesicht, in das Gesicht eines seiner beiden besten Freunde und Kameraden. Er hatte geglaubt, den Mann, zu dem dieses Gesicht gehörte, sehr gut zu kennen. Das Gesicht mit der markanten Nase, mit den blauen Augen, den dunklen Haaren, die wie immer fransig in die Stirn und fast bis in die Augen fielen, mit dem Bartschatten und dem spitzen Kinn. Markus war es plötzlich, als würde er es zum ersten Mal sehen. Es war plötzlich anders. Was waren das für Schatten unter den Augen, was für rote Ringe, warum war das ganze Gesicht so … zusammengefallen? Wenn man jemanden täglich sah und schon lange kannte und ihn sich nicht mehr bewusst ansah, dann fielen einem Veränderungen nicht gleich auf. Doch in diesem Moment, wo Markus sich ihm mit einem Mal so fremd fühlte, wurde es ihm schlagartig bewusst: Richard war blass, ausgemergelt, übernächtigt, fertig. Und er stank schon wieder nach Alkohol.

Richard löste sich jetzt aus seiner Starre, machte einen unsicheren Schritt nach vorne, hockte sich hin, griff fahrig nach der Pistole, kam erst nach ein paar Anläufen wieder auf die Füße, musste sein Gleichgewicht neu finden und schob seinen linken Arm mit einer unkontrolliert ausholenden Bewegung in den Jackenärmel zurück.

»Du hast zu viel getrunken«, stellte Markus fest und spürte sein Herz schlagen.

»Er is … widder bei ihr«, lallte Richard und betrachtete die Pistole in seinen Händen, als hätte er noch niemals eine gesehen. Dann sah er auf, blickte Markus direkt an. Seine blauen Augen flackerten plötzlich.

Markus’ Herz wummerte. Richard war betrunken, und zwar richtig. Er war doch gar nicht mehr richtig da. Er war woanders. Vielleicht wusste er nicht einmal mehr, wen er hier vor sich hatte. Markus, seinen besten Freund, der mit all dem, von dem er in letzter Zeit ständig faselte, nichts zu tun hatte. Für den die Pistole nicht bestimmt sein konnte. Aber für wen dann? Wo hatte er dieses Teil her? Er gibt sich zuweilen mit komischen Typen ab, das hatte Joko schon immer gesagt. Markus und er hatten es immer dabei belassen. Markus, Joko und Richard waren drei grundverschiedene Typen, die auf dem Eis auf eine wundersame Weise perfekt miteinander harmonierten, und das hatte sie auch außerhalb des Eises zusammengeschweißt. Allzu ernste und tiefgründige Themen gab es nicht; das wäre auch nicht gutgegangen, weil dann drei völlig gegensätzliche Meinungen aufeinandergeprallt wären. Aber trotzdem hätte Markus für Richi und Joko seine Hand ins Feuer gelegt – und er wusste, dass die anderen beiden es auch für ihn getan hätten.

»Er is bei ihr«, riss Richard Markus aus seinen Gedanken. Er sah beinahe besessen aus und atmete plötzlich schwer vor Erregung. »Isch hab ihn heude gesenn. Er is jetzt widder bei ihr, un- uner knallt sie …«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt!«, unterbrach Markus ihn eine Spur heftiger, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Aber er konnte sich das einfach nicht länger anhören. Das war jetzt der endgültige Beweis dafür, dass Richard Wahnvorstellungen hatte. »Du hast zu viel getrunken, Richard! Du hast dir das eingebildet! Wahrscheinlich hast du einen Mann gesehen, der ihm einfach nur ähnlich sah! Er ist doch gar nicht hier, Mensch. Er ist doch in der Sommerpause in Schweden, wie imm-!«

»Nein!«, fiel ihm Richard so heftig brüllend ins Wort, dass Markus zusammenfuhr. »Isch bin nisch blöd, Makuss! Isch bille mir das nisch ein! Der Scheißkerl is widder hier! Verarscht hat der uns! Der is nisch in Schwedden, der is hier – bei Lenni, dieser Wichser …« Richards Hände schlossen sich fester, beinahe krampfhaft um die Pistole und mit einem Mal schien er gar nicht mehr so betrunken zu sein, sondern ziemlich klar bei Verstand und fest entschlossen. »Bei meiner Lenni, disser …« Sein Gesicht war verzerrt, seine Augen schienen noch röter geworden zu sein, in seinen Zügen lag so viel Hass, wie Markus es noch niemals gesehen hatte – Hass, aber auch ebenso große Verletztheit und ein Ausdruck von Angst. Und dann, von einer Sekunde auf die andere, veränderten sich die Züge, formten sich zu einem bitteren, schadenfrohen, grässlichen Grinsen. »Aber dasss wider büßen …«, murmelte er düster und lachte auf. »Dasss wider büßen …«

Die Pistole in seinen Händen machte Klick. Dieses Klick, wie man es aus dem Fernsehen kannte, fuhr Markus in alle Glieder, es war schrecklicher als Richards Grimassen, schrecklicher als seine Worte und sein Tonfall. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss Markus so vieles durch den Kopf. Er war ganz alleine. Nicki war nicht da – gut, dass sie nicht da ist, dass sie in Sicherheit ist –, sie war auf Lesereise, sie saß wahrscheinlich gerade ganz heimelig in irgendeiner Buchhandlung und las aus ihrem Buch vor. Nicht einmal der Hund war da, der musste wegen dem Eingriff über Nacht beim Tierarzt bleiben. Der hätte mich beschützt. Ein reinrassiger Berner Sennenhund. Markus liebte große, kräftige Hunde, die treu waren und beschützen konnten. Aber was nützte das, wenn der mit einer operierten Pfote in der Tierklinik lag? Er dachte an den kleinen Yannick, der oben in seinem Bettchen schlief – gut, dass der so einen tiefen Schlaf hatte und von Richards Brüllen nicht weinend aufgewacht war! Einen winzigen Moment schob sich ein Bild vor Markus’ inneres Auge, wie Nicki zurückkam, die Haustür aufschloss und Markus weiß und tot in einer Blutlache auf dem Flurboden liegend fand. Und Yannick ebenso weiß und tot oben in seinem Bettchen, auf einer von Blut durchweichten Matratze. Und in demselben Moment wurden Markus zwei Dinge vollkommen neu bewusst: wie sehr er seine Familie liebte und wie kostbar Leben war.

»Er hatsisch an meiner Lenni vergriffen …«, brachte Richard heraus, und zum dritten Mal veränderte sich sein komplettes Gesicht. Jetzt sah es wieder eingefallen und ausgemergelt aus, unglaublich alt und voll Angst und Schmerz. Ein gefährlicher Schmerz. Ein Schmerz, der blind und unzurechnungsfähig machte. Er drehte sich um, die Pistole noch immer in den Händen, schien gar nicht mehr zu wissen, dass Markus überhaupt da war.

Die Haustür fiel unpassend sanft ins Schloss. Markus stand da und starrte die geschlossene Tür an, dann merkte er, dass er zitterte, dass seine Knie butterweich waren, und er sank langsam auf den Boden, einen kleinen Moment drehte sich die Welt vor seinen Augen. Er war völlig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, er konnte nicht verstehen, was Richards Auftritt eben erahnen ließ, dass da ein oder mehrere Leben in Gefahr sein könnten, er hatte Angst, und in seinen Ohren hallte dieses Klick wieder und wieder.

Nach dreizehn Jahren

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