Читать книгу Nach dreizehn Jahren - Sofie Schankat - Страница 7
ОглавлениеAbschied
Veronica öffnete das kleine, schwarze Samtkästchen. Ein silberner, schlichter Ring steckte darin. Sie zog ihn vorsichtig und langsam heraus, drehte ihn zwischen ihren Fingern, dann spreizte sie die Finger der rechten Hand. Wie damals. Bloß dass es diesmal nicht Markus war, der ihr den Ring sanft und vorsichtig auf den Ringfinger schob, sondern sie selbst. Diesen schlichten silbernen Ring, der dennoch der wertvollste Schmuck war, den Veronica jemals besitzen könnte. Ein Ring. Das Symbol der Ewigkeit.
Amy und Yannick würden diesmal mit dem Zug zurückfahren. Markus holte sie diesmal nicht ab. Veronica würde ihn nicht sehen. Sie konnte nicht einmal sagen, ob sie erleichtert darüber war oder ob sie es irgendwo tief in sich drin sogar bedauerte. Dreizehn Jahre lang hatten sie sich wegen der Kinder immer wieder gesehen. Aber es wollte sich auch nach dreizehn Jahren einfach nicht angenehm anfühlen, ihm gegenüberzustehen. Denn da hingen noch immer so viele unausgesprochene Dinge, Fragen, Gefühle zwischen ihnen.
»Du hast deine Familie im Stich gelassen, Veronica. Du weißt, dass ich immer hinter dir gestanden und mich über deine schriftstellerischen Erfolge gefreut habe. Ich war so stolz darauf. Aber dass du deine Familie dafür verlässt…«
Da war sie wieder, die Stimme ihrer Mutter. Diese vorwurfsvolle, enttäuschte Stimme. Das Schuldgefühl war wieder da, das sie so oft überkam. Es war noch sehr früh, aber die Ruhelosigkeit eines Künstlers hatte sie aus dem Bett getrieben, wie so oft geradewegs in ihr Arbeitszimmer. Hier saß sie nun vor ihrem neusten Manuskript, doch sie konnte sich einfach nicht auf ihre Geschichte konzentrieren.
»Aber dass du deine Familie dafür verlässt …« Veronica stützte ihren Kopf auf die Hände auf. Sie hatte das Gefühl, dass diese Worte so ziemlich das einzige gewesen waren, was ihre Mutter ihr nach der Scheidung bei ihren seltenen Treffen noch gesagt hatte. Sie war von der ersten Sekunde an ein riesiger Fan von Markus gewesen. Die beiden hatten sich blendend verstanden; für Veronicas Mutter war er sofort wie ein Sohn gewesen, und sie für Markus die Mutter, die er so früh verloren hatte. Und als die Scheidung kam … da war sie auf Markus’ Seite geblieben. Veronica war für sie diejenige gewesen, die alles kaputtgemacht hatte und Schuld an der Trennung war.
Dabei wusstest du ja nicht einmal, was wirklich los war. Aber ihre Mutter hatte doch recht. Ich habe versagt als Ehefrau und Mutter. Hatte sie nicht Markus damals ewige Treue geschworen? Beistand in guten wie in schlechten Zeiten? Sie hatte ihn betrogen mit ihren Büchern und mit ihrer Angst. Markus. Der einzige Mann, den sie je geliebt hatte.
Wenn das alles damals nicht passiert wäre … vielleicht wären sie dann jetzt noch zusammen. Wir hätten das hinbekommen. Ich hätte das hingekriegt. Sie waren so jung und frisch verheiratet und im Grunde hatten sie doch gerade einmal Yannick mit Mühe geschafft. Veronica jedenfalls hatte das mit ihrer Familie nur mit Mühe hinbekommen. Sie hatte es mit Markus versuchen wollen. Eigentlich hatte es auch so gut gepasst – immerhin war er als Profisportler oft unterwegs gewesen und Veronica hatte somit viel Zeit alleine gehabt. Doch dann war so schnell Yannick gekommen und dann war das mit Amy passiert. Dann war alles aus dem Ruder gelaufen.
Eine Auszeit hatte sie sich nehmen wollen. Abstand. Und dann war sie nicht wiedergekommen. Weil ich zu feige bin. Sie hatte sich Markus niemals ganz anvertraut. Damit hatte sie ihn auch betrogen, denn er war immer für sie da gewesen, hatte immer ein offenes Ohr gehabt.
Sie hatte ihn und ihre Kinder im Stich gelassen. Ihre Mutter hatte ihr mit diesen Worten, die genau das sagten, was Veronica ohnehin wusste und was sie so belastete, das Messer noch tiefer in die offene Wunde gerammt. Und sie hatte es nie geschafft, es wieder ganz herauszuziehen.
Veronica wurde plötzlich bewusst, dass sie weinte. Sie sah Markus plötzlich wieder ganz lebhaft vor sich. Den jungen Markus, ihren Markus. Nicht den gestressten, alten, verbitterten Markus, zu dem er geworden war. Sie sah seine goldigen, weichen Haare vor sich, die Yannick auch hatte, genau wie die zu große Nase und die aufmerksamen, großen, tiefdunklen Augen. Zartbitteraugen hatte Veronica immer liebevoll gedacht, weil sie sie an Zartbitterschokolade erinnert hatten. Seine weichen, lieben, freundlichen Züge und der Dreitagebart. Yannick war ihm wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn Markus gelacht hatte – bis heute flatterte die Horde Schmetterlinge in ihrem Magen auf, wenn sie an sein Lachen dachte. Oder an seinen Schmollmund. Er hatte die Mundwinkel immer nach unten gezogen und die Unterlippe vorgeschoben wie ein kleines Kind.
Veronica hatte alles an ihm geliebt. Und doch hatte sie sich nicht getraut, ihn zu lieben, ihm das zu zeigen, zu geben. Sie hatte seine Liebe genommen, doch sie hatte Angst davor gehabt zu geben. Sie hatte Protagonistinnen entworfen, die das konnten. Die das sagen und tun konnten, was Veronica selbst sich nie getraut hatte. Markus hatte ihre Manuskripte und Bücher damals alle begeistert gelesen – aber ob er verstanden hatte, dass Veronica eigentlich durch ihre Protagonistinnen ihm etwas hatte sagen wollen?
Da war sie wieder, die Schraube, die sich in Veronicas Bauch grub, ganz tief und schwer. Und dieses nagende Gefühl in der Brust, als würde jemand ihr Herz anfressen. Veronica zog die Nase hoch und setzte ihre Brille ab, um sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln und von den Wangen zu wischen. Sie vermisste Markus. Sie hatte ihn schon eine Sekunde, nachdem sie gegangen war, vermisst. Aber auch damals war sie wieder zu feige gewesen. Du hast ihn losgelassen. Aber in sich drinnen hatte sie es eben nicht.
Und letztendlich hatte sie doch auch ihm ihren Ruhm und Erfolg zu verdanken. Denn ohne dieses fehlende Stück in ihrem Herzen, das sie bei ihm verloren hatte, hätte sie niemals so emotional schreiben können. Vielleicht war das das Schicksal eines jeden Künstlers: Einsamkeit, unerfüllte Träume und Sehnsüchte und eine aufgewühlte Seele, auf der so einiges lastete.
Du bist Bestsellerautorin. Veronica setzte ihre Brille wieder auf und sah zu dem Regal hinüber, in dem ihre Bücher standen. Auf denen Veronica Treu stand, deren Inhalt aus ihrem Herzen kam, aus denen sie ihre Kraft schöpfte. Du hast dir deinen größten Traum erfüllt, Veronica. Und wäre ihr das denn mit Markus, Yannick und Amy gelungen?
Manchmal, da hatte sie keinen Zweifel daran, dass sie sich für die richtige Sache entschieden hatte. Aber in ihren schwachen Momenten war sie sich dessen nicht mehr sicher. Doch eine Sache wusste sie: Ihre Kinder litten unter ihrer Entscheidung.
Yannick wird in ein paar Wochen achtzehn. Wie können wir eigentlich verantworten, dass er noch immer mit seiner kleinen Schwester ein Bett teilt und sie im Arm hält und sich Hörspiele beim Einschlafen anhört? Er war so ein unglaublicher Junge. So großherzig und liebevoll. Er hatte sich doch noch nie über irgendetwas beschwert. Dabei hatte er immer schon Dinge getan und erduldet, die man keinem Kind zumuten durfte. Er hat das getan, wozu Markus und ich nicht fähig waren. Ich wusste gleich, dass wir nicht in der Lage sind, Amy wirklich das zu geben, was sie braucht.
Amy. Die war doch überhaupt nicht in der Lage, ohne ihren Bruder klarzukommen! Wir haben in unserer Elternrolle versagt. Ist das Ziel einer Erziehung nicht, einen mündigen Erwachsenen aus einem Kind zu machen, der selbstständig für sich sorgen kann?
Bei Yannick machte Veronica sich da keine Sorgen. Der hatte sich vollkommen normal entwickelt. Aber Amy? Amy war doch vollkommen unfähig, sich von ihren Eltern und vor allem von ihrem Bruder zu lösen! Und das ist doch unsere Schuld.
Veronica steckte den Ehering zurück in die Stofffalte, in der er seit dreizehn Jahren ruhte, und klappte das kleine Samtkästchen zu. Mit einem leisen Klock schloss der Magnet.
»Ähm … Mama?«
Sie zuckte heftig zusammen und ließ das Kästchen mit einem Poltern in der Schreibtischschublade verschwinden. »Ja, was ist?« Sie zog die Nase hoch und fuhr sich noch einmal rasch über die Augen.
Amy öffnete die Tür. Da stand sie, bildhübsch, aber blass, kränklich, mit diesen Ringen unter den Augen, in denen stets Misstrauen und Angst lagen. »Ich wollte … gibt es gleich Frühstück?«
Veronica bekam ein Lächeln hin, indem sie all ihre Kraft zusammensammelte, und erhob sich. »Ja, warte, ich komme schon.«
Der Abschied war gekommen. Die zweieinhalb Wochen waren wieder viel zu schnell vergangen. Yannick nutzte die Zeit, in der Veronica mit Ginny Gassi ging und Amy ihren Koffer fertig packte, um noch ein letztes Mal durch das Haus zu gehen, das er so sehr liebte. Es war genau nach seinem Geschmack eingerichtet. Bereits im Flur türmten sich Bücher in deckenhohen Regalen und so ging das im Wohnzimmer weiter. Wo etwas Platz an der Wand war, hingen eingerahmt die Cover der Bücher, die sie geschrieben hatte, und die Plakate zu Verfilmungen dieser Bücher. So hatte das Haus einer Autorin auszusehen, deren große Leidenschaft Literatur war.
Yannick ging langsam durchs Wohnzimmer und ließ seinen Blick schweifen. Alles voller Bücher. Ein richtiges Lesesofa, gleich daneben Ginnys Kuschelecke – ein zerknautschtes Körbchen mit allerlei Decken, aus denen die Beagle-Hündin sich ein gemütliches Nest gebaut hatte –, und den kräftig bekritzelten Notizblock auf dem Sofatisch, daneben vier leere Kaffee- oder vielleicht auch Teetassen und noch ein einsamer Keks auf einem Teller.
Yannick genoss es, alleine zu sein, ganz in Ruhe durchs Haus gehen und seinen Gedanken nachhängen zu können. Und das konnte man hier, inmitten von Büchern, am besten. Bücher strahlten etwas aus, sie erzeugten eine ganz besondere Atmosphäre. Sie schienen sich ihm geradezu aufzudrängen, winkten einladend mit ihren Buchdeckeln, versprachen das Abtauchen in eine andere Welt, die Möglichkeit, jemand anderes zu sein und sein eigenes Leben mit all den Problemen und Sorgen zu vergessen. Und wenn man ein gutes Buch las, dann tauchte man mit etwas wieder auf, womit man sich noch lange Zeit beschäftigen konnte, mit etwas, das es einem ermöglichte, verändert über sein eigenes Leben zu denken, es anders zu sehen. Vielleicht seine Probleme gar nicht mehr als so unüberwindbar zu betrachten, weil die im Buch noch viel größer gewesen waren oder weil der Protagonist letztendlich mit ihnen fertiggeworden war. Wenn ein Buch das schaffte, dann war es für Yannick ein gutes Buch. Dafür musste es tiefgehend sein und in den meisten Fällen dramatisch. Yannicks Lieblingsgenre waren daher dramatische Romane. Und historische Romane, da er sich sehr für Geschichte interessierte und es liebte, durch ein Buch auch in eine andere Zeit abtauchen zu können. Und weil er mit Begeisterung anspruchsvolle Bücher las, las er auch Klassiker sehr gerne. Am schönsten war es, wenn diese drei Dinge alle auf ein Buch zutrafen.
In Veronicas Bücherregalen wimmelte es nur so von dieser Art Bücher. Lies mich!, schienen sie zu schreien. Sie winkten mit den tollsten Abenteuern, den herzzerreißendsten Beziehungen, den tragischsten Schicksalen und den spannendsten Jahrhunderten. Sie überlieferten Gedanken, geradewegs aus den Köpfen von Menschen, die vielleicht schon seit Hunderten von Jahren tot waren. Ihre Gedanken lebten weiter. Konnten auch Hunderte von Jahren später noch begeistern.
Die Besuche bei seiner Mutter waren immer schon etwas ganz Besonders gewesen. Yannicks Begeisterung für Literatur war mit den Jahren immer größer geworden. Als Veronica noch in Deutschland gelebt hatte, waren Yannick und Amy öfter bei ihr gewesen. Yannick erinnerte sich noch gut daran, wie er dann abends oft aus dem Kinderzimmer und zu Veronicas Arbeitszimmer geschlichen war. Er hatte im Schlafanzug auf dem Flur gehockt, neben der angelehnten Tür, und den Tipp-Geräuschen von Veronicas Tatstatur gelauscht. Hin und wieder hatte auch ein Blatt geraschelt oder ein Löffel in einer Tasse geklimpert oder die Maus geklickt. Er hatte es geliebt, diesen Geräuschen zu lauschen. Sie waren immer etwas Zauberhaftes gewesen. Er hatte gewusst, dass da gerade eine wundervolle Geschichte entstand. Monatelange Schweißarbeit, damit – in Veronicas Fall – Millionen von Menschen für ein paar Stunden in eine andere Welt und in den Kopf von jemand anderem abtauchen konnten. Er hatte stets etwas wie Ehrfurcht bei diesem Gedanken empfunden. Vielleicht waren Bücher für ihn auch deshalb etwas so Besonderes, Kostbares, und Wertvolles, weil er von klein auf mitbekommen hatte, wie viel Arbeit und Leidenschaft hinter den paar Hundert Seiten eines Buches steckte.
Noch heute hatte er diese Geräusche im Ohr. Manchmal war das Tippen ganz zaghaft und sanft gewesen, manchmal ganz fest und beinahe aggressiv. Leidenschaftlich. Und auch heute noch war Veronicas Arbeitszimmer für ihn ein ehrfurchtgebietender, ganz und gar kostbarer Ort. Er betrat das Zimmer langsam, schlich auf leisen Sohlen zum Schreibtischstuhl und ließ sich behutsam darauf nieder.
Hier saß Veronica Treu und schrieb das, was man später zwischen zwei Buchdeckeln kaufen konnte. Auch hier gab es Bücherregale, jede Menge Skizzen von Figuren an den Wänden, einen riesigen und immer gut mit zusammengeknüllten Zetteln gefüllten Papierkorb und Tausende von Notizen. Am Ende wurde das alles zusammengewürfelt zu einer Geschichte. Yannick fiel es schwer, sich diesen Prozess richtig vorzustellen. Er selbst würde niemals ein Autor werden können. Er hatte noch nie versucht, eine Geschichte zu schreiben. Besser war er darin, die Geschichten anderer zu analysieren, zu interpretieren, auseinanderzunehmen und dann darüber zu schreiben. Und natürlich darüber nachzudenken. Yannick liebte es nachzudenken. Zu träumen. Zu fantasieren.
Er saß in Veronicas Autorensessel, die Arme auf die Lehnen gestützt, sah sich die Skizzen an, gab sich alle Mühe, aber er konnte sich beim besten Willen einfach nicht vorstellen, worum es in Veronicas nächstem Buch wohl gehen würde. Welchen Charakteren sie dort das Leben schenken würde. Vielleicht wusste Veronica es selbst noch nicht.
Yannick strich andächtig über den Laptop, auf dem Veronicas Gedanken gespeichert waren. Manchmal konnte er nicht glauben, dass Veronica Treu seine Mutter war. Dass er der Sohn einer so berühmten Autorin war. Warum ausgerechnet er? Wer entschied das? Wer hatte entschieden, dass ausgerechnet er Yannick Sladowski geworden war, der Sohn von Veronica Treu und Markus Sladowski? Dass er in diese Familie hineingeboren worden war?
Da hörte er die Haustür. Er erhob sich und trat rasch aus Veronicas Arbeitszimmer, zum letzten Mal für so lange Zeit.
Amy zog den Reißverschluss ihres Koffers zu, stellte ihn auf und ließ die Schultern fallen. Sie sah sich in ihrem Zimmer bei Veronica um. Es war das schönste Zimmer, das sie jemals gehabt hatten, denn sie hatten es ganz nach ihren Wünschen einrichten können. Yannick hatte Amys Vorschläge fast alle akzeptiert, und so waren zwei der Wände in einem zarten Rosa gestrichen worden, die Möbel waren weiß und vor dem Fenster hingen kunstvoll hochgeraffte, hauchdünne weiße Vorhänge, auf die silberne Sterne gedruckt waren. Unter der Decke hatten sich Amy und Yannick leuchtende Sternen-Aufkleber gewünscht, sodass sie wie ein Sternenhimmel aussah, und ein gemütlicher, kuscheliger Lesesessel vervollständigte die Einrichtung. Es war eine Schande, dass sie im Jahr kaum mehr als drei Wochen hier verbrachten.
Wenn Amy an ihre neue Wohnung in Heschbach dachte, wurde ihr schlecht. Wie sah wohl das Kinderzimmer aus? Es gab schreckliche möblierte Wohnungen, vor denen sie ihre Abneigung erst hatten überwinden müssen. Es war nicht einfach, immer in möblierten Wohnungen zu wohnen, in denen einem nichts gehörte, die sich oft ein bisschen nach Ferienwohnung anfühlten. Und es war ebenso wenig einfach, sich an eine neue Stadt zu gewöhnen, an neue Menschen, eine neue Schule … Es gab Kinder, die waren in ihrem ganzen Leben noch nie umgezogen. Sie kannten die Orte und Menschen, von denen sie jeden Tag umgeben waren, seit sie denken konnten. Sie waren niemals aus ihrer Sicherheit und Geborgenheit gerissen worden. Ihre Seele war noch niemals brutal und schmerzhaft auseinandergerissen worden, um sich dann unvollständig und beschädigt irgendwo neu zurechtfinden zu müssen.
Bei jedem Umzug hatte Amy etwas verloren. Ein Stück Sicherheit, Geborgenheit. Sie hätte sich am liebsten irgendwo anders hin gewünscht. Irgendwohin, wo es dieses bedrohliche Unbekannte nicht gab. In einen Märchenwald, in ein Märchenschloss. Irgendwohin, wo es friedlich und schön war, wo alles sicher und einfach und unkompliziert war. Waren es nicht genau diese Welten, in die Amy sich ihr Leben lang geflüchtet hatte, wenn sie sich unsicher und geängstigt gefühlt hatte? Wo sie einen Halt gesucht hatte? Sie konnte sich stundenlang in ihren zauberhaften Märchen- und Prinzessinnenwelten aufhalten, in romantischen Liebesgeschichten schwelgen und sich selbst dabei beinahe ganz vergessen. Wann immer ihr das Leben zu bedrohlich war, flüchtete sie gedanklich in eine ihrer heilen Kinderwelten. In die Welten der Märchen und Prinzessinnen, die immer gerettet und beschützt wurden. Von ihren Helden und Beschützern.
»Hast du alles?«
Amy zuckte zusammen und drehte sich um. Yannick stand in der Tür. Ihr Held und Beschützer. Der bei jedem Abschied und jedem Umzug bei ihr war. Er war ihr Zuhause. Er, der immer bei ihr gewesen war, egal wo sie gerade gewohnt hatten, und an dessen Gegenwart sich nie etwas verändert hatte. »Ja, ich habe alles gepackt.«
Sie hievten ihre Koffer hoch und Amy warf noch einen letzten Blick auf ihr wunderschönes Zimmer, das doch fast ein richtiges Prinzessinnenzimmer war.
Veronica war schon beim Auto. Sie luden die Koffer in den Kofferraum, dann fuhren sie los. Amy wollte dieses gemütliche, kleine, geborgene Dünenhaus überhaupt nicht verlassen. Wie gerne wäre sie hiergeblieben! Für immer, bis in alle Ewigkeit mit Yannick in aller Abgeschiedenheit in diesem Dünenhaus gleich am Meer. Hatte dieser Gedanke nicht etwas Zauberhaftes, etwas ganz und gar Romantisches? Vom Alltag und aller Welt abgeschnitten, inmitten von diesen vielen Büchern, von diesen vielen Geschichten, die zum Träumen einluden, zusammen mit Yannick? Ist das nicht alles, was ich brauche, um glücklich zu sein?
Amy sah betrübt aus dem Autofenster, während sie auf dem Weg zum Bahnhof waren. Da war es wieder, das Herzklopfen, das Herzkrampfen, die wahnsinnige innere Unruhe und Angst. Die Angst davor, Veronica zu verlassen, Veronica und Ginny und das Dünenhaus.
Amy knetete ihre Hände und sah der am Fenster vorbeiziehenden, so herrlich ländlichen Landschaft zu. Felder, Weiden, da standen Pferde, und die wunderschönen Windmühlen! Amy konnte diesen letzten Anblick wie immer überhaupt nicht genießen, sie konnte das alles gar nicht ein letztes Mal positiv auf sich wirken lassen, so sehr war sie damit beschäftigt, jeden Eindruck, den sie bei den Windmühlen und Pferdeweiden und Bäumen und kleinen Häuschen bekam, so tief wie möglich, eigentlich schon krampfhaft, regelrecht verzweifelt in sich aufnehmen zu wollen. Weil sie wie immer das erdrückende, schreckliche, angstvolle Gefühl hatte, dies könnte die letzte Möglichkeit sein. Was sollte denn passieren? Sollte Holland untergehen? Veronicas Haus abbrennen? Veronica sterben? Das alles war eigentlich so unwahrscheinlich, das alles malte man sich doch eigentlich nicht aus, daran dachte man doch gar nicht. Aber Amy konnte nichts gegen diese ständigen Gedanken der Angst tun, dass denjenigen, die ihr wichtig waren, etwas passieren könnte. Wenn Markus auf Auswärtsspiele gefahren war, hatte Amy schon so oft geweint, vor lauter Angst, für die es eigentlich überhaupt keinen Grund gab, und Yannicks Abwesenheit war noch tausendmal schlimmer.
Sie gingen schweigsam zum Gleis, von dem aus sie ihre Reise antreten würden. Veronica umarmte Yannick und Amy. »Ich habe euch lieb! So lieb! Die Zeit mit euch ist wieder so schnell vergangen …«, murmelte sie und strich eine blonde Strähne hinter Amys Ohr. »Aber es war schön mit euch. Ich habe euch wirklich gerne hier. Das … das wisst ihr doch, oder? Dass ich euch liebe und immer für euch da bin …« Glitzerten ihre Augen etwa plötzlich ein kleines bisschen? Oder lag es an ihrer Brille? Doch als Veronica die Nase hochzog und ein bisschen wackelig lächelte, war Yannick sich sicher, dass ihre Augen feucht geworden waren. Überfällt dich gerade das schlechte Gewissen, Mama? Weil du uns so selten siehst und selbst, wenn wir dann mal bei dir sind, ständig in deinem Arbeitszimmer sitzt? Weil du glaubst, als Mutter nicht genug für uns da zu sein?
Veronica hob den Arm, zuckte kurz, als hätte sie Yannicks Gedanken gelesen, dann legte sie die Hand an seine Wange und strich liebevoll darüber. »Bei nächster Gelegenheit besucht ihr mich wieder! Und wenn ich das nächste Mal in Deutschland bin, dann komme ich nach Biesfeld, das verspreche ich euch!«
»Heschbach, Mama. Wir ziehen um.«
Etwas in Veronicas Augen flackerte auf, über ihr Gesicht legte sich ein Schatten, für den Bruchteil einer Sekunde. Yannick hatte es trotzdem genau gesehen. »Ach ja, Heschbach …«
Yannick starrte seine Mutter an, versuchte in ihren Augen irgendetwas zu lesen, doch sie waren so verschlossen wie immer. In diesem Moment fuhr der Zug ein. Sie bekamen jeder noch eine Umarmung, dann standen sie im Zug, Veronica wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel und versuchte zu lächeln, wobei sie kläglich scheiterte. Amy und Yannick winkten, bis die Türen sich zwischen ihnen und Veronica schlossen und der Zug sich in Bewegung setzte und sie aus ihrem Blickfeld verschwand. Veronica sah so einsam und traurig und verlassen aus, wie sie da auf dem Bahnsteig stand, mit nichts als Ginny an ihrer Seite.
Amy zog die Nase hoch und musste sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Wir sehen uns wieder, versuchte sie sich selbst zu sagen, wir sehen uns bestimmt schon sehr bald wieder, und wir können uns schreiben und ich kann sie auch anrufen – aber sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte vor innerer Unruhe, der Angst, Veronica verloren zu haben.
Sie spürte ein Zupfen am Ärmel ihres T-Shirts und sah zu Yannick hoch, der mit dem Kopf Richtung Gang nickte. »Da drüben sind zwei Plätze frei, Hasenherz.«
Hasenherz. Wie gut das doch wieder einmal zutraf. Amy hievte ihren pinken Koffer hoch und folgte Yannick zu den Sitzplätzen, die er entdeckt hatte. Er überließ Amy wie immer den Fensterplatz, wuchtete die Koffer ins Gepäcknetz und ließ sich dann neben ihr nieder.
Die Landschaft zog jetzt schnell an ihnen vorbei, diese unbeschwerte Sommerlandschaft. Sie waren auf dem Weg nach Heschbach. In eine neue Stadt. Ins Unbekannte. Amys Herz zog sich schon jetzt zusammen vor Sehnsucht nach Veronica und Ginny und ihrem Haus, der Zeit dort. Sie selbst konnte sich gar nicht, Yannick nur noch dunkel an die Zeit erinnern, als ihre Eltern noch zusammen gewesen waren. Aber das alles war auch für ihn blass, verschwommen. Im Grunde kannten sie es nicht anders, als dass ihre Eltern getrennt waren. Dass man immer einen von beiden vermisste, den, der gerade nicht da war. Es gab ja Kinder, die sogar abwechselnd bei ihren Elternteilen wohnen konnten, in der einen Woche bei Mama, in der nächsten bei Papa. Manchmal stellten sie sich das toll vor. Eine Woche hier, dann eine Woche da, und wenn es Streit gab, konnte man einfach zum anderen flüchten. Aber das war für betroffene Kinder auch nicht schön.
Yannick sah zu Amy hinüber, die mit feuchten Augen aus dem Fenster sah, und ihn überkam prompt Friede. Sein Hasenherz, das war immer da, egal ob sie gerade bei Mama oder Papa waren. Wieder einmal wischte Yannick sein eigenes Bedauern und die Traurigkeit beiseite, um Amy ihre eigene, doch so viel größere als seine zu nehmen. Er beugte sich vor, kramte in seinem Rucksack und zog eine Tafel Schokolade heraus, die er als Reiseproviant heute Morgen eingepackt hatte. Er stupste Amy an. »Meinst du, die kann dich ein bisschen aufheitern?«
Amy sah auf die Schokolade in seinen Händen, dann in seine dunklen, warmen Augen. »Hmm, vielleicht …«
»Na, dann müssen wir das wohl mal herausfinden …« Yannick riss mit seinem Großer-Bruder-Helden-Beschützer-Lächeln die Packung auf, brach einen Riegel ab und reichte ihn ihr.
Amy biss in die süße Schokolade, schmiegte sich an ihn und sah zu ihm hoch. »Danke«, wisperte sie und ihr Blick triefte nur so von Liebe und Zuneigung. »Ich hab dich lieb.«
Yannick schlang seine Arme um sie. »Ich hab dich auch lieb, Hasenherz.«