Читать книгу Begnadet - Wiedergeburt - Buch 3 - Sophie Lang - Страница 20

Naomi - Zac

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Ich habe Phoenix liegen lassen. Sie hat noch so tief geschlafen, dass ich es einfach nicht übers Herz gebracht habe, sie aus meinem Bett zu schmeißen. Vielleicht bin ich auch noch ein bisschen durcheinander wegen dem Gespräch, das ich zwischen Aeia und Herr Davidi belauscht habe und meinen wieder aufgekommenen Ängsten und Hoffnungen.

Ich besetze meinen Sitzplatz im Hörsaal, nicht ohne mehreren meiner Kommilitonen auf die Füße zu treten und ihren Mündern Flüche zu entlocken. Das gewohnte Ritual eben. So langsam sollten sie sich daran gewöhnt haben und sicherheitshalber Schuhe mit Stahlkappen anziehen.

Der Hörsaal füllt sich. Ich weiß, sobald die Stunde beginnt, werden wieder einige Gesichter fehlen. Jeden Tag ein paar mehr Begnadete, die das TREECSS verlassen haben. Der Platz neben mir wird auch leer bleiben. Der Platz von Phoenix. Ich bereue es, Phoenix nicht geweckt zu haben. Niemand traut sich, eine Stunde bei Professor Yamorra zu verpassen oder zu spät zu kommen. Vielleicht liegt es an seiner natürlichen Autorität oder den besorgniserregenden Geschichten, die über diejenigen erzählt werden, die es doch gewagt haben.

Die meisten der anwesenden Begnadeten sind schon über einundzwanzig, haben ihre Wandlung und das Ritual schon hinter sich. Ich kenne nur eine einzige Person, eine Ausnahme, die sich nicht um die Bindung, die Mann und Frau bei der Zeremonie eingehen, geschert hat. Aeia, meine Mum. Die Partner suchen und finden sich bei TREECSS nicht auf natürlichem Wege. Sie werden füreinander bestimmt. Da sind wir manchen Kulturen der Menschen sehr ähnlich. Das ist historisch bedingt, haben wir bei Yamorra gelernt, der jetzt den Hörsaal betritt und alle Begnadeten verstummen lässt. Mich auch. Ungewöhnlich ist, dass eine Sekunde später, sich die Stimmen zu einem leisen Gemurmel erheben. Ich blicke zu dem Professor, auf der Suche nach dem Auslöser.

Schuld an dem Gemurmel im Saal, das vor allem von den jungen Frauen ausgeht, ist der Junge, der Yamorra folgt. Jeans und T-Shirt trägt er lässig, die braunen Haare kurz. Er ist groß und schlank und bewegt sich selbstsicher, wie ein Mann und nicht wie die anderen Jungs in diesem Alter. Ich schätze ihn auf Anfang zwanzig. Zuerst denke ich, er ist der Assistent von Yamorra, aber als der Professor und sein Begleiter sich uns zuwenden, wird mir ganz komisch. Ich glaube, ihn zu erkennen, weiß aber noch nicht woher. Vielleicht war es ja auch auf einem von Phoenix und meinen nächtlichen Partyausflügen?

»Begnadete«, erhebt Yamorra seine Stimme und der Hörsaal verstummt. »Ich möchte euch Zac vorstellen.« Bei mir klingelt es immer noch nicht. Zac? Nie gehört.

»Zac ist ein Begnadeter, wie wir. Er ist nicht aus unserem Institut und hat eine lange Reise hinter sich und ich freue mich, ihn bei TREECSS willkommen zu heißen. Ich bin mir sicher, Ihnen ist es auch eine Freude«, sagt der Professor, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass es noch andere Begnadete außerhalb des Instituts auf der Welt gibt. Bin ich etwa die Einzige, die nichts davon wusste?

»Zac, bitte suchen Sie sich einen Platz, die Vorlesung beginnt.«

Der hübsche junge Mann schenkt dem Auditorium ein unwiderstehliches Lächeln und ich vernehme ein freundliches, völlig akzentfreies Hallo, dann nähert er sich auf eine faszinierende Art und Weise den vordersten Reihen.

Ganz schön cool, irgendwie.

Professor Yamorra schiebt seine Brille auf der Nase zurecht und wartet argwöhnisch mit dem Beginn der Geschichtsvorlesung, bis Zac sich entscheidet. Er lässt sich unerwartet viel Zeit, als würde er einen ganz bestimmten Klappstuhl suchen, als würde es einen Unterschied machen, neben wem er sitzen würde. Plötzlich fällt sein Blick auf mich, auf den freien Platz neben mir und seine Augen hellen sich auf. Das ist der Moment, als ich mich an seine Augen erinnere. Er ist der süße Typ, den ich fast vor die ankommende S-Bahn geschubst habe. Gestern, nachdem ich die Mädchen aus den Fängen der Rechtsradikalen befreit habe und ich Phoenix an der S-Bahn getroffen habe. Siebenundzwanzig Stufen höher - ich habe jede einzelne mitgezählt - ist er bei meiner Reihe angelangt. Neun Sitze später, pflanzt er sich neben mich, besetzt den Platz meiner besten Freundin und noch schlafenden Zimmergenossin. Bevor ich sein Flüstern vernehme, registriere ich seinen unverwechselbaren Geruch. Irgendwie luftig und erdig. Irgendwie extrem strange.

»Hi«, flüstert er. Nike, die rechts von ihm sitzt, piepst auch ein Hi. Die ist ja total aus dem Häuschen. Mein Gott, wie Klischee behaftet. Ich lese vor meinem inneren Auge gerade im Eiltempo einen ideenlosen Liebesroman, in dem sich Nike in, nach anfänglicher Abneigung, Zac, den Neuen verknallt, nur um im Verlauf der Story von ihm gnadenlos betrogen und hintergangen zu werden und beide dann, über dramatische Wendungen, doch noch feststellen, dass sie füreinander bestimmt sind. Ich muss gleich kotzen, dann bemerke ich aber, dass mich Zac ansieht und Professor Yamorra schon bei der zweiten Projektion angelangt ist. Das Hologramm schwebt anschuldigend im Raum. Ein Indiz dafür, dass ich die letzten zwei Minuten geistig abwesend war.

»Was schaust du so?«, frage ich ihn. Er hat garantiert, etwas zu verbergen. Nur wer etwas zu verheimlichen hat, schaut so, mit diesem Röntgenblick!

»Ein einfaches Hallo, Hi oder schön dich widerzusehen hätte mir ausgereicht«, sagt er laut genug, dass es auch Nike neben uns mitbekommen muss. Ich bemerke, wie sie spöttisch grinst und langsam, gekünstelt den Kopf schüttelt. Blöde Kuh.

»Der Platz, auf dem du sitzt, ist eigentlich besetzt.« Zac erhebt sich halb vom Sitz und schaut nach. Sein Sinn für Humor ist okay. »Phoenix, meine beste Freundin«, erkläre ich, »Sie liegt noch im Bett. Sie sitzt normalerweise hier«, sage ich und zeige auf Zac.

»Ich erinnere mich. Das blonde Mädchen.«

»Ja, genau.«

Mir fällt erst auf, wie ruhig es im Saal geworden ist, als sich dutzende Gesichter vor uns, uns zuwenden. Professor Yamorra hat die Vorlesung unterbrochen und fixiert mich mit seinem messerscharfen Blick. Oh je!

»Wäre Frau Engel bitte so gütig und teilt uns allen mit, wann wir wieder ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit haben. Dann könnten wir mit der Vorlesung fortfahren. Oder sollte ich vielleicht unseren, äußerst interessanten, Neuzugang, Mr. Zac, bereits nach fünf Minuten bitten, sich woanders hinzusetzen?« Der halbe Saal grölt und mein Gesicht färbt sich purpurrot.

»Das ist nicht nötig«, versichert Zac Professor Yamorra und ich vermeide es strikt, Zac eines Blickes zu würdigen. Aus Scham oder Wut oder Verlegenheit? Das weiß ich noch nicht einzuordnen.

Ich hasse es, wenn ich rot werde, ist es doch ein Beleg dafür, dass sich mein Selbstvertrauen wie das eines Teenagers verhält, wobei ich das eigentlich besser im Griff haben sollte.

Als Professor Yamorra ein neues Hologramm projiziert, registriere ich, dass ich schon wieder die Hälfte verpasst habe. Ich muss mir diese gedankenverlorene Tagträumerei unbedingt abgewöhnen. Es bestätigt sich wieder einmal mehr, von wem ich abstamme. Diesen Tick habe ich von Aeia geerbt. Noch heute ertappe ich sie manchmal dabei, wie sie Selbstgespräche führt. Gott sei Dank, teile ich meiner Mitwelt nicht alles mit, was ich gerade denke und verpasse nur Großteile des Unterrichtsstoffs, was ich bei der nächsten Klausur, einmal mehr, bitter bereuen werde.

Ich will mich gerade auf Yamorras Ausführungen zu den noch immer unergründbaren Ursprüngen unserer Spezies einlassen und mir Notizen dazu machen, was uns genetisch von den Menschen unterscheidet, als mir Zac plötzlich einen Zettel unterschiebt. Ein Relikt der Generation, zu der auch Aeia gehört, die Generation, bevor die Digitalisierung fast die ganze Welt erobert hat. Seit der Erfindung der Smartscreen wurde Papier quasi überflüssig. Vermutlich liegt es auch einfach nur daran, dass sich mit diesen Geräten mehr Geld verdienen lässt und nicht, weil wir den Baumbestand schonen wollen.

Zac stupst mich an und fordert mich auf, endlich das zu lesen, was er geschrieben hat. Verdammt, wie lange war ich denn jetzt wieder in meiner Gedankenwelt abgetaucht? Also gut, dann lese ich es eben.

»Du erkennst mich nicht mehr, oder?«

»Linie 4«, schreibe ich und denke an unseren Zusammenprall bei der Haltestation.

Zac liest und grinst. »Seit wann weißt du, dass du eine Begnadete bist?«, will er jetzt wissen.

Ich leihe mir Zacs Bleistift erneut aus, besser gesagt ich nehme ihn mir einfach und drehe ihn zwischen meinen Fingern hin und her, dann schreibe ich: »Seit dem Tag, an dem sich meine Eltern getrennt haben.«

Dann schiebe ich ihm das Blatt zurück auf seine Tischhälfte und halte ihm den Stift hin. Tatsächlich habe ich schon viel früher geahnt, dass in meiner Familie etwas los war, dass mit Aeia etwas nicht stimmt, um genau zu sein. Aber als sich meine Eltern getrennt haben und ich mit Aeia ins Institut gezogen bin, hat sie es mir verraten, dass ich und mein Bruder zur Hälfte keine gewöhnlichen Menschen sind, weil wir zur Hälfte aus den Genen meiner Mutter bestehen.

»Deine Mutter hat sich nicht an die tausend Jahre alten Regeln von TREECCS gehalten?«

Ich habe keine Mühe Zacs Handschrift zu lesen, auch wenn der Platz auf dem kleinen Fetzen Papier kaum ausreicht und er verflucht klein geschrieben hat. Er hat ein schönes Schriftbild, eigentlich viel zu zart und geschwungen für einen Jungen. Auf alle Fälle viel schöner als meins. Hilflos starre ich auf den beschriebenen Zettel in Miniaturausgabe und während mir Zac ein weiteres Relikt aus alten Tagen - einen Radiergummi - unterschiebt, frage ich mich, was ich hier eigentlich mache? Stille Post mit einem Fremden zu spielen und den Unterricht von Yamorra geistig zu schwänzen, gehört ganz bestimmt nicht zu meinen Tugenden.

Unauffällig schaffe ich mit dem Radiergummi neuen Platz für geheime Nachrichten, bekomme mit, dass Yamorra jetzt über die Kriege in Europa und Vorderasien zu Beginn des 21. Jahrhunderts referiert und schaue mir meinen Sitznachbar genauer an. Er sieht nicht besser aus, als die meisten anderen Jungs in seinem Alter. Überall Muskeln eben. Das Testosteron ist wohl daran schuld, dass es in den Zimmern der männlichen Vertreter unserer Art von Klimmzugstangen und Ruderbänken nur so wimmelt.

Ich muss lächeln, weil es letztlich ihre Art ist, sich zu schminken. Die Mädchen sind da kein bisschen anders. Schmieren sich Kajal und Lippenstift ins Gesicht, übertünchen kleinere Schönheitsfehler, stecken sich die Haare hoch und versuchen, bestmöglich ihre Schokoladenseiten hervorzuheben. Ich bin da keine Ausnahme.

Zacs Gesicht ist auch nichts Außergewöhnliches, sieht man mal von den stahlblauen Augen ab, die mich mehr als alles andere an ihm, an unser gestriges Treffen erinnern.

Plötzlich entwendet er den Botschaftsüberbringer - den Fetzen Papier - und schreibt mir erneut, ohne meine Antwort abzuwarten.

»Machst du das absichtlich?«, schreibt er.

»Was?«

»Dich interessant zu machen, indem du mich schier unerträgliche Minuten warten lässt, bis du endlich etwas schreibst?«

Ich blicke ausschließlich auf ein Wort und ein warmes, elektrisierendes Kribbeln läuft meine Wirbelsäule auf und ab. Was veranstaltet mein Körper da nur? Er findet mich interessant?

»Du kannst es kaum abwarten, etwas von mir zu lesen?«, schreibe ich.

»So ist es!«, schreibt Zac.

»Ich habe eine schreckliche Handschrift.«

»Sie ist zugegebenermaßen extravagant.«

»Also schrecklich.«

»Einigen wir uns auf interessant.«

»Einverstanden«, schreibe ich und lächle. Das Kribbeln verweilt ungefragt in meinem Körper und hat sich in seiner Intensität verdoppelt. Ich bin verwirrt. Bin ich etwa dabei, mit diesem Jungen zu flirten. Ich kenne ihn doch gar nicht. Ich werde ganz bestimmt nicht auf Schmeicheleien hereinfallen. Er sucht bestimmt einfach nur ein Abenteuer. Was wenn er nicht nur ein, sondern mehrere Abenteuer sucht, wenn er einer der Typen ist, die die Mädchen, nach einer eingeritzten Kerbe in ihrem Bettpfosten, wieder fallen lassen? Ich beschließe, das hier sofort zu beenden.

»Du tust es schon wieder!«, schreibt Zac.

Der Papierfetzen ist vom vielen Radieren schon so gut wie durchgescheuert.

»Ich will mich jetzt auf den Unterricht konzentrieren!«

»Willst du nicht!«

Was? Ich schaue ihn empört an. Was fällt ihm ein? Zac und ich tragen ein Duell aus, wer schaut zuerst weg. Seine einzigartigen Augen, so blau als schaue man in die tiefsten Abgründe des Ozeans, funkeln schelmisch. Ich schnappe mir den Zettel.

»Wo waren wir denn stehen geblieben?«, frage ich und wundere mich, wie inkonsequent ich bin.

»Bei deinen Eltern und dem mysteriösen Ritual, wo die Mädchen den Jungs versprochen werden.«

»Sie wurde einem anderen versprochen, als den, den sie letztlich geheiratet hat.«

Dieses Mal ist es Zac, der mich einige Zeit warten lässt.

»Ich weiß. Sie hat einen Menschen geheiratet. Das Ritual ist die ungerechteste Sache, die ich kenne.«

Ich schnappe mir den Zettel und reiße ihm glatt den Stift aus der Hand.

»Warum meinst du, ist es ungerecht?«

»Weil ich mit der Frau zusammen sein will, die ich liebe und nicht die, welche mir genetisch bedingt zugeteilt wird.«

Das hat er schön gesagt.

Zac überrascht mich mit einem neuen, jungfräulichen Blatt Papier. Wo das Alte hin ist, habe ich gerade nicht gecheckt. Hat er es etwa eingesteckt?

»Was ist dein Talent?«, fragt Zac mit seiner mädchenhaften Handschrift.

Diese Frage ist seltsam. Zac muss doch sehen, dass ich unmöglich schon einundzwanzig sein kann und somit die Phase der Metamorphose noch nicht annähernd erreicht habe. Bei den meisten beginnt die Wandlung und somit die Erkenntnis, über welches mysteriöse und übermenschliche Talent sie verfügen, erst kurz vor dem einundzwanzigsten Geburtstag. Ausnahmen sind die Frühreifen oder Spätentwickler. Und dann gibt es da noch mich, die in keins der bisher bekannten Phänomene passt.

»Hallo Du? Erde an Naomi!«

Ich fasse mir an die Stirn, die schon ganz warm ist.

»Naomi?«, frage ich laut und schaue schnell zum Professor. Er hat nichts bemerkt, fährt einfach mit dem Unterricht fort, von dem ich schon längst nichts mehr mitbekomme. »Woher kennst du meinen Namen?«, frage ich, während ich mir weiter die Stirn reibe, wodurch der Ärmel meines Longsleeves Richtung Ellenbogen rutscht und Zac den unscheinbaren Ausläufer des Exoskeletts sehen könnte, würde er über Infarotaugen verfügen. Schnell schiebe ich den Ärmel zurück an seinen Platz und lege meine Hand auf den Tisch.

Zacs Hand rückt näher, berührt den Stoff meines Shirts und die darunterliegende Haut, schiebt es ein Stück hoch und streicht über das seltene Material, das in Leichtigkeit und Flexibilität seines gleichen sucht. Er kann es sehen? Warum? Warum kennt er meinen Namen, weiß von meinen Eltern? Was soll das? Zac hält inne, lässt den Stoff zurückfallen und streicht dann über meine Hand und meinen kleinen Finger. Mein Körper gerät wieder außer Kontrolle und bekommt eine Gänsehaut.

»Ich habe mich über dich erkundigt«, sagt er. Sein Atem riecht angenehm süß, wie Zimt und Nelken oder Mandeln mit Muskat und plötzlich klingelt es zur Pause. Ich habe fast den gesamten Unterricht verpasst und Schuld daran ist der geheimnisvolle Junge neben mir.

Begnadet - Wiedergeburt - Buch 3

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