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Zac - Naomi

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Die kleine süddeutsche Perle, wie seine Schwester Freiburg immer beschrieben hat, ist erstaunlich groß. In einer Bäckerei am Münster hat er sich vor einer halben Stunde eine deutsche Laugenbrezel und einen Kaffee gekauft. Er stand an einem der Stehtische mit Blick auf den belebten Marktplatz und das Münster. Danach hat er sich zur S-Bahn begeben, wo er jetzt mit dem Gesicht der Länge nach auf dem Boden liegt. Zac wurde glatt niedergemäht, als habe ihn ein Bulldozer überfahren, genauso fühlt es sich an.

Er blickt auf und kann sein Glück kaum fassen. Sie ist es! Er hat sie gefunden. Oder verhält es sich umgekehrt? Hat sie etwa ihn aufgespürt?

Sie ist über ihn gestolpert und gemeinsam sind sie umgefallen. Sie ist auf ihm gelandet, irgendwie atemlos und unbeholfen. Ein Hauch von Parfüm und ihrem weiblichen Duft, steigt ihm in die Nase, bevor sie sich wieder aufrappelt.

Die Person, die für sein Niederstrecken verantwortlich ist, steht nun mit großen Augen über ihm und entschuldigt sich auf äußerst charmante Weise.

»Das tut mir sehr leid. Wirklich. Das passiert mir manchmal und ist niemals Absicht«, sagt das attraktive Mädchen auf liebenswerte Weise. Sie hat einen so entzückenden Augenaufschlag, der es Zac unmöglich macht, ihre Ungeschicktheit nicht unmittelbar zu verzeihen. Die S-Bahn Linie 4 kommt in diesem Moment an der Haltestelle des Stadttheaters an. Die Menschen machen einen Schritt nach vorne, wissen, dass sich die Türen der S-Bahn gleich öffnen, was sie einen Wimpernschlag später auch tun. Als hätte jemand den Schalter umgelegt, herrscht auf einmal ein riesiges Durcheinander.

Die Digitalisierung hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Welt verändert. Über achtzig Prozent der Bevölkerung der USE, der United States of Europe, trägt ein sogenanntes View, entweder als Brille oder Kontaktlinse und ist allzeit mit der Datenwelt des Netzes verbunden. Ein Erlass verbietet es in manchen Regionen, Autos selbst zu steuern. Gesetze und Computersysteme nehmen dem Menschen die ethischen Entscheidungen in kritischen Verkehrssituationen ab, wo es um Leben und Tod geht.

Aber die Menschen haben sich noch nicht verändert. Ihnen gelingt es nicht, so etwas einfaches wie den Einstieg in die S-Bahn zu koordinieren. Jeder scheint nur sein eigenes, egoistisches Ziel zu verfolgen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Zac fällt es schwer, die Ruhe zu bewahren, geschweige denn aufzustehen und die Vorstellung abzuschütteln, totgetrampelt zu werden. Freiburg ist nicht im mindesten so groß wie Sankt Petersburg, dennoch, die vielen Eindrücke überwältigen ihn für einen Moment, dann endlich erkennt er die helfende Hand, die sie ihm reicht und erstaunt über ihre Kraft, lässt er sich von ihr hochziehen.

»Alles okay mit dir?«, fragt das Mädchen. Sie hat dunkle Augen, fast könnte man meinen, Iris und Pupillen verschmelzen zu kleinen schwarzen Murmeln und durch die Wimperntusche wirken sie geradezu riesig. Sie trägt keine View. Weder als Brille noch als Kontaktlinse. Das bewaffnete Auge würde bei Tageslicht irisierend schimmern und bei Nacht schwach leuchten. Ist sie eine der wenigen, die der Neuen Welt den Rücken kehren? Aber seine vorliegenden Informationen, sagen ihm etwas anderes. Ihr Talent macht nur in einer Zeit wie dieser Sinn.

Er betrachtet sie, erfasst ihre komplette Erscheinung in weniger als einer Sekunde. Ihr Körper wirkt weder stark noch robust. Eher schlank und von einer schönen Struktur, wie es für heranwachsende Frauen in ihrem Alter üblich ist. Ihre zarten, weichen Hände stehen im Widerspruch zu der physischen Kraft, die sie aufbringt, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.

Ihr Gesicht? Es ist noch schöner als auf dem Foto.

Es hat etwas Reines, Unergründliches. Zac bewegt vorsichtig seinen Kopf nach links und rechts, prüft, ob noch alles am rechten Fleck sitzt.

»Tut mir aufrichtig leid«, sagt sie ehrlich und hat den Kopf jetzt auch schräg gelegt, um ihr schmales Gesicht auf die gleiche Ebene wie Zacs zu bringen. Ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare fallen dabei zur Seite und entblößen ein frisch gestochenes Tattoo, eine kleine Mondsichel unter einem transparenten Pflaster auf ihrem Hals.

»Ich muss weiter«, sagt sie mit einem Bedauern in der Stimme und dem Blick auf zwei Mädchen gerichtet. Eine Asiatin und eine Afrikanerin, die ziemlich mitgenommen aussehen. »Aber ich gehe erst, wenn du einen Ton gesagt hast.« Ihre Brauen stehen in einer sorgenvollen Linie über ihren Augen. Zac will ansetzen ihrer Aufforderung nachzukommen, will etwas sagen, aber dann wird ihre Aufmerksamkeit wieder fortgezogen.

»Naomi, wo bleibst du denn?«, fragt eine hübsche Blondine, welche die beiden Mädchen an den Händen nimmt und ihnen hilft, in die S-Bahn einzusteigen. Dazwischen fließen die letzten Überreste der einsteigenden und abwesend wirkenden Fahrgäste vorbei. Das andere Mädchen muss Phoenix sein, Naomis beste Freundin, vermutet Zac. Ihre äußere Erscheinung ist geradezu einschüchternd. Auch sie trägt keine View. Zumindest nicht als Brille. Eventuell eine Kontaktlinse. Schwer aus dieser Entfernung zu sagen.

»Naomi, kommst du jetzt bitte? Weißt du, die Bahn fährt bestimmt auch ohne dich ab. Und es gibt keinen Fahrer, den ich bezirzen könnte, damit du noch länger mit diesem fremden Jungen flirten kannst«, erklärt sie und durchbohrt währenddessen Zac mit aufblitzenden, grünen Augen.

»Ich hoffe, dir tut nichts weh. Ich werde dich jetzt loslassen müssen«, sagt Naomi und sieht hinab auf ihre Hand, die immer noch Zacs umklammert. Sie lächelt bezaubernd, was wie eine weitere Entschuldigung wirkt und will sich aufmachen.

»Warte«, sagt Zac und hält Naomis Hand fest. Sie wendet erstaunt den Kopf und blickt ihn verwundert an.

»Ja?«, fragt sie langsam.

»Pass auf dich auf. Die Welt braucht dich!«

Naomi schaut ihn verblüfft an, blickt dann wieder zu den beiden eingeschüchterten Mädchen, die von Phoenix in die S-Bahn bugsiert werden.

»O-k-a-y«, sagt sie und jeder Buchstabe kommt etappenweise über ihre Lippen, dann lässt sie seine Hand endgültig los.

Zac vermisst prompt die Berührung ihrer Haut. Schon wirbelt Naomi auf der Stelle herum, um im letzten Moment, bevor der Autopilot den Befehl zum Schließen der Türen anordnet, in die S-Bahn zu hüpfen.

Die Linie 4 ist im Begriff loszufahren, als Zac durch die staubigen Scheiben ins Innere blickt und Naomi nachschaut. Sein Blick bleibt an ihren nackten Beinen haften, die in halbhohen braunen Lederstiefeln enden. Sie trägt ein weißes, enganliegendes Top, darüber einen weißen Bolero und einen knittrigen, kurzen schneeweißen Plisseerock. Zac schaut ihr amüsiert zu, wie sie sich mühelos im Innern der S-Bahn einen Weg durch die zusammengepferchten Menschen bahnt. Sie geht einfach hindurch, ohne auf Berührungen oder Rempeleien zu achten. Und dabei bewegt sie sich mit Anmut und Selbstsicherheit, scheint aber nicht das geringste Gespür dafür zu haben, wer außer ihr noch da ist. Unterwegs bringt sie ein halbes Dutzend Personen aus dem Gleichgewicht. Der eine oder andere dreht sich empört zu ihr um. Ihre kindliche Tollpatschigkeit bringt Zac zum Schmunzeln.

Schließlich, kurz bevor die Linie 4 losfährt, hat sie den Stehplatz direkt neben ihrer blonden Freundin und den beiden exotischen Mädchen erreicht. Die S-Bahn nimmt an Geschwindigkeit zu. Sie wird schon bald aus Zacs Blickfeld entschwinden. Naomi dreht sich ein letztes Mal zu ihm um, sieht Zac an und ihre Blicke finden sich für einen Moment, um sich ineinander zu verhaken.

Zac glaubt nicht an Zufälle. Es ist Schicksal, dass sie sich begegnet sind, dass er sie einen Tag vor dem Zeitplan getroffen hat. Besser ausgedrückt: Sie ihn über den Haufen gerannt hat, so als wäre sie auf der Flucht gewesen.

Ihre Blicke werden voneinander getrennt. Sommerlicher Fahrtwind bläst durch das geöffnete Fenster und wirbelt Naomis braunschwarze Haare auf, dann verschwindet die Linie 4 mit ihren Fahrgästen in Richtung Stadtmitte.

Zac zieht das Foto aus seiner Hosentasche. Es ist eine Kopie des Originals und es ist nicht digital, was entscheidend ist.

Würde die Menschheit Spuren hinterlassen, wenn alle digitalen Informationen verloren gehen würden? Sie ausgelöscht würden? Was würde übrig bleiben? Was könnten nachfolgende Generationen über die jetzige in Erfahrung bringen? Papier übersteht keine tausend Jahre, außer man geht sorgsam damit um. Zac streicht über die künstliche Oberfläche, eine Art Harz, welche das Foto vor äußeren Einflüssen schützt. Vor schweißnassen Händen, vor Regen, Wind und Staub. Vor dem Altern.

Er betrachtet das, was sich unter der schützenden Hülle befindet. Die Oberfläche und die beiden abgebildeten Personen, und sein Herz zieht sich für einen kurzen Moment zusammen. Gibt es wirklich so etwas wie Liebe auf den ersten Blick?

Begnadet - Wiedergeburt - Buch 3

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