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Samstag, 29. November 2003, 21:55 Uhr

Ihr Blick war auf die matte Deckenlampe gerichtet. Sie lag mit angeketteten Armen und Beinen auf diesem Bett. Wie lange sie hier schon lag, wusste sie nicht. Sie konnte nicht auf ihre Armbanduhr sehen, die Handschellen ließen das nicht zu. Sie lag ganz ruhig auf dem Bett, die Decke reichte ihr bis zur Brust, ihr Blick haftete auf der Linse der Videokamera. Ihre Gelenke schmerzten, in einem Anflug von Panik hatte sie versucht, sich von ihren Handschellen zu befreien. Sie hatte daran gerüttelt und mit aller Kraft an ihren Fesseln gezogen, sie hatte geschrien und geweint, bis sie erschöpft aufgegeben hatte. Sie atmete ein paarmal tief durch, überlegte, was geschehen war, was noch geschehen würde. Ihr fiel wieder die Kamera ein, jede ihrer Bewegungen wurde beobachtet, also schaute sie zur Kamera und blieb ganz ruhig liegen. Je länger sie so lag, desto ruhiger wurde sie. Sie kämpfte gegen ihre Angst und schien den Kampf allmählich zu gewinnen. Anstatt der Angst gewannen Wut und Zorn die Oberhand. Irgendjemand hatte sie ihrer Freiheit beraubt und dieser Jemand versteckte sich nun hinter dieser Kamera und beobachtete sie. Sie fing an, mit der Kamera zu sprechen. Das gab ihr ein gutes Gefühl, ein Gefühl der Überlegenheit, obwohl sie eine Gefangene war. Überwältigt, gefesselt und eingesperrt. Sie blickte zur Kamera und sprach drauflos. Erst zurückhaltend, immer noch etwas ängstlich, fragte sie, was sie hier solle. Dann sagte sie vorwurfsvoll, dass sie über solche Scherze nicht lachen könne. Immer wieder fragte sie den heimlichen Beobachter, was er von ihr wolle. Er solle zu ihr kommen, man könne doch über alles reden. Sie sprach eindringlich auf die Kamera ein, sie hörte ihre flehende Stimme und kam sich dumm und erbärmlich dabei vor. Also fing sie an zu schimpfen, sie wurde immer wütender, nannte ihren heimlichen Beobachter einen Feigling, einen Bastard, einen dummen Spanner, der sich endlich zeigen solle. Stumm blickte die Kamera auf sie hinab, filmte sie, wie sie da lag und redete, ohne sich dabei bewegen zu können. Warum wurde sie überhaupt gefilmt? Die ganze Zeit über war sie davon überzeugt gewesen, sich in den Händen eines Entführers zu befinden, der von ihrem Mann ein horrendes Lösegeld fordern würde. Doch als sie darüber nachdachte, warum sie mit der Kamera beobachtet wurde, kam ihr noch ein anderer schrecklicher Gedanke. War der Mann, der sie hierher verschleppt hatte, ein Verehrer? Einer, der sie vielleicht schon über Jahre beobachtet hatte, als sie noch als Model auf den Laufstegen von Paris, New York oder Tokio zuhause gewesen war? War er einer der vielen Briefeschreiber, einer von denen, die sie verehrten und vergötterten? Einer, dem es nicht genug war, sie nur auf Fotos zu bewundern? Einer, der sie mit Haut und Haaren bei sich haben wollte, sich aber nicht traute, ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten? Ein Psychopath mit kranken Fantasien? Einer, der sie immer in seiner Nähe haben wollte, haben musste? Einer, der glaubte, sie zu lieben, sie abgöttisch zu lieben und alles dafür tat, sie beobachten zu dürfen? Nur er allein, versteckt hinter einer Kamera? Sie hatte viele Briefe bekommen, Briefe von Männern. Von Männern, die ihre Schönheit verehrten und das in ihren Briefen zum Ausdruck gebracht hatten. Darunter hatte es auch einige gegeben, die ihr immer wieder geschrieben hatten. Die sie mit ihren Briefen verfolgt hatten. Mit Briefen, die ihr Angst gemacht hatten. Nie hatte sich einer von diesen Briefeschreibern zu erkennen gegeben. Irgendwann hatte sie aufgehört, diese Briefe zu lesen. Es hatte sie deprimiert, zu lesen, wie diese Männer ihre Selbstachtung aufgegeben und sich der Lächerlichkeit preisgegeben hatten, wenn sie ihr von ihren geheimen Fantasien berichteten. Wenn ihr einer geschrieben hatte, ganz ausführlich und anscheinend stolz darauf, dass er onanierte, wann immer er ein Foto von ihr sehen würde. Als wäre das etwas, dass ihr imponieren würde. Dabei war es doch kein Geheimnis, dass sie eine Schwäche für starke Männer hatte. Die kurze, aber heftige Beziehung zu dem amerikanischen Rocksänger war von der Presse in allen Einzelheiten ausgeschlachtet worden. Kaum waren die ersten Fotos von ihnen veröffentlicht, hatte die Vergangenheit den als Raubein bekannten Rocker wieder eingeholt. Die Journalisten waren schnell auf vergangene Anklagen wegen versuchter Vergewaltigung und Körperverletzung gestoßen. Doch das hatte diese Briefeschreiber nicht davon abgehalten, ihre demütigen Bemühungen immer wieder in schriftlicher Form an sie heranzutragen. Im Gegenteil, sie waren davon überzeugt gewesen, diese schöne und bezaubernde Botschafterin der Modewelt aus den Klauen dieses bösen Unholdes retten zu müssen. Am liebsten hätten sie dieses zerbrechliche, von Gott mit so viel Schönheit und Anmut ausgestattete Geschöpf, in einer nach Lavendel duftenden und wattierten Glasvitrine ausgestellt, sie angeschaut und bewundert, aber sie hätten sie nie angefasst. Dafür war sie zu kostbar, ihre Haut zu rein und zu zart, um mit klobigen, schwitzenden und behaarten Männerhänden in Berührung zu kommen. Es hatte viele von diesen Briefeschreibern gegeben. Darunter waren vier, die ihr in den Sinn kamen, als sie in die Kamera blickte und sich fragte, wer sie beobachtete. Einer war nur eine kurze Erscheinung gewesen, aber seine theatralisch verfassten Briefe waren ihr noch in guter Erinnerung geblieben. Er hatte sie immer sein Püppchen genannt. Die drei anderen hatten sich hartnäckig und über Jahre in ihrem Leben aufgehalten. Keine Woche war vergangen, in der sie nicht wenigstens einen Brief von jedem dieser drei Briefeschreiber erhalten hatte. Der Eine war noch jung gewesen, drei Jahre jünger als sie. Er hatte sich gut ausdrücken können, doch was er zum Ausdruck gebracht hatte, das war in ihren Augen erbärmlich gewesen. Der Zweite hätte ihr Vater sein können, er war nicht sehr gebildet, das war in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck gekommen. So manchen Rechtschreibfehler hätte sie ihm ja verziehen, andere aber waren so gravierend gewesen, dass sich ihr beim Lesen die Haare gesträubt hatten. Aber er musste Zeit und Geld gehabt haben, denn er schien ihr viel hinterher gereist zu sein, wenn sie durch die Welt getingelt war. Immer als unsichtbarer Geist, im Publikum, vielleicht im gleichen Hotel, vielleicht im gleichen Restaurant, am Tisch nebenan. Jedenfalls hatte er ihr viele Dinge geschrieben, die er nicht hätte wissen können, wäre er nicht in ihrer Nähe gewesen. Egal, ob sie in Rom auf der spanischen Treppe Werbung für ein Parfüm gemacht hatte oder auf dem Londoner Flughafen auf ihren Flug nach Warschau hatte warten müssen. Doch sie hatte nie Angst vor diesem Briefeschreiber gehabt, er war ein angenehmer Begleiter gewesen, wenn auch ein Unsichtbarer. Er hatte sie auf eine kindliche Art und Weise verehrt, ihr kleine Geschenke gemacht, manchmal hatte sie gedacht, er wünschte sich, sie wäre seine Tochter. Der dritte Briefeschreiber war ihr von Anfang an unheimlich gewesen. Seine Art zu schreiben hatte sie oft erschauern lassen. Er hatte anscheinend in ihr tiefstes Inneres blicken können. Und was er dort gesehen hatte, hatte er mit schwarzer Tinte auf rotes Papier geschrieben. Er hatte sie verehrt und er hatte sie besitzen wollen. Er hatte ihre geheimsten Fantasien manchmal derart schonungslos offenbart, dass ihr beim Lesen seiner handgeschriebenen Zeilen der Atem gestockt war. Dabei hatte sie sich auf eine unerklärliche Weise zu ihm hingezogen gefühlt. Er hatte etwas Geheimnisvolles, etwas Unheimliches, etwas Teuflisches an sich gehabt. Etwas, mit dem es ihm immer wieder gelungen war, sie in seinen Bann zu ziehen. Es hatte sie manchmal viel Kraft gekostet, sich seinen Briefen zu entziehen, aber die Angst vor dem Mann, dessen Zeilen oft mit animalischer Triebkraft auf sie gewirkt hatten, war stets größer gewesen, als das Verlangen, sich intensiver mit ihm auseinanderzusetzen. Seine Briefe, alle mit schwarzer Tinte auf rotem Papier geschrieben, waren ihr gut gehütetes Geheimnis geblieben, verpackt in einem Karton. Vielleicht hätte sie ihm irgendwann einmal mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte ihm die dunkle Seite ihrer Seele zugewandt, wäre ihm gefolgt in seinen abartigen Fantasien, doch dann war dieser Wohltätigkeitsball gewesen und sie hatte Sebastian Tetzloff kennengelernt. Einen Mann, dem die Welt zu Füßen lag, der sich genommen, was er begehrt hatte und der immer bekommen hatte, was er haben wollte. Nur ein paar Monate später waren sie verheiratet gewesen, die Welt der Mode war Vergangenheit geworden, und die Briefeschreiber schienen keine Tinte mehr gehabt zu haben.

Sonntag, 30. November 2003, 9:45 Uhr

Tetzloff hatte sich die Latex-Handschuhe übergezogen und den Brief aus dem Umschlag gezogen. Er warf nur einen kurzen Blick darauf und reichte ihn dann an Siebels weiter. Staatsanwalt Jensen stand auf Zehenspitzen hinter Siebels und versuchte über dessen Schulter einen Blick auf die Nachricht des Entführers zu werfen. Siebels spürte den Atem von Jensen im Nacken, las die Nachricht dann laut vor, damit Jensen ihm nicht noch dichter auf die Pelle rückte.

HERR TETZLOFF,

IHRER FRAU GEHT ES DEN UMSTÄNDEN ENTSPRECHEND GUT. SIE BEFINDET SICH IN MEINER OBHUT. ICH GEHE DAVON AUS, DASS SIE IHRE FRAU LEBENDIG UND RECHT BALD WIEDERSEHEN WOLLEN. ALSO MACHEN SIE SICH GEDANKEN, WAS SIE IHNEN WERT IST. ICH MELDE MICH IN KÜRZE WIEDER, BIS DAHIN SOLLTEN SIE IN DER LAGE SEIN, MIR EIN ANGEBOT ZU UNTERBREITEN.

Keiner der Männer sagte etwas, sie schauten sich ratlos an. Jensen nahm den Brief an sich, lief damit in der Küche auf und ab und schaute abwechselnd zu Charly, zu Siebels, zu Till und zu Tetzloff, der sich eine Zigarette anzündete. Till meldete sich schließlich zu Wort.

»Lasst uns erst einmal im Jaguar nachsehen, ob die Einkäufe nun da sind oder nicht. Dann können wir uns Gedanken über den Brief machen.«

Da keiner der Anwesenden einen besseren Vorschlag hatte, wurde einstimmig genickt. Bis vor ein paar Minuten schien diese Frage ja auch noch von größerer Bedeutung gewesen zu sein. Tetzloff ging voran, Jensen und seine Männer hinterher. Sie durchquerten die Eingangshalle, Bogner wartete an den wasserspuckenden Engeln auf sie und ging dann voraus. Gegenüber der Küche befand sich die Tür, die zur Garage führte. Ein schmaler Gang von etwa fünf Metern Länge verband das Haus mit der Garage, die für vier Autos Platz bot. Der Jaguar stand neben einem Jeep, Bogner öffnete den Kofferraumdeckel. Zwei vollgepackte Einkaufstüten standen im Kofferraum, der letzte Beweis der Existenz von Frau Tetzloff. Mit den Tüten begaben sich die Männer wieder zurück ins Haus. In der Küche packte Tetzloff alles aus und legte die Sachen auf den Küchentisch. Zwei Flaschen Saft, Badesalz, vier Orangen und fünf Bananen. Nicht viel, um sich dafür am Samstagmittag ins Getümmel zu stürzen. Siebels wurde an seinen letzten Einkauf erinnert. Vielleicht hatte sie das Klopapier ja auch einfach vergessen? In der anderen Tüte befanden sich eine Flasche Parfüm, verschiedene Mode- und Frauen-Zeitschriften, ein Negligé und zwei Slips. Die Kassenbons waren auch vollständig, das würde die Sache vereinfachen.

»Wir benötigen ein aktuelles Foto Ihrer Frau. Damit gehen wir morgen in die Geschäfte, vielleicht erinnert sich jemand an sie?« Die Einkäufe waren ein erster Anhaltspunkt, um die Sache anzugehen. Siebels war erleichtert.

»Kommen Sie mit nach oben, dort habe ich viele Fotos meiner Frau. Tausende, um genau zu sein, schließlich war sie Model.«

Sie saßen wieder dort, wo sie am Abend zuvor gesessen hatten, tief versunken in den weichen, schwarzen Ledersesseln und in die Fotos von Simone Tetzloff vertieft. Die meisten Aufnahmen waren für Modemagazine gemacht worden und wenig geeignet für eine Befragung in den Läden. Doch schließlich fanden sie ein Foto, Simone Tetzloff lächelte freundlich auf dem Bild. Sie wirkte wie ein Mensch, nicht wie eine makellose Diva, so wie auf den Fotos von Vogue oder Madame. Es war ein Foto aus den Flitterwochen, aufgenommen in einem Café in Venedig.

»Was halten Sie von dem Brief ?«, wollte Tetzloff jetzt endlich von den Beamten wissen. Jensen holte Luft, doch Siebels kam ihm zuvor.

»Der Brief wirft einige Fragen auf, wie ich meine. Erstens: Es wird keine Summe genannt. Entweder weiß der Täter nicht, wie viel Sie zahlen können oder er will Sie mit einem kleinen Spielchen noch etwas zermürben, bevor er zur Sache kommt. Im ersten Fall würde ich auf einen Anfänger tippen, im zweiten Fall auf einen Profi. Und zwar auf einen, der sich viele Informationen über Sie besorgt hat. Da der Brief in der Ich-Form geschrieben ist, gehe ich zunächst davon aus, dass es sich nur um einen einzelnen Täter handelt. Er kann natürlich auch Helfer und Mitwisser haben, das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Zweitens: Er erwähnt mit keinem Wort, dass Sie die Polizei aus dem Spiel lassen sollen. Ich gehe fast davon aus, dass er bereits weiß, dass wir hier sind. Immerhin hat er den Brief in Ihrem Briefkasten deponiert, während wir hier auf einen Anruf gewartet haben. Trotzdem ist es bei Erpressungsversuchen üblich, dass die Opfer mit Drohungen davon abgehalten werden sollen, die Polizei zu alarmieren. Nichts davon in unserem Fall. Entweder ein blutiger Anfänger oder ein eiskalter Profi. Drittens: Er scheint es nicht eilig zu haben. Die Zeit spielt aber im Allgemeinen gegen einen Entführer. Er muss die Geisel an einem sicheren Ort verwahren und er muss mit jedem Kontakt zu Ihnen einen sicheren Weg der Kommunikation finden. Je länger er die Geisel in seiner Gewalt hat und je öfter er Kontakt zu Ihnen aufnehmen muss, bis er schließlich seine Forderungen erfüllt sieht, desto größer wird die Gefahr, dass er auffliegt. Ehrlich gesagt, glaube ich eher an einen eiskalten Profi als an den blutigen Anfänger.«

»Wenn Sie recht haben, was bedeutet das für die Sicherheit meiner Frau?«

»Das kommt darauf an, welchen Plan der Kerl ausgeheckt hat. Wenn wir ehrlich sind, können wir nicht einmal sagen, ob Ihre Frau überhaupt noch am Leben ist. Wenn es sich aber um einen Profi handelt und die Freilassung Ihrer Frau ein Bestandteil seines Planes ist, dann können wir davon ausgehen, dass Sie Ihre Frau unversehrt wiedersehen werden.«

»Und wenn nicht? Wenn es überhaupt nicht zu seinem Plan gehört, meine Frau am Leben zu lassen? Was dann? Und was, wenn es doch ein Anfänger ist? Was, wenn er in Panik gerät, weil die Polizei in meinem Haus ist, was dann?«

»Das sind jetzt doch alles nur Spekulationen, Herr Tetzloff, halten wir uns lieber an die Fakten. Denken wir an seinen Brief. Er will wissen, was Ihnen Ihre Frau wert ist. Ich vermute, er will in irgendeiner Form eine Zahl von Ihnen erfahren.«

Tetzloff schaute ungläubig zu Siebels. »Was soll ich dazu sagen? Wie viel ist mir meine Frau wert? Was denken Sie? Eine Million? Oder zwei oder drei? Oder besser knauserig sein, Hunderttausend für den Anfang? Schneidet er ihr ein Ohr ab, wenn ich zu wenig biete? Das ist doch ein Scheißspiel.« Er stand auf, wütend nahm er das leere Whiskyglas vom Tisch und schmiss es gegen die Wand. Dann ging er zum Fenster, schaute hinaus, starrte auf den Taunus, als wäre dort die Antwort nach dem Wert seiner Frau zu finden.

»Geht es überhaupt um Geld?« Charly hatte aufmerksam zugehört. Nun wurde er mit weit aufgerissenen Augen von Tetzloff angestarrt und Jensen, der neben ihm saß, boxte ihm in die Taille.

»Sie sind für die Spurensuche und die Technik verantwortlich, nicht für die Fragen, Herr Hofmeier.« Charly zuckte mit den Schultern und Jensen lehnte sich selbstzufrieden zurück, krümmte seinen Oberkörper aber gleich wieder nach vorn, weil Tetzloff da ganz anderer Meinung war.

»Was meinen Sie damit? Worum soll es denn gehen, wenn nicht um Geld?«

Jetzt war es Charly, der sich selbstzufrieden zurücklehnte, die Beine übereinanderschlug und seine Gedanken zum Ausdruck brachte.

»Gestern haben Sie uns doch von den rumänischen Investoren erzählt. Vielleicht lautet die Frage ja auch, ob Ihnen Ihre Frau der geschäftliche Rückzug aus Osteuropa wert ist?«

Tetzloff nickte nachdenklich, ging im Zimmer auf und ab und zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch direkt in das Gesicht von Jensen. »Warum nicht? Denen traue ich alles zu. Vielleicht wollen sie aber auch einfach nur einen finanziellen Ausgleich für ihre Verluste.«

Siebels schaltete sich jetzt wieder in das Gespräch ein. Auch er blies dem militanten Nichtraucher Jensen seinen Rauch vor die Nase. »Haben Sie eine Vorstellung, in welcher Größenordnung diese Verluste liegen?«

»Ich müsste mich erkundigen, das dürfte bei meinen Kontakten kein allzu großes Problem sein. Aber insgesamt sind die Rumänen bestimmt mit zehn bis zwanzig Millionen US-Dollar investiert. Die haben sich in einer Investment-Holding zusammengeschlossen. Sie nennen sich RIU, Romania Investment Union. Ein ziemlich unbekanntes Blatt auf dem Investoren-Parkett.«

»Gibt es noch andere Aktivitäten dieser Holding?«

»Sie sind bei einigen kleineren Internet-Unternehmen finanziell beteiligt, vornehmlich in Ungarn, Slowenien und der Slowakei. Das weiß ich aber auch nur, weil ich Informationen eingeholt habe, als wir nach Osteuropa expandiert haben und da der Ärger mit diesen Leuten aufkam.«

»Was für ein Ärger kam denn auf?«

»Einige Unternehmen, die sich für unser Produkt und gegen das ungarische Konkurrenzprodukt entschieden haben, wurden bedroht oder sabotiert. Ein Werksleiter wurde vor den Toren seiner Firma von Unbekannten zusammengeschlagen, ein Direktor bekam nächtelang Telefonanrufe mit Morddrohungen, ein anderes Werk wurde mit virenverseuchten E-Mails bombardiert. Und immer der versteckte Hinweis, dass es sich lohne, auf einheimische Produkte zurückzugreifen. Einige Kunden sind tatsächlich abgesprungen, wir haben uns damals noch nichts dabei gedacht. Erst als sie auch in einem ungarischen Werk von Siemens massiv Druck ausübten, wurden wir darauf aufmerksam. Der dortige Geschäftsführer von Siemens hat sich mit uns in Verbindung gesetzt und uns über den Sachverhalt aufgeklärt. Wir haben anschließend bei anderen Kunden vorsichtig nachgefragt und dann nach und nach das Ausmaß der ganzen Geschichte erfahren.«

»Und wie haben Sie darauf reagiert?«

Tetzloff lächelte. »Wie ich darauf reagiert habe? Ich habe sie fertiggemacht. Ich lasse mir doch von ein paar windigen Rumänen nicht das Geschäft verderben. Mit einer aggressiven Expansions- und Preispolitik habe ich in ganz Osteuropa so viele Fronten eröffnet, dass die gar nicht mehr wussten, wie ihnen geschah. Ich habe ein ganzes Heer an Verkäufern eingestellt, habe die alle in kürzester Zeit erstklassig schulen lassen und dann losgeschickt. Und zwar mit Preisen, die unseren Aufwand nicht einmal annähernd deckten. Ich habe in drei Monaten so viele Softwarepakete in Osteuropa verkauft, wie im Westen in drei Jahren nicht. Das ist zwar auf absehbare Zeit ein dickes Minusgeschäft, aber die Rumänen waren aus dem Rennen, die hatten keine Chance mehr. Ich habe sie schlicht und ergreifend überrannt. Mit ihren Einschüchterungsversuchen bei unseren Kunden war kein Blumentopf mehr zu gewinnen, es waren einfach viel zu viele Kunden.«

»Kennen Sie die Namen von diesen Leuten?«

»Einige, ja. Ionescu und Popescu, das sind die Namen der eingetragenen Geschäftsführer der Holding. Mir sind auch im Laufe der Zeit einige andere Namen dieser Bande untergekommen, aber da müsste ich in den Unterlagen in meinem Büro nachsehen.«

»Wo haben Sie eigentlich Ihr Büro?«

»Ich führe meine Geschäfte seit einem Jahr vom Messeturm aus, dort ist mein oberstes Management angesiedelt, wir haben zwei Etagen gemietet. Ich habe aber auch Büros an anderen Standorten. In Frankfurt noch in der Niederräder Bürostadt und eines am Flughafen. Dort führe ich meine Gespräche, wenn meine Geschäftspartner nur auf der Durchreise sind. Außerdem bin ich noch in Düsseldorf, Paris und New York mit Büros vertreten, dort bin ich aber nur selten. Die meiste Arbeit wird vom Messeturm aus erledigt.«

»Gut, dann beschaffen Sie uns alles, was Sie über die Rumänen an Unterlagen haben. Wir fangen morgen an, im Main-Taunus-Zentrum nach Augenzeugen der Entführung zu suchen. Wenn es etwas Neues gibt, melden Sie sich bitte umgehend bei mir, hier ist meine Karte. Sie können sich auch bei meinem Kollegen melden.« Siebels zeigte auf Till und auch Till drückte Tetzloff seine Karte in die Hand.

»Was denken Sie, wann sich der Kerl wieder bei mir meldet?«

»Frühestens morgen, machen Sie sich aber darauf gefasst, dass er sich heute noch meldet, vielleicht aber auch erst in ein paar Tagen.«

»Ich weiß immer noch nicht, was ich ihm sagen soll. Ich kann ihm ja schlecht sagen, dass ich mich mit Business-Soft aus Osteuropa zurückziehen werde. Wenn er mit den Rumänen gar nichts zu schaffen hat, wäre das eine ziemlich blöde Antwort. Ich will auf keinen Fall das Leben meiner Frau gefährden.«

»Gut, nehmen wir einmal an, er weiß über Ihre finanziellen Möglichkeiten einigermaßen Bescheid. Dann sollten Sie uns auch einweihen, damit wir wissen, worüber wir reden. Wie groß ist Ihr Vermögen?«

Jensen, der die ganze Zeit in seinem Sessel gekauert und mit akrobatischen Kopfverrenkungen versucht hatte, dem ständigen Zigarettenrauch von Tetzloff und Siebels auszuweichen, sprang nun mit einem Satz vom Sessel auf. »Herr Siebels, ich glaube nicht, dass uns das weiterhilft. Es ist doch allgemein bekannt, dass Herr Tetzloff zu den vermögendsten Einwohnern in unserem Lande zählt.«

»Ist schon gut, Herr Staatsanwalt, wenn ich die Hilfe von Ihren Leuten in Anspruch nehmen will, haben sie auch ein Recht auf bestmögliche Informationen. Ich kann mein Vermögen natürlich nicht in einer Zahl ausdrücken. Ich verfüge über Konten mit sofort verfügbarem Bargeld von etwa fünf Millionen Euro. Außerdem über ein Aktiendepot mit einem Gegenwert von etwa fünfzig Millionen Euro. Das ist auch kurzfristig liquides Kapital. Dazu kommen noch andere Wertpapiere, Immobilien- und Grundstücksbesitz und natürlich meine Unternehmen, die nicht an der Börse notiert sind. Dazu gehören eine Zeitarbeitsvermittlung mit bundesweit fünfzig Agenturen, ein Verlag für finanzwirtschaftliche Literatur und natürlich die Papierfabrik, mit der ich meine Laufbahn als Unternehmer begonnen habe. Der Wert dieser Unternehmen ist kurzfristig nicht in liquide Mittel zu generieren. Meine Frau hat natürlich während ihrer Karriere auch ein beachtliches Vermögen angehäuft. Fünf bis sechs Millionen Euro sind in ihrem Besitz, ein großer Teil davon stammte aus Werbeverträgen.«

»Okay, meines Wissens nach wurden bei Erpressungsversuchen von wohlhabenden Familien bisher selten mehr als eine Million Euro gefordert. Auf diesen Wert sollten Sie sich meiner Meinung nach einrichten. Bevor Sie aber auf irgendetwas eingehen oder auch nur irgendeine Zahl nennen, verlangen Sie ein Lebenszeichen von Ihrer Frau. Gehen Sie da keine Kompromisse ein. Und informieren Sie mich sofort, wenn er Kontakt mit Ihnen aufnimmt, egal zu welcher Zeit. Ich möchte auch einen Kollegen hier im Haus haben und einen vor dem Haus.«

»Wir wissen immer noch nicht genau, woran wir sind, und ich möchte nicht zu viel Polizisten eingeweiht wissen. Das war mit dem Polizeipräsidenten ausgemacht. Wenn die Presse Wind davon bekommt, ist hier die Hölle los und das Leben meiner Frau keinen Pfifferling mehr wert. Das wissen Sie genau, Herr Siebels.«

»Aber vergessen Sie nicht, dass der Kerl hier war, er hat den Brief persönlich eingeworfen. Mir ist nicht wohl dabei, das Haus unbewacht lassen.«

»Dann müssen Sie auch meine Büros bewachen, wissen Sie, wie viele Polizisten notwendig wären? Vergessen Sie das wieder. Sie und Ihr Kollege sowie der Herr Hofmeier von der Spurensicherung, sonst niemand, ist das klar?«

»Keine Sorge, Herr Tetzloff, Sie können sich ganz auf mich verlassen. Erst wenn es die Ermittlungsergebnisse erlauben, ziehen wir nach Absprache mit Ihnen noch weitere Beamte hinzu.«

Jensen beruhigte Tetzloff wieder, Siebels ärgerte sich maßlos über diese Arschkriecherei des Staatsanwaltes, sagte aber nichts mehr. Damit war der Aufenthalt in der Villa Tetzloff beendet, jedenfalls für den Sonntag. Siebels wollte nun endlich zu seiner Sabine. Der Gedanke an sie erweckte in ihm zum ersten Mal Mitgefühl mit Tetzloff, der sich die ganze Zeit über sehr gefasst gezeigt hatte.

Die verlorene Vergangenheit

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