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Erinnerungen, September 1975

Abwartend saß ich mir in dem Warteraum in der Dienststelle der französischen Fremdenlegion in Reims den Hintern wund. Links von mir saß der Engländer, rechts der Pole. Meine Gedanken überschlugen sich, mir war die Legion nur vom Hörensagen bekannt. Nach meinen Erkenntnissen trafen sich in der Legion die Versager der Gesellschaft. Dort bekam man Disziplin eingetrichtert, dort konnte man zum Helden aufsteigen oder zum Niemand deklassiert werden. Eigentlich hatte ich aber keine Ahnung. Ich war drauf und dran, einfach wieder aufzustehen und zu gehen. Aber wohin hätte ich gehen sollen? Zurück wollte ich nicht, da war diese Grenze, die Grenze zu meinem alten Leben. Diese Grenze war tabu, denn was mich dahinter erwartete, das war Enttäuschung, Verzweiflung und Wut. Also blieb ich sitzen und ließ die Dinge auf mich zukommen. Ich beschloss, mich auf Claude zu verlassen. Claude hatte mich aus dem Nichts geholt und mir wieder Leben eingeblasen. Vielleicht war er ja ein Engel, der geschickt worden war, um mich auf den richtigen Weg zu bringen, nachdem alles um mich herum zusammengestürzt war. Ohne Claude wäre ich jetzt nur noch ein Häufchen Elend, zum Dahinsiechen verdammt, verfolgt von Dämonen und blutigen Bildern, die sich in meinem Kopf Nacht für Nacht an die Oberfläche kämpften. Ich versuchte, den Engländer in ein Gespräch zu verwickeln, fragte ihn, woher er kommen würde. Fuck you, war seine Antwort.

Also hatte ich mich dem Polen zugewandt. Thomas kam aus Warschau. Er sprach Deutsch mit starkem Akzent. Auf der Suche nach Arbeit hatte es ihn nach Deutschland verschlagen. Dort fand er einen Job auf dem Bau. Allerdings bekam er oft Streit mit dem Polier und verliebte sich auch noch in die falsche Frau, nämlich in die des Poliers. Die erneute Flucht verschlug ihn nach Belgien. Er landete in einer Kneipe, schenkte Bier aus und freundete sich mit einem Söldner an. Der hatte von seiner Zeit in der Legion geschwärmt und Thomas damit schwer beeindruckt. Ein neues Leben, warum nicht. Das alles hatte ich während drei nicht enden wollenden Stunden auf einer unbequemen Holzbank in Reims erfahren. Dann wurde ich endlich aufgerufen. Zielstrebig marschierte ich in das kleine Büro. Nur ein Schreibtisch, dahinter ein Soldat, der einen Fragebogen vor sich hatte. Ohne Umschweife fragte er mich nach meinem Namen. Die ganze letzte Nacht hatte ich nach einem neuen Namen gesucht. Philippe van Kerken, gab ich nun selbstbewusst zur Antwort. Philippe war mein Freund gewesen, damals, als wir noch Kinder waren und ich meine Ferien auf dem Hof meiner Großeltern verbracht hatte. Ich hatte von Philippe geträumt, als ich bei Claude und Monique neu geboren wurde. Und van Kerken war der Nachname von Claude und Monique. Der Soldat notierte pflichtbewusst meinen neuen Namen in seinem Fragebogen, der Rest war Routine. Ich war nicht vorbestraft, hatte keine ansteckenden Krankheiten gehabt und war nicht auf Medikamente angewiesen. Der Soldat war zufrieden und ich entlassen Thomas kam an die Reihe. Auch bei ihm gab es keine Probleme. Nach unserer Vorstellung in dem Büro saßen wir wieder zusammen auf der Holzbank. Der Engländer war in das Büro gerufen worden. Er blieb deutlich länger drin, vielleicht eine halbe Stunde. Dann kam er mit hochrotem Kopf aus dem Büro gestürmt und verließ laut fluchend die Kaserne. Thomas und ich lachten schadenfroh. Trotzdem saßen wir uns weiter den Hintern wund, bis endlich der letzte Kandidat das Büro hinter sich ließ. Zwölf junge Männer waren am Ende des Tages übriggeblieben. Die anschließende Nacht verbrachten wir in der Kaserne in Reims, am nächsten Morgen wurden wir um 5:00 Uhr aus den Feldbetten gejagt. Ein miserables Frühstück erwartete uns in der Kantine, wir hatten ohnehin nicht viel Zeit zum Frühstücken, um 5:20 Uhr startete unser Bus. Es folgte eine kurze Reise, unsere kleine Gruppe wurde im Fort St. Nogent am Rand von Paris abgesetzt und dort in ein Quartier eingewiesen. Im Laufe des Tages wurden noch weitere kleine Grüppchen in dem Fort abgeladen. Junge Männer aus allen Teilen der Welt wurden hier versammelt, um auf den Dienst in der Legion vorbereitet zu werden. Der erste Termin in der neuen Umgebung war der beim Friseur. Einer nach dem anderen wurde geschoren und am Ende des Tages trugen achtzig Männer den Standardhaarschnitt, boule à zéro, zu Deutsch: Nullerkugel. Unser Aufenthalt hier sollte nur vier Tage dauern. Die geschorenen Männer erhielten einen Grundkurs in Französisch. Vor allem die Befehle der Vorgesetzten mussten verstanden werden. Ich hielt von Anfang an eine Sonderstellung inne, weil ich nicht nur französisch, sondern auch englisch und deutsch sprach. Die Anfänger, die auf die Grundausbildung vorbereitet wurden, mussten zunächst einmal lernen, wie sie ihr Bett zu beziehen und die Stube zu schrubben hatten. Viel Wert wurde bei der Legion auch auf Gesang gelegt. Am ersten Tag kamen sich die meisten Kandidaten noch ziemlich blöd vor, wenn der Sergent voller Inbrunst ein Lied anstimmte, und das tat er oft und gern. Am vierten Tag sangen die Männer bereits voller Begeisterung mit, der Sergent war zufrieden.

Montag, 01. Dezember 2003, 8:45 Uhr

Ausnahmsweise fuhr Till, Siebels saß auf dem Beifahrersitz und las die Informationen zu Simone und Sebastian Tetzloff, die Till ausgedruckt hatte. Sie nahmen die Autobahn Richtung Wiesbaden, das Main-Taunus-Zentrum lag strategisch günstig zwischen Frankfurt und dem Vordertaunus.

»Wo warst du eigentlich heute Morgen?«, wollte Till wissen.

»Bei den Kollegen von der Wirtschaftskriminalität. Die machen sich mal schlau, was die Rumänen betrifft. Einschlägig bekannt sind die jedenfalls nicht.« Das Handy von Siebels meldete sich mit der Bonanza-Melodie.

Till lachte laut los, als er die Melodie erkannte. »Hey Hoss, sattel die Pferde, ein Hühnerdieb schleicht durch die Gegend.« Lachend summte er die Melodie und trommelte dazu auf das Lenkrad ein. Als er hörte, dass Siebels mit Tetzloff telefonierte, gab er Ruhe.

»Wir sind gerade auf dem Weg zum Main-Taunus-Zentrum, heute Nachmittag um 14:00 Uhr, das lässt sich einrichten, kein Problem. Nein, Staatsanwalt Jensen kommt nicht mit. Ja, bis später.«

»Gibt es was Neues?«

»Vielleicht. Tetzloff behauptet, er hätte gestern Abend vor lauter Verzweiflung die Kleiderschränke seiner Frau durchsucht. Dort hätte er einen Karton mit Briefen gefunden. Der Absender wäre ein Fan von seiner Frau gewesen, als sie noch als Model gearbeitet hat. Tetzloff meint, die Briefe seien ziemlich merkwürdig. Wir sollten uns das auf jeden Fall anschauen, heute Mittag ist er zuhause. Ich habe versprochen, dass wir vorbeikommen.«

Sie waren bereits auf dem Gelände des Einkaufszentrums, rings um das auf der grünen Wiese gebaute Zentrum waren Parkflächen angeordnet.

»Auf P3 hat Bogner den Jaguar gefunden, sieh zu, dass du da einen Platz findest.«

Es gab noch viel freien Parkraum, Till kurvte den Wagen durch die Parkreihen und die beiden verschafften sich einen Überblick. Es schien fast unmöglich, auf dieser großen, rechteckig angeordneten asphaltierten Fläche, wo ein reges Kommen und Gehen herrschte, jemanden unbemerkt zu überwältigen und zu verschleppen.

»Entweder sie kannte den Kerl und ist freiwillig mit ihm gegangen oder gefahren oder ...«

»Oder was?«, hakte Till nach.

»Oder die Ehe der beiden ist nicht die Märchenstory, so wie es in den Zeitschriften dargestellt wird. Einen Hang zur Extravaganz hat sie ja jedenfalls, wenn man den Berichten über ihre Liebschaften Glauben schenken darf. Was ist, wenn sie von Tetzloff die Nase voll hatte, einen neuen Liebhaber gefunden hat und sich jetzt mit viel Fantasie absetzen will. Jede Wette, dass Tetzloff einen Ehevertrag gemacht hat und sie bei einer Scheidung nur mit dem Nötigsten abgespeist wird. Dann macht auch der komische Brief einen Sinn. Was ist sie ihm wert. Das interessiert vielleicht vor allem Frau Tetzloff selbst. Eine Million, oder zwei? Und Tetzloff ahnt vielleicht, woher der Wind weht. Er will ihr das Handwerk legen, das muss natürlich in aller Stille passieren, bloß nichts an die Öffentlichkeit dringen lassen, das könnte verheerende Folgen für ihn haben. Also macht er uns zu seinen Deppen und wir spielen das Spiel mit.«

»Erzähle bloß Jensen nichts von dieser Theorie. Der versetzt uns sonst an den Nordpol.«

»Das ist halt meine Methode, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Wenn ich immer auf die Ansichten von Jensen Rücksicht nehmen würde, hätte ich wahrscheinlich noch nicht einen einzigen Fall gelöst in meinem Leben.«

»Sag ihm das auch noch, ich buche schon mal die Tickets zum Nordpol.«

Till hatte den Wagen abgestellt, die beiden machten sich auf den Weg zu den Geschäften. Siebels hielt die Kassenbons, die sie bei den Einkäufen von Frau Tetzloff gefunden hatten, in der Hand.

»Wo fangen wir an?«, wollte Till wissen.

»Gehen wir erst mal zu Douglas, dort hat sie ein Flakon Parfum gekauft, Chance heißt das.«

»Das habe ich letzte Woche auch gekauft, als Weihnachtsgeschenk für Johanna.«

Links und rechts waren die Geschäfte angesiedelt, größere Filialen von den überall ansässigen Bekleidungsketten, kleinere Boutiquen, eine Ansammlung von Metzgereien, gleich drei Stück an einer Stelle und in der Mitte standen die hölzernen Weihnachtsbuden. Geschnitzte Figuren waren anscheinend nicht so der Renner, am Glühweinstand war der Andrang umso größer, alle Jahre wieder, egal zu welcher Tageszeit. Bei Douglas roch es nach tausend Parfums, Frauen schnupperten mal hier und mal dort, Männer inspizierten die kleinen Fläschchen, sie orientierten sich eher an den Preisschildern. Siebels zog das Foto von Simone Tetzloff aus der Tasche, als eine Verkäuferin fragte, ob sie behilflich sein könne.

»Können Sie.« Er gab ihr das Foto und mit einem weiteren Griff in die Tasche beförderte er seinen Ausweis zum Vorschein. »Kriminalpolizei Frankfurt. Wir suchen Zeugen, die diese Frau am letzten Samstag hier gesehen haben.«

Die Verkäuferin, man roch, dass sie auf Parfum spezialisiert war, betrachtete sich neugierig das Foto. »Die kenne ich doch. Das ist doch die Deubinger, das Model. Oder?«

»Genau, jetzt heißt sie aber Tetzloff.«

»Ach ja, stimmt ja, die hat ja vor ein paar Jahren diesen Unternehmer geheiratet. Und die hat hier bei uns eingekauft? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

Siebels zeigte ihr jetzt auch den Kassenzettel.

»Was ist denn passiert?«, wollte die Verkäuferin wissen. Sie war plötzlich ganz aufgeregt. Simone Tetzloff war im Geschäft gewesen, das war eine kleine Sensation für sie.

»Nichts Schlimmes. Ihr Wagen, ein Jaguar, wurde beim Parken beschädigt, wahrscheinlich mutwillig. Wir machen nur eine Routinebefragung.«

»Verstehe ich nicht. Wenn ihr Wagen beschädigt wurde, warum überprüfen Sie dann, ob sie hier Parfum gekauft hat?«

Siebels schaute hilfesuchend zu Till, der war auf dem Posten.

»Ach wissen Sie, das ist nur wegen der Versicherung, die sind da sehr misstrauisch. Die Reparatur an dem Jaguar wird nämlich ziemlich kostspielig und der Frau Tetzloff ist schon öfter mal ein kleines Missgeschick beim Fahren passiert. Das bleibt aber unter uns.« Till zwinkerte ihr zu.

»Ach ja, das kenne ich. Gerade beim Einparken, wie schnell knallt man da mal gegen ein anderes Auto oder gegen einen Zaun. Aber dafür zahlt man ja schließlich auch jeden Monat seine Versicherungsprämie, nicht wahr. Die sollen sich mal nicht so anstellen, die von der Versicherung.«

»Das sehe ich auch so«, entgegnete ihr Till. »Trotzdem müssen wir das leider überprüfen. Sie können sich also nicht an sie erinnern, vielleicht eine Kollegin?«

»Das glaube ich nicht. Das hätte sich doch rumgesprochen. Bestimmt hatte sie eine Perücke auf, wie das so ist, bei den Prominenten.«

Siebels und Till schauten sich gegenseitig an. Der Gedanke schien gar nicht so abwegig zu sein. Die Verkäuferin rannte trotzdem los, ganz euphorisch zeigte sie ihren Kolleginnen das Foto, erntete aber nur Schulterzucken und Kopfschütteln. Enttäuscht kam sie zu den wartenden Kommissaren zurück.

»Tut mir leid, niemand kann sich an Frau Tetzloff erinnern.« Sie warf noch einmal einen Blick auf den Kassenbon. »Die hätte sich aber auch was Besseres leisten können.«

»Haben am Samstagvormittag noch andere Kolleginnen oder Kollegen gearbeitet, welche, die heute nicht da sind?«

»Nein, leider sind wir zurzeit nicht voll besetzt. Ziemlich stressig, wenn so wenig Personal zur Verfügung steht. Gerade jetzt, wo das Weihnachtsgeschäft auf Hochtouren läuft.«

»Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, rufen Sie mich einfach an, hier ist meine Karte.« Siebels nahm den Kassenbon und das Foto wieder an sich und die Verkäuferin wandte sich einer älteren robusten Dame zu, die bereits ungeduldig auf fachkundige Beratung wartete.

Wieder draußen überlegte Siebels laut: »Eine Perücke, das klingt gar nicht so dumm. Eine Frau wie Simone Tetzloff wird doch bestimmt ständig erkannt und angesprochen, wenn sie hier herumläuft und einkauft.«

»Das hätte uns ihr Mann aber gesagt, meinst du nicht?«

»Wir fragen ihn auf jeden Fall. Wäre doch zu blöd, wenn wir überall nach einer Brünetten mit schulterlangem Haar fragen und sie ist hier hellblond mit langen Haaren zum Einkauf erschienen.«

»Wo geht’s jetzt hin?«

»Da drüben ist das Reformhaus. Da hat sie zwei Flaschen Goldtraubensaft gekauft.«

»Hört sich gesund an.«

»Da gibt’s überhaupt nur gesundes Zeug. Solltest du auch mal einkaufen. Immer nur Hamburger und Currywurst, das macht auf die Dauer dick.«

»Das predigt mir Johanna schon ständig. Sehe ich vielleicht irgendwie dick aus? Höre du mal lieber mit dem Rauchen auf, dann kannst du mir was von gesunder Ernährung erzählen.«

»Apropos, bevor wir da reinmarschieren, rauche ich erst mal eine.«

»Wundert mich, dass Sabine dir das noch nicht abgewöhnt hat.«

»Sie arbeitet daran, in der Wohnung nur noch in der Küche bei geöffnetem Fenster.«

»Die wird mir immer sympathischer. Ich gehe schon mal rein und schau mich um. Vielleicht finde ich ja ein leckeres Knäckebrot.«

Siebels setzte sich auf eine Bank, platzierte sich neben einem Aschenbecher und rauchte genüsslich seine Zigarette.

Im Reformhaus hielt sich weniger Kundschaft auf, nur eine Verkäuferin stand hinter der Kasse. Siebels entdeckte Till in der hinteren Ecke des Ladens, er studierte die Nährwerte auf einer Zwieback-Packung.

»Vom Saulus zum Paulus was die Ernährung angeht, was? Deine Johanna scheint dich ja auch gut im Griff zu haben.«

»Sie arbeitet dran, Samstag morgens gibt’s immer Tee, nix mehr mit Kaffee.«

»Die machen uns fertig, die Weiber. Der Goldtraubensaft wurde Tetzloff wahrscheinlich auch zwangsweise von seiner Frau eingeflößt. Fragen wir ihn mal, ob er Mitglied in unserem Club werden will.«

»Bringen wir es hinter uns, die Kassiererin hat gerade keine Kundschaft.«

Das gleiche Ritual wie bei Douglas begann, Siebels schmückte die Geschichte mit dem demolierten Jaguar jetzt aber etwas besser aus. Die Verkäuferin schüttelte aber nur mit dem Kopf, die Frau auf dem Bild schien ihr nicht weiter bekannt vorzukommen. Siebels vergewisserte sich, ob sie auch am Samstag im Laden gewesen sei, was sie bejahte. Er wollte gerade wieder gehen, als Till tatsächlich mit dem Zwieback erschien und ihn bezahlte. Er packte auch gleich den ersten aus und fing an, an dem Zwieback zu knabbern.

»Schmeckt’s?«

»Lecker!«

»Lügner. Jetzt müssen wir in den Body-Shop. Da kannst du dir auch noch Faltencreme besorgen. Da um die Augen, da hast du schon lauter kleine Fältchen, das kommt vom vielen Cholesterin.«

»Nee, das kommt von dem Qualm, der mir im Büro immer in die Augen steigt.«

»Ach, jetzt bin ich schuld. Kann gar nicht sein, dann hätte ich ja auch Falten um die Augen.«

»Das waren vielleicht mal Falten, jetzt sind es Krater, was du da um die Augen hast.«

Die beiden liefen zur Hochform auf, auch in dem Body-Shop gaben sie keine Ruhe, die Verkäuferin hörte ihnen belustigt zu.

»Und wenn schon, das kommt vom Arbeiten. Außerdem macht mich das sexy, sagt Sabine.«

»Klar, wahrscheinlich bist du ihr süßes kleines Walross.«

»Kann ich Ihnen helfen?« Die junge Frau konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, wurde aber schnell wieder ernst, als Siebels erst seinen Ausweis und dann das Foto vorzeigte.

»Ja, die kenne ich. Das ist doch die Frau Tetzloff. Die kauft hier öfter mal ein. Immer nur Kleinigkeiten, mal ein Badesalz, mal eine Bodylotion. Was ist denn mit ihr?«

Diesmal erzählte Till die Geschichte von dem Jaguar. Die Frau blieb aber skeptisch. Man sah ihr an, dass sie nicht glaubte, was ihr gerade vorgegaukelt wurde. Siebels merkte das und bedrängte sie mit neuen Fragen, wollte ihr keine Gelegenheit zum Nachfragen geben.

»Kennen Sie Frau Tetzloff näher?«

»Nein, nicht wirklich. Ich hatte sie mal angesprochen, als sie das erste Mal hier eingekauft hatte. Sie war ganz nett gewesen, wollte aber nicht in ein tieferes Gespräch verwickelt werden. Seitdem begrüße ich sie einfach mit ihrem Namen, wenn sie mal wieder reinkommt. Früher mit Frau Deubinger, nach der Hochzeit mit Frau Tetzloff.«

»Ist Ihnen noch jemand aufgefallen, als Frau Tetzloff am Samstag hier war? Jemand, der kurz nach ihr in den Laden kam? Oder jemand, der draußen stand und sie beobachtet hat?«

Die Verkäuferin schaute die beiden ratlos an. »Ich kann mich nicht erinnern, nein, mir ist niemand aufgefallen. Das fragen Sie doch nicht wegen so einer Lappalie. Worum geht es denn wirklich?«

»Wenn Sie wüssten, was die Frau Tetzloff schon für Blechschäden angerichtet hat. Ihr Mann hat Anzeige gegen Unbekannt erstattet und die Versicherung glaubt ihm kein Wort. Und wir müssen der Sache jetzt nachgehen. Dabei hätten wir wirklich Wichtigeres zu tun.« Till schien sie nun langsam überzeugt zu haben. Helfen konnte sie trotzdem nicht, die beiden bedankten sich und verließen den Laden.

»Du hättest Schauspieler werden sollen«, lobte Siebels die überzeugende Vorstellung von Till.

»Die Tetzloff wird sich wundern, wenn sie wieder zum Einkaufen herkommt. Auf Wiedersehen, Frau Tetzloff, schönen Tag noch und viel Glück beim Ausparken.«

»Die verklagt uns dann wegen Rufmord. Hoffentlich kann sie hier bald wieder einkaufen, unversehrt.«

»Ja, während wir hier rumalbern, geht es der vielleicht richtig schlecht. Wer weiß, ob sie überhaupt noch lebt.«

»Darüber sollten wir uns nicht den Kopf zerbrechen. Wir machen unseren Job, so gut wir können. Wenn es dann nicht gelangt hat, sind es Tetzloff und Jensen, die sich Vorwürfe machen sollten.«

»Weit gekommen sind wir hier ja noch nicht. Da drüben ist der Obststand, da werden wir wohl auch nicht schlauer werden.«

Der Obstverkäufer betrachtete sich das Foto. Achselzuckend entschuldigte er sich, weil er nicht weiterhelfen konnte. Resigniert zogen die beiden weiter.

»Suchen wir noch den Laden auf, in dem sie die Dessous gekauft hat, danach essen wir hier was und fahren dann zu Tetzloff.«

Das kleine Geschäft für Damen-Unterwäsche befand sich gegenüber einer Buchhandlung. Siebels übernahm wieder die Initiative.

»Das ist doch die Simone«, sagte die Verkäuferin überrascht, als sie das Foto betrachtete.

»Sie kennen Frau Tetzloff persönlich?«

»Ja, wir sind Freundinnen. Was ist denn mit ihr?«

Bevor Till wieder die Geschichte von der schlechten Einparkerin Simone Tetzloff erzählen konnte, erfand Siebels eine andere, glaubwürdigere Geschichte.

»Wir ermitteln gegen einen aufdringlichen Fan von ihr. Frau Tetzloff fühlte sich verfolgt und am Samstag hatte sie einen Auffahrunfall, als sie das Zentrum verlassen wollte. Dabei wurde Frau Tetzloff leicht verletzt und liegt jetzt vorübergehend im Krankenhaus. Der andere Fahrer hat Fahrerflucht begangen. Jetzt versuchen wir zu klären, ob er ihr schon beim Einkaufen gefolgt ist. Können Sie sich an jemanden erinnern? Jemand, der Ihnen aufgefallen ist, als Frau Tetzloff hier im Laden war? Oder hat sie vielleicht eine Bemerkung gemacht?«

»Nein, sie hat kein Wort darüber verloren. Mir ist auch niemand aufgefallen. Sie war allein im Laden, das weiß ich noch.«

»Darf ich fragen, woher Sie Frau Tetzloff kennen?«

»Na ja, wir haben uns vor etwa zehn Jahren kennen gelernt. Wir hatten damals beide von einer Karriere als Model geträumt, ich vielleicht noch mehr als Simone. Wir haben zusammen für Damen-Unterwäsche im Neckermann-Katalog Modell gestanden. Für Simone war das der große Durchbruch. Bei mir hat es leider nicht zu sehr viel mehr gelangt, das sehen Sie ja. Dann habe ich sie jahrelang nur noch in Zeitschriften gesehen. Bis sie den Tetzloff geheiratet hat. Kurze Zeit später stand sie plötzlich hier in meinem Laden. Sie wollte alte Freundschaften wieder auffrischen, sie hatte ihren Job ja nach der Hochzeit an den Nagel gehängt und war sesshaft geworden. Ihr Mann hat ja auch nicht viel Zeit, da ist sie sich wohl etwas einsam vorgekommen. Jedenfalls stand sie plötzlich hier und hat mich zum Essen eingeladen. Seitdem haben wir uns ein paarmal verabredet, auf ein Eis oder für das Kino.«

»Und sie hat nie etwas von einem aufdringlichen Verehrer aus alten Zeiten erzählt? Oder dass sie das Gefühl hatte, verfolgt oder beobachtet zu werden?«

»Nein, überhaupt nicht. Sie hat hauptsächlich über ihre Ehe mit Tetzloff gesprochen. Und natürlich über die Model-Karriere, da konnte ich ihr stundenlang zuhören. Diese ganzen Insider-Geschichten aus der Welt des Glamours, herrlich.«

»Gibt es Probleme in der Ehe der Tetzloffs?«

»Probleme? Sebastian Tetzloff ist doch das Beste, was einer Frau passieren kann. Nein, es gibt keine Probleme. Außer vielleicht, dass er zu wenig Zeit für sie hat. Sie würde gern mit ihm durch die Welt reisen. Geld haben sie ja genug. Aber nach den Flitterwochen stürzte er sich wieder in seine Geschäfte. Einmal Unternehmer, immer Unternehmer, sagt Simone immer.«

»Den Polizisten geht es genauso. Nur haben die nicht so viel Geld. Falls wir noch Fragen haben, melden wir uns wieder.«

»In welchem Krankenhaus liegt sie denn?«

»Das dürfen wir Ihnen leider nicht sagen. Aber ich richte ihr aus, dass Sie sie gerne besuchen würden. Dann kann Frau Tetzloff Sie ja anrufen.«

»Machen Sie das. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass es keine größeren Probleme in ihrer Ehe gab. Jedenfalls keine, von denen sie einer Freundin erzählt hätte. Jetzt habe ich aber Kohldampf. Hast du Lust auf Chinesisch?«

»Chinesisch hört sich gesund an.«

Im Zentrum gab es ein China-Restaurant. Siebels entschied sich für panierte Ente mit süßsaurer Soße, dazu Reis. Till gönnte sich eine Portion Bami Goreng, geröstete Nudeln mit Schweinefleisch, Hühnerfleisch und Krabben. Sie hatten noch eine Stunde, bis sie um 14:00 Uhr mit Tetzloff verabredet waren.

Sonntag, 30. November 2003, 23:30 Uhr

Sie starrte auf die Kamera, die in das Innere des kleinen Badezimmers gerichtet war. Es ekelte sie an, dass er ihr auch beim Pinkeln zusah. Sie wurde wütend, sprang mit einem Satz vom Klo auf, stellte sich auf den Rand der Badewanne und fing an, mit der flachen Hand auf die Kamera einzuschlagen. Sie schlug immer weiter auf die Kamera ein, hörte auch nicht auf, als sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Hastig kam er in das Badezimmer und zerrte sie von der Wanne herunter. Sie schlug weiter um sich, jetzt nicht mehr auf die Kamera, sondern auf ihn. Sie schrie ihn an, sie würde sich auf dem Klo nicht zuschauen lassen, alles, aber das nicht. Er holte aus und gab ihr eine Ohrfeige. Er hätte ihr doch gesagt, dass sie sich benehmen solle, brüllte er sie keuchend an. Sie ließ von ihm ab, fasste sich an die Lippe, auf der sie einen kleinen Blutstropfen schmecken konnte. Langsam ging sie rückwärts aus dem Badezimmer. Dabei schaute sie ihm in die Augen, wie ein verwundetes Tier zog sie sich langsam zurück. Sie zeigte auf die Kamera, sagte ihm, dass das entwürdigend wäre. Dann ging sie zum Bett, setzte sich auf die Bettkante, eine Träne lief ihr über die Wange. Er kam zu ihr, hatte einen Wattebausch aus dem Badezimmer in der Hand. Er wollte ihr das Blut von der Lippe wischen, sie zuckte ängstlich zurück. Sie solle keine Angst haben, er würde ihr nichts tun, sagte er. Seine Stimme klang dabei fast zärtlich, fürsorglich. Sie ließ sich die aufgeplatzte Lippe von ihm abtupfen. Sie zitterte immer noch vor Aufregung. Ganz behutsam tupfte er ihr die weiche Watte auf die Lippe. Dabei betrachtete sie ihn. Seine Gesichtszüge waren markant, er hatte ein souveränes Auftreten, lächelte jetzt wieder. Kurz geschnittenes silbergraues Haar, sonnengebräunte Haut, eine Narbe über der linken Augenbraue, sie studierte seine Gesichtszüge, die vom Leben gezeichnet waren. Er war muskulös, hatte einen schlanken, aber durchtrainierten Körper. Er war einen Kopf größer als sie, sie konnte sein Parfum riechen, als er sich zu ihr beugte und ihre Lippe versorgte. Es war ein teures Parfum, auch seine Kleidung war maßgeschneidert, das erkannte sie jetzt, wo er so nah bei ihr war. Ihre Lippe hatte aufgehört zu bluten, er stand auf und ging in das Badezimmer. Als er wieder herauskam, hatte er die Kamera in der Hand. Sie wäre nur auf die Dusche ausgerichtet gewesen, nicht auf die Toilette, gab er ihr Auskunft.

Sie sah ihn an, nickte, als wollte sie sich entschuldigen. Als er wieder fort war, fragte sie sich, warum sie sich so wohl gefühlt hatte, als er sich fast liebevoll um ihre Lippe gekümmert hatte. Er übte eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus, sie war verwirrt. Verwirrt von ihren Gefühlen. Sie legte sich auf das Bett, starrte in die noch verbliebene Kamera. Wer bist du? Diese Frage ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und während sie angestrengt über ihren Entführer nachdachte, haftete ihr Blick starr an der Kamera.

Die verlorene Vergangenheit

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