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Erinnerungen, Mai 1975

Zunächst hörte ich den Hahnenschrei. Einmal, zweimal, dann wartete ich auf den dritten Schrei, doch der blieb aus. Stattdessen drangen andere Geräusche an mein Ohr. Vögel zwitscherten um die Wette, Federvieh gackerte aufgeregt, eine Tür wurde zugeschlagen. Regungslos lag ich da und horchte angestrengt nach den Geräuschen, die von draußen an mein Ohr drangen. Jemand schien Schweine zu füttern, das Gegrunze wurde immer lauter. Die Geräusche, die die Tiere verursachten, kamen mir merkwürdig vertraut vor. Fast so, als würde ich mich in familiärer Umgebung befinden. Auch der Geruch, der durch das halb geöffnete Fenster eindrang, kam mir wohlbekannt vor. Der Geruch von frischem Heu. Wie hatte ich das immer genossen, das stundenlange Herumtoben im Heu. Aber das war lange her. Damals, auf dem Bauernhof meiner Großeltern, im Süden Frankreichs. Als Kind hatte ich dort meinen Sommer verbracht. Die Melodie des französischen Liedes, das meine Oma mir immer vorsang, wenn sie mich zu Bett brachte, wurde in meiner Erinnerung lebendig. Immer tiefer wanderte mein Geist in jene Tage glücklicher Kindheit zurück.

Ich sah wieder Philippe und Claire vor mir. Wir saßen oben in unserem Baumhaus und beobachteten Großvater bei der Arbeit. Meine Mutter rief, wir sollten herunterkommen, uns die Hände waschen und zu Tisch kommen. Sie rief es in Deutsch, worüber ich mich ärgerte. Philippe und Claire konnten sie doch nicht verstehen. Ich antwortete ihr trotzig auf Französisch. Fließend und akzentfrei. Großvater schien das zu gefallen, denn er rief meiner Mutter zu, dass das französische Blut in meinen Adern dicker wäre als das deutsche. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich versuchte mir vorzustellen, wie zwei verschiedene Sorten Blut in meinem Körper zirkulierten. Das dicke französische und das dünne deutsche Blut. Als ich abends mit Philippe am See saß, wollte ich es genau wissen. Mit meinem Schweizer Taschenmesser, das mir Großvater im Sommer zuvor zum Abschied geschenkt hatte, ritzte ich in meine Fingerkuppe. Neugierig betrachtete ich das Blut, das tröpfchenweise aus meinem Finger herausquoll. Aber es schien doch nur eine Sorte Blut zu sein. Ich versuchte es an einem Finger der anderen Hand. Weder ich noch Philippe konnten einen Unterschied feststellen. Es tropfte nur eine Sorte Blut aus meinen Fingern. Ich fragte mich, ob es die französische oder die deutsche Sorte sei. Philippe wusste es auch nicht. Ich ritzte dann auch seinen Finger auf. Gemeinsam begutachteten wir neugierig den Blutstropfen auf seiner Fingerspitze. Ich hielt meine Fingerspitze zum Vergleich daneben. Wir kamen zu dem Schluss, dass Großvater sich mit den zwei verschiedenen Sorten Blut geirrt haben musste.

Plötzlich breiteten sich andere Bilder in meinem Kopf aus. Statt der zwei kleinen, mit Blutstropfen bedeckten Jungenfinger, nistete sich das Bild eines blutverschmierten Hinterkopfes in meinem Gedächtnis ein. Mit einem Mal begann ich heftig zu atmen. Ich bekam Angst, Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich wollte meine Augen endlich öffnen, doch dazu fehlte mir die Kraft. Immer deutlicher drang das Bild von fließendem Blut in meinen Kopf ein. Mein Herz fing an zu rasen, ich erkannte nur noch vereinzelte Bilder, Bilder ohne Zusammenhang, schreckliche Bilder. Meine Hände waren blutverschmiert. Ich sah zwei Sorten von Blut, die sich miteinander vermischten. Ich wollte die Bilder aus meinem Kopf verbannen. Kalter Schweiß drang mir aus allen Poren, ich zitterte am ganzen Leib. Tief in meinem Inneren vernahm ich gequälte Schreie. Ich wollte das fließende Blut stoppen, doch es floss immer weiter. Machtlos schaute ich auf meine blutverschmierten Hände, dann wurde es dunkel um mich herum. Ich fiel wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Die verlorene Vergangenheit

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