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Erinnerungen, Mai 1975

Zwei Tage und zwei Nächte schlief ich traumlos durch. Als ich wieder zu mir kam, gelang es mir nur mühsam, meine Augen zu öffnen. Ich erwachte in einem kleinen Zimmer, durch das Fenster konnte ich den Sonnenuntergang beobachten. Es war still, die Geräusche der Tiere waren verstummt. Einige Zeit lag ich völlig regungslos in dem fremden Bett. Ich überlegte, was passiert war, wo ich mich befand, wie lange ich geschlafen hatte. Draußen wurde es allmählich finster. Wie ein Blitz schlug mir ein grauenhafter Schmerz durch den Kopf, als ich mich im Bett aufrichten wollte. Dabei knarrte das Bett auf der Holzdiele. In der Stille kam mir dieses Geräusch wie ein donnernder Lärm vor. Ich fasste mir an den Kopf. Irgendjemand musste mir einen dicken Verband um den Kopf gewickelt haben. Dann hörte ich Schritte. Schwere Schritte, die eine Holztreppe heraufkamen. Die Tür zu meinem Zimmer wurde langsam geöffnet. Ein stämmiger Mann erschien im Türrahmen. Unsere Blicke trafen sich, argwöhnisch betrachtete er mich eine Weile. Schließlich lächelte er freundlich und kam auf mich zu. Auch ich versuchte zu lächeln. Er setzte sich zu mir auf die Bettkante und sprach mich auf Französisch an. Er sagte, dass ich fünf Tage lang bewusstlos gewesen sei. Ein Arzt wäre hier gewesen und hätte mich untersucht. Zwei Rippen hätte ich mir gebrochen, wegen einer schweren Gehirnerschütterung bräuchte ich noch viel Ruhe und sollte mich so wenig wie möglich bewegen. Erstaunt sah ich ihn an. Ich hatte noch so viele Fragen, nur bruchstückhaft konnte ich mich erinnern. Wieder tauchten die Bilder von frischem Blut in meinem Kopf auf. Aber ich war mir nicht sicher, ob es sich dabei um mein Blut handelte. Ich versuchte, die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Irgendetwas Schreckliches war passiert. Verwirrt erkundigte ich mich bei dem Mann an meinem Bett, wo ich denn sei. Ich fragte ihn auf Französisch. Es war gut, wieder in dieser schönen Sprache sprechen zu können, das hatte ich lange nicht mehr getan. Er antwortete mir mit einem tiefen, aber angenehmen Bass. Ich wäre auf einem Bauernhof. Auf seinem Bauernhof. Fürsorglich gab er mir ein Glas Wasser zu trinken. Erst in diesem Moment bemerkte ich, wie durstig ich war. Gierig leerte ich das Glas in einem Zug. Ohne zu zögern, schenkte er mir nach. Dann deutete er mir an, dass ich mich wieder ausruhen solle, und drückte mich sanft ins Kissen. Ich fühlte mich nicht in der Lage, ihm zu widersprechen. Ich war erschöpft und ausgelaugt. Bevor er das Zimmer wieder verließ, fragte ich ihn noch nach seinem Namen. Claude, verriet er mir und ließ mich dann wieder allein.

Samstag, 29. November 2003, 20:40 Uhr

Die beiden trotteten hinter Jensen her und machten große Augen. Glänzend weißer Marmor umgab sie, als sie durch die weitläufige Vorhalle im Eingangsbereich der Villa schritten. Palmen und Orchideen erzeugten eine exotische Atmosphäre. In der Mitte des ovalen Eingangsbereiches tröpfelten leise und beruhigend zwei Wasserstrahlen aus den Mündern zweier Engel, die einen kleinen Brunnen speisten. Hätte Siebels nicht gewusst, dass er sich in der kalten Jahreszeit in Königstein befinden würde, dann hätte er sich irgendwo in Südamerika vermutet. Kein Gedanke mehr an Edgar Wallace, an dichten Nebel und kalte Füße. Jensen war bereits eine der beiden Treppen hochgeeilt, die links und rechts in die obere Etage führten. Ungeduldig schaute er zu seinen Beamten hinunter, die aus dem Staunen gar nicht mehr herauskamen. Schließlich beugten sie sich dem flehenden und ungeduldigen Blick des Staatsanwaltes und folgten ihm in die obere Etage. Von hier aus verliefen drei Flure in die Tiefen des üppig ausgestatteten Gebäudes. Eine Ritterrüstung bewachte den Flur, den Jensen in eiligem Schritt entlangging. Es schien fast so, als wäre er hier zuhause. Gemälde links und rechts an den Wänden, beleuchtete Glasvitrinen stellten Porzellan und alle möglichen Sammlerstücke zur Schau. Indianischer Schmuck, Elfenbein und Jade, Gold und Silber glänzten hinter Glas. Jensen verschwand in einem der Zimmer, in einigem Abstand zwei sprachlose Polizisten hinterher. Fast etwas schüchtern betraten sie nun den Raum, in dem Jensen verschwunden war. Etwas erleichtert stellten sie fest, dass noch ein alter Bekannter anwesend war. Charly Hofmeier kniete in der Mitte des Raumes und hantierte mit allerhand elektronischen Geräten. Er schien sie nicht bemerkt zu haben, der dicke Perserteppich verschluckte jeden Schritt. Am Ende des Raumes stand ein Unbekannter. Unbeweglich stand er am Fenster, mit dem Rücken zum Zimmer.

»Es kann losgehen, meine Leute sind jetzt vollzählig«, unterbrach Jensen die Stille und unweigerlich brach eine gewisse Hektik aus. Der Mann am Fenster drehte sich ruckartig herum, musterte eindringlich die neuen Gesichter und zog dabei nervös an seiner Zigarette. Gleichzeitig ließ Charly von seinem Spielzeug ab und begrüßte seine Kollegen. Charly, der IT-Spezialist im Frankfurter Polizeipräsidium, war immer auf dem neuesten Stand der Dinge und ohne seine Hilfe waren viele Fälle gar nicht mehr zu klären. Sämtliche Abteilungen suchten seine Hilfe. Charly war immer da, Charly fand immer eine Lösung. Er knackte jedes Passwort, holte Dateien ins Leben zurück, die schon gelöscht und spurlos verschwunden waren. Charly war ein Genie, früher oft als verdeckter Ermittler eingesetzt, bis ihm ein Schuss ins Knie seine Bewegungsfähigkeit genommen hatte. Man hatte ihm dann eine Umschulung angeboten. Ein EDV-Seminar sollte er besuchen, das wäre die Zukunft. Charly entdeckte schnell seine Liebe zu den Geheimnissen der elektronischen Datenverarbeitung. Aus der Liebe wurde eine Sucht, Tag und Nacht verbrachte er vor dem Bildschirm. In der freien Wirtschaft hätte er mittlerweile ein Vielfaches von dem verdienen können, was sein Beamtensalär hergab. Aber Charly war auch ein Bulle geblieben. Ein Passwort zu knacken, nur um es zu knacken oder um ein Verbrechen aufzuklären, war ein großer Unterschied. Und Charly war in der Welt der Verbrechensaufklärung groß geworden, hier fühlte er sich zuhause.

Der Mann am Fenster hatte mittlerweile auf einem Chippendale-Sessel Platz genommen. Sein Gesicht kam Siebels bekannt vor, ein ausdrucksstarkes, markantes Gesicht. Schwarzes volles Haar verlieh ihm ein südländisches Flair. Sein anthrazitfarbener Anzug saß wie angegossen, darunter schien sich ein durchtrainierter Körper zu befinden. Breite Schultern, flacher Bauch, schmale Taille, eine Körpergröße von mindestens ein Meter fünfundachtzig. Graue Augen hinter einer randlosen Brille musterten weiterhin die Fremden, die, warum auch immer, in seiner Domäne aufgetaucht waren. Nachdem nun alle saßen und immer noch kein Wort gefallen war, außer der herzlichen Begrüßung zwischen Charly, Siebels und Till, ergriff Jensen wieder das Wort.

»Meine Herren, wie ich bereits sagte, handelt es sich um einen sehr heiklen Fall. Wir befinden uns hier übrigens bei Herrn Sebastian Tetzloff.«

Sebastian Tetzloff, jetzt klingelte es bei Siebels. Tetzloff war Unternehmer, einer der erfolgreichsten und einflussreichsten in Deutschland. Und einer der Reichsten. Sein Name stand oft in der Zeitung, er gab zu sämtlichen politischen Entscheidungen seinen Senf ab und die Journalisten verbreiteten seine Meinung euphorisch im ganzen Land und darüber hinaus. Sebastian Tetzloff war in der Wirtschaft eine Lichtgestalt wie Franz Beckenbauer im Fußball. Was er in die Hand nahm, war zu Erfolg verdammt. Siebels überkam ein mulmiges Gefühl. Wenn Jensen sie mehr oder weniger inkognito hierher bestellt hatte, dann war wirklich etwas Heikles passiert. Till schaute fragend in die Runde, er schien mit dem Namen Tetzloff nicht allzu viel in Verbindung zu bringen. Jensen half ihm auf die Sprünge.

»Wie Sie ja sicherlich wissen, ist Herr Tetzloff eine bedeutende Persönlichkeit im öffentlichen Leben. Ihm gehören mehrere Unternehmen, Tausende von Arbeitnehmern im In- und Ausland verdienen bei Herrn Tetzloff ihre Brötchen. Herr Tetzloff ist ein weltweit anerkannter und geschätzter Manager, sein Rat wird nicht nur von deutschen Politikern gern eingeholt, auch in London, Paris und Tokio ist er ein gern gesehener Gast.« Jensen unterbrach sich für einen Moment, wartete, ob Tetzloff seiner Lobeshymne noch etwas zuzufügen hatte. Doch Tetzloff schwieg, starrte auf seine Füße und schien im Geist weit weg zu sein.

»Selbst im Weißen Haus in Washington ist Herr Tetzloff das ein oder andere Mal um seinen Rat gefragt worden, da verrate ich doch nicht zu viel, Herr Tetzloff ?«

Tetzloff schaute nun endlich zu dem schnell sprechenden Jensen. »Kommen Sie bitte zum Punkt, Herr Staatsanwalt. Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringt.« Es schien ihm Mühe zu bereiten, seinen Zorn auf den plappernden Staatsanwalt zu unterdrücken. Siebels konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Natürlich, Herr Tetzloff. Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte meinen Beamten nur den Ernst der Lage klarmachen.«

»Dann machen Sie das jetzt bitte.«

Jensen wurde erst rot, dann weiß im Gesicht. Schließlich wollte er mit seinen Ausführungen neu beginnen, stotterte aber zunächst. Er griff zu dem Whiskyglas, das auf dem Tisch stand, nahm einen Schluck, hüstelte verräterisch gekünstelt und machte einen neuen Anfang, der aber von Tetzloff sofort wieder unterbrochen wurde.

»Entschuldigung, darf ich Ihnen auch etwas anbieten? Einen Whisky oder einen Kaffee vielleicht?«

Siebels und Till waren sich einig, nur ein Glas Wasser.

Jensen war heilfroh über die kleine Pause und sortierte sich neu. »Wie Sie vielleicht aus der Presse vor etwa zwei Jahren erfahren haben, ist Herr Tetzloff verheiratet.«

Siebels erinnerte sich. Die Zeitungen hatten die Tetzloffsche Hochzeit zum gesellschaftlichen Ereignis schlechthin hochgejubelt. Seine Frau Simone war der Öffentlichkeit bereits als Fotomodell bekannt gewesen. Eine Schönheit ohnegleichen, doch sie war bereits Ende zwanzig und hatte den Höhepunkt ihrer Karriere schon hinter sich gehabt, als sie dem zwanzig Jahre älteren Multimillionär Tetzloff das Ja-Wort gegeben hatte.

»Frau Tetzloff ist heute Vormittag zu einem Einkaufsbummel ins Main-Taunus-Zentrum gefahren«, fuhr Jensen fort. »Dort telefonierte sie mit ihrem Mann und die beiden verabredeten sich für 13:30 Uhr in einem chinesischen Restaurant in Kronberg. Als Frau Tetzloff eine Stunde nach dem verabredeten Termin immer noch nicht aufgetaucht war und auch auf Anrufe auf ihr Handy nicht reagierte, schickte Herr Tetzloff seinen Chauffeur ins Main-Taunus-Zentrum. Herr Bogner, so heißt der Chauffeur, fand nach einigem Suchen den Wagen von Frau Tetzloff auf dem Parkplatz. Einen dunkelgrünen Jaguar. An der Windschutzscheibe steckte ein Briefumschlag hinter dem Scheibenwischer, adressiert an Herrn Tetzloff. Herr Tetzloff fand dann schließlich diese Nachricht in dem Umschlag vor.« Jensen überreichte Siebels ein Stück Papier, eine halbe DIN-A-4 Seite.

Darauf stand nur ein Wort. ENTFÜHRT. Die Buchstaben waren in Blockschrift mit einem dünnen Filzschreiber geschrieben worden. Siebels reichte den Zettel an Till weiter.

»Wurden der Umschlag und das Papier spurentechnisch untersucht?«

»Das habe ich gemacht. Mit Hilfe einer jungen Laborantin, mehr oder weniger inoffiziell«, schaltete sich Charly in das Gespräch ein. Charly war der Spurensicherung zugeordnet. »Nichts, was uns weiterbringen würde. Keine Fingerabdrücke, das Papier ist handelsüblich, der Filzschreiber auch. Davon gehen tagtäglich große Mengen über die Ladentheken.«

»Warum war die Untersuchung inoffiziell?«, wollte Siebels wissen.

Jensen hüstelte wieder. »Herr Tetzloff ist mit dem Polizeipräsidenten befreundet und hat ihn sofort angerufen und ihm die Sachlage geschildert. Wie Sie wissen, hat die Polizei einiges Aufsehen erregt bei dem letzten Entführungsfall in Frankfurt. Der Polizeipräsident will jetzt von Anfang an jedweden Fehler vermeiden. Und da es bisher außer diesem Zettel überhaupt keine Informationen gibt, wollen wir zunächst sehr behutsam vorgehen. So hat sich der Präsident ausgedrückt. Das heißt vor allem, dass die Presse so lange wie möglich außen vor bleibt. Also keine offiziellen Ermittlungen, kein Polizeifunk in dieser Sache. Nur Sie drei, der Präsident und ich sind eingeweiht. Jedenfalls so lange, bis wir mehr über die Umstände erfahren.«

Tetzloff wandte sich an Siebels. »Herr Jensen hat mir versichert, dass Sie und ihr Kollege die besten Männer sind, die die Kriminalpolizei aufzubieten hat. Ich nehme an, dass Sie einige Fragen an mich haben, wollen wir anfangen?«

»Darf ich rauchen?«

Tetzloff drückte gerade seine Zigarette im Aschenbecher aus und schob ihn Siebels hin.

Nachdenklich blies der dann den Rauch aus seiner Lunge. »Wann genau haben Sie mit Ihrer Frau telefoniert?«

»Das war gegen 11:30 Uhr.«

»Könnte es sein, dass ihre Frau zu diesem Zeitpunkt schon in den Händen des oder der Entführer war? Klang ihre Stimme normal, hörten Sie Hintergrundgeräusche?«

Tetzloff streckte seine Beine aus, kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Nein, sie hat sich ganz normal angehört, sie befand sich gerade in einer Lebensmittelabteilung. Es gab Hintergrundgeräusche, Durchsagen von Sonderangeboten, Hackfleisch und Bananen, soweit ich verstehen konnte.«

»Sie sind sehr wohlhabend, Sie sind eine bekannte Persönlichkeit, haben Sie Maßnahmen zu Ihrem persönlichen Schutz und dem Ihrer Frau getroffen?«

»Wir haben keine Bodyguards, wenn Sie das meinen. Das Haus und das Grundstück sind mit den modernsten Alarmanlagen ausgestattet. Mein Chauffeur ist in gewisser Weise auch eine Art Bodyguard, ehemaliges Mitglied beim Bundesgrenzschutz, sehr zuverlässig. Er hat einen Waffenschein und kann mit Waffen auch umgehen. Aber er hat in meinen Diensten nie davon Gebrauch machen müssen.«

»Gab es in letzter Zeit irgendwelche Hinweise, dass Sie oder Ihre Frau beobachtet werden? Ist Ihnen irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen? Leute in der Nähe des Hauses, die Sie vorher noch nie gesehen haben? Telefonanrufe, bei denen sich niemand gemeldet hat?«

»Nein, nichts dergleichen. Auch meine Frau hat keinerlei Andeutungen in diese Richtung gemacht.«

»Sie haben auch keinen Verdacht? Oder Feinde, denen Sie eine Entführung zutrauen würden?«

»Nicht im privaten Bereich. Da gibt es vielleicht Feinde, Neider, Besserwisser, welche, die einmal von sich behaupteten, Freunde zu sein, aber doch keine waren. Aber eine Entführung? Das glaube ich nicht.«

»Und im geschäftlichen Bereich?«

»Ich bin in vielen Bereichen geschäftlich tätig. Eine Entführung ist im Geschäftsleben vielleicht in Südamerika eine Option, nicht aber in Mitteleuropa. Allerdings habe ich doch einen Verdacht, wenn auch nur einen sehr vagen. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich in den letzten Jahren die Firma Business-Soft zum Weltmarktführer für betriebswirtschaftliche Software geführt. Seit einigen Monaten expandieren wir auch verstärkt nach Osteuropa. In Ungarn gibt es allerdings ein sehr gutes Konkurrenzunternehmen. Bei weitem nicht so erfolgreich wie Business-Soft, aber sie haben ein sehr gutes und erfolgversprechendes Produkt-Portfolio. Für eine erfolgreiche Weiterentwicklung dieser Produkte benötigte das Unternehmen Cash. Die Banken gaben nicht genug, da Business-Soft bereits Weltmarktführer war und seine Fühler nach Osteuropa ausstreckte. Aber schließlich fand das Unternehmen einen zahlungskräftigen Investor. Eine Gruppe Rumänen. Ehemalige hochrangige Offiziere unter der Ägide Ceaucescus, denen es gelungen war, rechtzeitig abzutauchen und einige Millionen Dollar beiseitezuschaffen. Diese Leute haben viel Geld verloren, weil Business-Soft dabei ist, den osteuropäischen Markt zu dominieren. Und diesen Leuten würde ich auch die Entführung meiner Frau zutrauen. Aber das sind nur Spekulationen, es gibt keinerlei Hinweise.«

Das Telefon klingelte. Wie auf Kommando blickten die fünf Männer gebannt darauf. Charly reagierte als Erster. Mit einem Schritt war er bei dem Telefon und den elektrischen Geräten, die er daran angeschlossen hatte. Er drückte ein paar Knöpfe, dann nickte er Tetzloff zu. Der nahm den Hörer ab und meldete sich mit ruhiger Stimme. Jensen fing an, nervös in seinem Sessel hin und her zu rutschen. Tetzloff hob die Hand, gab Entwarnung.

»Hören Sie, Herr Dr. Schubert, ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen, Sie haben mein vollstes Vertrauen. Handeln Sie, wie Sie es für richtig halten. Nein, tut mir leid, ich muss das Gespräch beenden. Ja, ich verlasse mich auf Sie, auf Wiederhören.« Tetzloff legte den Hörer wieder auf, das Warten ging weiter.

Siebels nahm das Gespräch wieder auf. »Wenn diese rumänischen Investoren dahinterstecken, was sollten die sich davon versprechen, Ihre Frau zu entführen?«

Tetzloff zuckte mit den Schultern. »Einschüchterung. Du wilderst in fremdem Revier, also verpiss dich, sonst passieren schlimme Dinge. Das wollen sie damit vielleicht zum Ausdruck bringen. Das ist jedenfalls die einzige Erklärung, die ich habe. Vielleicht will aber auch irgendeine Drecksau mal auf die Schnelle ein oder zwei Millionen mitnehmen. Das ist doch wohl am wahrscheinlichsten, oder?«

»Im Normalfall ja. Aber für gewöhnlich lassen solche Leute nicht lange mit einer Lösegeldforderung auf sich warten. Für die zählt jede Stunde. Wenn Sie sonst keine Hinweise für uns haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten. Früher oder später werden sie sich melden.«

Erinnerungen, Juni 1975

Meine Kopfschmerzen ließen von Tag zu Tag nach. Claude schaute jeden Abend zu mir herein. Wir wechselten immer ein paar Worte, sprachen aber nie darüber, wo ich herkam, wer ich war oder was passiert war. Ich war ihm dankbar dafür, denn meine Erinnerung war nicht wieder zurückgekehrt. Tagsüber kümmerte sich die Frau von Claude um mich. Monique brachte mir morgens Frühstück. In den ersten Tagen sprach sie kein Wort mit mir. Immer wenn ich ein Gespräch anfangen wollte, legte sie einen Finger auf die Lippen. Nicht sprechen. Aber sie behandelte mich gut, wechselte regelmäßig meinen Kopfverband, wusch mich und brachte mir frischen Saft. Eine Woche lang ging das so, dann fühlte ich mich stark genug, um das Bett zu verlassen. Meine ersten Schritte in dem kleinen Zimmer waren noch sehr wackelig, die Kopfschmerzen kamen plötzlich mit Wucht zurück. Doch so schnell, wie sie kamen, verzogen sie sich auch wieder. Ich ging zum Fenster, öffnete es, sog die frische Landluft ein und wähnte mich wieder unter den Lebenden. Wenn da nicht die fehlende Erinnerung gewesen wäre. Die blutigen Bilder beherrschten plötzlich wieder meinen Kopf. Mir wurde schlecht, ich musste kotzen. Monique kam ins Zimmer, brachte mich wieder ins Bett und holte einen Eimer Wasser und einen Schrubber. Beschämt entschuldigte ich mich für die Sauerei, die ich angerichtet hatte. Ich solle mir keine Gedanken machen, ich wäre auf dem Weg der Besserung, bekam ich zur Antwort. Es war das erste Mal, dass sie mit mir sprach. Erschöpft schlief ich wieder ein. Am Abend ging es mir dann deutlich besser. Ich fühlte mich wie ein Neugeborener, der in diesem Zimmer das Licht der Welt erblickt hatte. Nur war ich kein Neugeborener, sondern ein Wiedergeborener. Einer, der bereits ein Leben hinter sich hatte. In dieses Leben konnte ich nicht mehr zurück, das war mir schlagartig klar geworden. Ich hatte keine Erinnerung mehr an dieses Leben. Alles, was mir blieb, waren diese furchtbaren Bilder, die mich ständig heimsuchten. Mein neues Leben begann auf einem Bauernhof. Auch mein altes Leben hatte auf einem Bauernhof begonnen. Auf einem französischen Bauernhof. Mein neues Leben sollte also auf einem belgischen Bauernhof beginnen. Claude und Monique waren meine neuen Eltern, sie schenkten mir mein zweites Leben. Ein zweites Leben, belastet mit blutigen Bildern aus einem anderen Leben.

Die verlorene Vergangenheit

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