Читать книгу Die verlorene Vergangenheit - Stefan Bouxsein - Страница 13
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ОглавлениеMontag, 01. Dezember 2003, 14:05 Uhr
Das schmiedeeiserne Tor zur Villa Tetzloff öffnete sich automatisch, Siebels lenkte den BMW wieder über das gepflegte Grundstück und parkte auf dem Kiesweg vor dem Haupteingang. Bogner erwartete sie bereits und Siebels fragte sich, welche Aufgaben Bogner noch alle erfüllte, außer dem Chauffieren seines Chefs.
»Herr Tetzloff erwartet Sie in der Bibliothek.«
Sie folgten dem hageren Mann, er musste schon an die sechzig sein, sein Auftreten ließ eine unabdingbare Loyalität zu seinem Arbeitgeber erahnen. Ständig hielt er sich im Hintergrund auf, er schien immer auf dem Laufenden zu sein, erlaubte sich aber keinerlei Reaktionen, wenn Tetzloff sich mit den Beamten unterhielt. Die Engel am Brunnen spuckten ihr Wasser in einer gleichmäßigen Fontäne aus, Till kam es so vor, als spuckten sie heute in einem größeren Bogen. Bogner führte die beiden wieder hoch in die obere Etage, dort nahm er den rechten Flur, sie folgten ihm schweigend bis zum Ende des Ganges. Er öffnete die Tür, sie betraten dunkelbraunes, gewienertes Parkett, hohe Bücherregale schmückten die Wände, vor dem Fenster stand eine kleine Sitzgruppe. Tetzloff saß in einem der Ledersessel, in der Mitte ein kleiner runder Tisch, darauf ein Karton.
»Vielen Dank, dass Sie es einrichten konnten. Nehmen Sie doch Platz.«
Bogner verließ schweigend die Runde. Siebels warf einen Blick in den Karton. Rotes Papier, beschrieben mit schwarzer Tinte.
»Das sind die Briefe, von denen ich Ihnen am Telefon erzählt habe. Nachdem Sie gestern gegangen waren, habe ich viel an Simone gedacht. Ich versuchte mir vorzustellen, wo sie ist, wie es ihr ergeht. Ich stellte sie mir vor, gefangen in einer kleinen Waldhütte, gefesselt und geknebelt. Dann kam mir ein dunkler, feuchter Kellerraum in den Sinn, eine Matratze, auf der Simone liegt und weint. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich von anderen Entführungen schon gehört oder gelesen hatte. Ich dachte an ein Erdloch, nur notdürftig mit Brettern unterstützt, kalt und unbequem. Ich fragte mich, ob sie geschlagen wird, ob sie Nahrung bekommt, ob sie unter Drogeneinfluss steht. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sinnloser kam es mir vor, einfach nur zu warten. Nichts tun zu können, das machte mich fast wahnsinnig. Ich bin im ganzen Haus herumgelaufen, habe mich an den Plätzen aufgehalten, an denen sich Simone am liebsten aufgehalten hat. Im Untergeschoss, da haben wir einen Pool und eine Sauna, dahin hat sie sich oft zurückgezogen. Oder in ihrer kleinen Leseecke oder draußen, auf der Terrasse, da sitzt sie im Sommer gerne. Dann bin ich an ihren Kleiderschrank gegangen, ich wollte einfach ihre Kleider berühren, daran riechen, mich mit ihr verbinden, wenn Sie das verstehen. Da fand ich dann diesen Karton, erst ist er mir gar nicht aufgefallen, ich dachte, es wären Schuhe drin. Aber dann habe ich doch einen Blick reingeworfen und fand diese Briefe hier. Sie sind alle von derselben Person verfasst. Ich habe sie alle gelesen. Der, der sie geschrieben hat, muss verrückt sein.«
»Gab es sonst keine Post? Von Bewunderern? Oder von Mädchen, die von einer Karriere als Model geträumt haben?«
»Doch, natürlich. Das hat aber aufgehört, nachdem Simone und ich geheiratet hatten. Sie bekam Unmengen von Briefen und kleinen Geschenken. Die meisten Briefe hat sie gar nicht gelesen. Die wurden von vornherein von der Agentur aussortiert. Sie wurde von einer Agentur betreut. Die haben ihre Termine gemacht und die Verträge ausgehandelt. Von den Briefen, die sie doch persönlich bekam, hat sie die schönsten behalten und den Rest weggeschmissen. Als sie hier bei mir eingezogen ist, hat sie aber auch die gesammelte Fanpost entsorgt. Das hatte sie mir jedenfalls erzählt. Nur die hier, die hat sie mir verschwiegen und behalten. Ich frage mich bloß, warum.«
Tetzloff griff in den Karton, zog ein rotes Blatt Papier heraus und gab es Siebels, der von den Zeilen förmlich angesogen wurde.
Hallo Simone,
ich bewundere gerade die Fotos, die letzten Monat in Venedig von dir gemacht wurden. Du wirst immer besser. Ich bin erstaunt, dass du dich ständig weiterentwickelst, obwohl du in meinen Augen schon perfekt warst.
Es ist nur zu schade, dass alle Welt bloß von deiner Schönheit, deiner Eleganz und deiner Grazie spricht. Dabei ist es doch offensichtlich, dass du viel mehr verkörperst. Ich habe es dir ja schon oft geschrieben. Du bist nicht nur eine mit makelloser Schönheit ausgestattete Frau, nein, du bist der Inbegriff des Weibes. Ein Weib, wie es nur die Natur schaffen konnte. Ein Weib, das in solch einer perfekten Form so selten ist wie ein faustgroßer Diamant auf dem Grund des Rheins. Du bist ein wahrhaftiges Weib, die Tochter der Sünde und der Lüsternheit. Ich betrachte deine Fotos und sehe deinen makellosen weiblichen Körper. Wenn der Mensch die Krönung der Schöpfung ist, bist du die Krönung alles Menschseins. Und ich sehe die tiefen Abgründe deiner Seele, die animalischen Triebe, die tief in dir lodern. Ich sehe die Gazelle, die gefangen werden will. Aber keiner fängt sie, zu elegant schlägt sie ihre Haken. Ich sehe die wilde Löwin, die gezähmt werden will. Doch keiner zähmt sie, zu majestätisch steht sie im Rampenlicht. Ich sehe die Schlange, die ihr Gift verspritzen will. Doch keiner kommt in ihre Nähe, für den es sich lohnen würde. Ich sehe die Stute, die zugeritten werden will. Doch keiner legt die Zügel stramm genug an. Ich sehe die läufige Hündin, die von ihrem Herren erzogen werden will. Doch alle sehen nur das Schoßhündchen und wollen es streicheln. So bleibst du ein einsames Weib, umgeben von Speichelleckern und Tunten. Anstatt der Männer, die du begehrst, findest du nur kriechendes Gewürm um dich herum. Du bist Gefangene in einer Welt, in die du nicht gehörst. Deine Schönheit wird von Blinden bewundert. Sie verneigen sich vor dir und ahnen nicht, dass du es bist, die sich verneigen sollte. Mit Geld und Ruhm wollen sie dich erobern und sie ahnen nicht, dass sie sich immer weiter von dir entfernen.
Doch eines Tages werden alle deine Wünsche in Erfüllung gehen. Deine geheimen Sehnsüchte werden sich in wahres Erleben verwandeln. Dann erst wirst du spüren, was es heißt, ein wahres Weib zu sein. Du wirst dich entwickeln, von der Tochter der Lüsternheit zur Mutter der triebhaften Gier. Du wirst deinen Verstand verlieren und eine unauslöschliche Begierde gewinnen. Du bist die schönste Frau der Welt und doch nur eine Raupe. Eine gefangene Königin, gefesselt mit den schweren Ketten unbefriedigter Lust. Aber eines Tages wirst du dich in einen Schmetterling verwandeln, dann wirst du als Sklavin in den Ketten der zügellosen Unterwerfung liegen und endlich frei sein.
Ich freue mich auf deine Verwandlung. Graf F.
Siebels reichte den Brief an Till weiter und schaute zu Tetzloff.
»Haben Sie eine Vorstellung, warum Ihre Frau ausgerechnet diese Briefe aufbewahrt hat?«
Tetzloff stierte auf seine Schuhspitzen, er suchte nach den richtigen Worten. Till hatte den Brief gelesen und legte das rote Papier zurück in den Karton.
»Simone ist eine weltgewandte und offene Frau. Sie ist sehr experimentierfreudig, auch im Intimleben. Sie wissen ja, dass sie einige Affären mit mehr oder weniger zwielichtigen Gestalten hatte, bevor sie mich kennen lernte. Sie war immer auf der Suche nach extravaganten Männern. So genannte Weicheier oder Frauenversteher waren nicht ihr Fall. Der Verfasser dieser Briefe ist meiner Meinung nach ganz klar ein Verfechter von männlicher Dominanz und weiblicher Demut. Ich vermute ganz einfach, dass Simone auf diesem Gebiet keine Erfahrungen hatte, aber mehr darüber wissen wollte. Wie gesagt, sie hatte eine Schwäche für so genannte starke Männer.«
»Und jetzt vermuten Sie, dass dieser Graf F. hinter der Entführung Ihrer Frau stecken könnte? Haben Sie die Briefe alle gelesen? Hat er in einem der Briefe ein Treffen mit Ihrer Frau vorgeschlagen?«
»Nein, ich habe nur bruchstückhaft darin gelesen. Ein Treffen hat er in keinem der Briefe ausdrücklich erwähnt, soweit ich das bisher überflogen habe. Aber er hat oft Andeutungen gemacht, dass er Simone eines Tages treffen wird. Natürlich halte ich es für möglich, dass er hinter dieser Geschichte steckt. Vielleicht war er in den letzten Jahren mit den öffentlichen Auftritten und Fotos von Simone zufrieden gewesen. Und jetzt, wo Simone in den Medien keine Rolle mehr spielt, fehlt ihm der Nachschub an frischen Informationen und Bildern, um seine Fantasie am Leben zu erhalten. Da hat er sich das Objekt seiner Begierde in natura gegriffen. Halten Sie das für ausgeschlossen?«
»Nein, das ist mit Sicherheit eine Spur, die wir verfolgen müssen. Nehmen wir einmal an, es wäre so. Was denken Sie, wie Ihre Frau darauf reagiert, wenn dieser Brieffreund plötzlich auf diese Weise in ihr Leben tritt?«
»Ich möchte mir das eigentlich nicht in allen Einzelheiten vorstellen. Das würde doch bedeuten, dass er meine Frau sexuell missbraucht. Wahrscheinlich mit Gewalt. Oh Gott, bei dem Gedanken wird mir schlecht.«
Es blieb still zwischen den Männern. Weder Siebels noch Till hatten irgendwelche Zweifel, dass die Vermutungen von Tetzloff genau ins Schwarze treffen könnten. Siebels zündete sich eine Zigarette an, er verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend, weil der Fall jetzt sehr in das Intimleben des Ehepaares Tetzloff einzugreifen drohte.
»Ich muss das jetzt fragen, Herr Tetzloff. Könnte es sein, dass Ihre Frau an einem Verhältnis zu diesem Graf F. Gefallen finden könnte?«
Auch Tetzloff zündete sich eine Zigarette an, bevor er antwortete.
»Nein. Ganz sicher nein. Meine Frau würde vielleicht an einem Rollenspiel Gefallen finden, bei dem sie die Rolle einer unterwürfigen Frau spielt. Aber dann mit mir und nicht mit einem fremden Mann, der solche Briefe schreibt. Wenn Sie glauben, dass Simone freiwillig verschwunden ist, um sich von einem selbst ernannten Grafen peinigen zu lassen, dann vergessen Sie das bitte ganz schnell wieder. Das ist absurd. Aber vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich auf keinen Fall will, dass die Presse von dieser Entführung etwas mitbekommt. Unser Ruf wäre von heute auf morgen ruiniert. Ich denke, ich kann mich auf Ihre Verschwiegenheit in dieser Angelegenheit verlassen.«
Prüfend blickte er erst zu Siebels, dann zu Till. Siebels glaubte, einen Funken Angst in seinen Augen erkannt zu haben. Angst vor der Presse oder Angst davor, dass seine Frau sich vielleicht doch mit diesem Graf F. vergnügt.
»Wir haben auch kein Interesse daran, diesen Fall publik zu machen. Das würde unsere Arbeit nur erschweren. Gibt es in den anderen Briefen irgendeinen Hinweis auf die Identität des Absenders? Oder darauf, dass Ihre Frau auf seine Briefe geantwortet hat?«
»Nein, aber ich habe auch nicht alle Briefe gelesen. Die meisten habe ich nur überflogen, einige habe ich noch gar nicht gelesen. Es sind mindestens fünfzig Briefe.«
»Die würden wir dann gerne mitnehmen und uns im Präsidium näher damit beschäftigen. Vielleicht finden wir ja einen Hinweis auf den Absender.«
»Aber denken Sie daran, dass diese Briefe streng vertraulich sind. Das gilt auch für Ihre Kollegen auf dem Präsidium.« Tetzloff sprach langsam und sehr betont, es klang fast wie eine Drohung. Bevor Siebels darauf eingehen konnte, nahm Till den Karton mit den Briefen vom Tisch.
»Wir werden darauf aufpassen, als würde unser Leben davon abhängen.«
»Das will ich hoffen. Ich bin auf Sie beide angewiesen und ich vertraue Ihnen. Aber wenn Sie mein Vertrauen missbrauchen, werde ich alles tun, um Ihnen Ihr Leben zur Hölle zu machen. Also passen Sie auch wirklich gut darauf auf.«
Siebels drückte seine Zigarette im Ascher aus. »Wir werden uns noch heute intensiv damit beschäftigen, spätestens morgen haben Sie die Briefe wieder zurück. Haben Sie denn noch Informationen über Ihre rumänischen Freunde auftreiben können?«
»Ich habe einen Mitarbeiter damit beauftragt. Bis morgen Mittag haben Sie einen ausführlichen Bericht mit allen verfügbaren Informationen über diese Bande auf Ihrem Schreibtisch. Ich hoffe, Sie werden dann das Nötige veranlassen.«
»Jetzt kümmern wir uns erst mal um die Briefe und wenn uns Ihre Informationen vorliegen, werden wir sehen, wie wir weitermachen. Bevor sich der Entführer nicht wieder mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat, sollten wir nicht vorschnell in eine Richtung ermitteln. Er will Geld und er muss sich Gedanken machen, wie die Geldübergabe stattfinden soll. Auf diesen Punkt müssen wir uns dann konzentrieren.«
»Ich will meine Frau lebend zurück. Und ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt im Sinne des Entführers ist. Abwarten ist keine gute Taktik, ich will Ergebnisse. Ich will diesen Mistkerl haben, so schnell wie möglich. Ist das klar?«
»Wir tun, was wir können. Und vergessen Sie nicht, ein Lebenszeichen von Ihrer Frau einzufordern, wenn er sich wieder meldet.«
»Ich werde daran denken«, antwortete Tetzloff. Er reichte den Beamten die Hand und beendete damit das Gespräch. Wie von Geisterhand gerufen, erschien Bogner in der Bibliothek, um die Beamten zum Ausgang zu begleiten. Tetzloff blieb sitzen. Als Siebels über die Türschwelle der Bibliothek schritt, drehte er sich noch einmal um.
»Ach, Herr Tetzloff, da fällt mir noch etwas ein. Heute Vormittag waren wir im Main-Taunus-Zentrum in einem kleinen Geschäft für Dessous. Der Laden gehört einer Freundin Ihrer Frau, wie sich herausstellte. Hatte Ihre Frau eigentlich so etwas wie eine beste Freundin?«
»Sie meinen eine Freundin, der sie Sachen anvertrauen würde, die sie mir nicht erzählen würde? Wollen Sie hören, dass es Simone mit mir zu langweilig war und sie die Nähe eines herrschaftlichen Grafen gesucht hat?«
»Wir sind nur auf der Suche nach Fakten, die uns helfen, Ihre Frau aufzuspüren. Alles andere interessiert uns wirklich nicht, Herr Tetzloff.«
»Entschuldigen Sie bitte. Ich bin etwas gereizt. Diese Briefe haben die Sorgen, die ich mir mache, nicht gerade geschmälert. Wenn Simone so etwas wie eine beste Freundin hat, dann ist es Nadja. Nadja Asmussen, ihr gehört die Agentur, die sich um die Aufträge von Simone gekümmert hat. Die Agentur ist in Frankfurt, in Sachsenhausen. Ich schreibe Ihnen die Adresse und die Telefonnummer auf.«
Bogner wartete geduldig und unscheinbar, bis Tetzloff den Zettel geschrieben hatte und führte die beiden dann zum Ausgang der Villa.
Till saß auf dem Beifahrersitz, er hatte den Karton auf dem Schoß und schmökerte in den Briefen. Der Inhalt der Briefe erinnerte ihn an den letzten großen Fall im vergangenen Sommer. Ein Tagebuch hatte Siebels und ihn damals auf die Spur eines zweifachen Frauenmörders geführt. Die auf rotem Briefpapier geschriebenen Briefe erinnerten ihn an dieses Tagebuch. Während der Briefeschreiber aber die absolute männliche Dominanz verherrlichte, war der Tagebuchschreiber der absoluten Dominanz von Frauen verfallen. Dabei fiel ihm auch sein Streit mit Johanna wieder ein. Johanna spielte damals eine wichtige Rolle und wäre fast das dritte Opfer geworden. Wenn sich der Täter nicht vorher in sie verliebt hätte. Jetzt fühlte sie sich schuldig und besuchte diesen Kerl ständig im Gefängnis. Till hatte keine Ahnung, wie er die Beziehung mit Johanna noch retten konnte. Er wusste nur, dass ihm das alles gewaltig gegen den Strich ging. Siebels riss ihn aus seinen Gedanken.
»Gefallen dir die Briefe vom Grafen?«
»Die sind echt spannend. Erinnern mich an die Tagebuchaufzeichnungen vom Robert Kiesbach. Nur mit vertauschten Rollen, der hier will nicht gezüchtigt werden, der will selber züchtigen. Das Leben wäre doch viel einfacher, wenn es nicht so viele Verrückte gäbe.«
»Würdest du lieber Wohnungseinbrüche aufklären? Oder den Fall mit dem Obdachlosen, der im Park erschlagen wurde?«
»Nee, dann lieber die Sexbesessenen. Die sind spannender.«
»Na also. Ich schmeiße dich am Präsidium raus, du kannst dich den ganzen restlichen Tag mit diesen Briefen beschäftigen. Am besten machst du Kopien. Aber lass bloß nix auf dem Schreibtisch rumliegen. Der Tetzloff flippt aus, wenn da was durchsickert. Versuche herauszufinden, ob Simone Tetzloff sich mit dem Kerl getroffen hat. Oder ob es im Gespräch war. Und wenn du jeden Brief hundertmal liest, irgendeinen Anhaltspunkt über diesen Grafen müssen wir finden.«
»Ich werde mir Mühe geben, den Grafen zu überführen. Was machst du in der Zwischenzeit?«
»Diese Nadja Asmussen in der Agentur besuchen. Vielleicht hat Simone Tetzloff ja tatsächlich von diesem Grafen geschwärmt und es ihrer besten Freundin anvertraut. Laut Tetzloff wurde ja alle Fanpost von der Agentur vorab geprüft. Und die Grafenpost hat es immer bis zur Tetzloff geschafft.«
Die beiden grinsten sich vielsagend an. Am Präsidium stieg Till aus, spätestens um 18:00 Uhr wollte Siebels wieder im Büro sein, Till sollte so lange auf ihn warten.
Die Agentur für Mode und Models hatte ihren Sitz in der Nähe vom Henninger Turm. Nadja Asmussen war die Inhaberin. Das Ambiente erinnerte Siebels an ein Reisebüro, anstatt der Prospekte und Kataloge von den Stränden dieser Welt hingen allerdings die Gesichter von Frauen an den Wänden, mit denen es die Natur gut gemeint hatte. Nadja Asmussen saß hinter einem Schreibtisch und telefonierte. Sie hatte lange schwarze Haare, Siebels schätzte sie auf Anfang bis Mitte vierzig. Er setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und wartete, bis sie ihr Telefonat beendet hatte. Die Gesichtszüge der Frau ließen erahnen, dass auch sie in früheren Jahren eine Schönheit gewesen sein musste. Aber die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. In ihrem Gesicht konnte er nicht nur die Spuren der Zeit, sondern auch die Spuren von viel Arbeit, Stress und wenig Schlaf erkennen. Hätte die Frau im Supermarkt an der Kasse oder im Präsidium als Kommissarin gearbeitet, wäre ihm das gar nicht aufgefallen. Aber hier, wo sie von den Gesichtern zahlreicher junger Frauen umgeben war, war der Kontrast deutlich zu spüren. Anscheinend verhandelte sie gerade über die Gage eines ihrer Models. Ihr Tonfall klang bestimmend und resolut. Sie war zweifelsohne eine Geschäftsfrau, die sich durchgesetzt hatte und ihren Kampf im Geschäft des Glanz und Glamour täglich aufs Neue kämpfte. Endlich legte sie den Hörer auf und widmete sich ihrem Besucher.
»Sie sind bestimmt der Herr Siebels von der Polizei«, sagte sie ihm auf die Nasenspitze zu und zündete sich eine Zigarette an.
»Herr Tetzloff hat Sie bereits informiert?«
»Ja, vor zehn Minuten hat er bei mir angerufen. Das ist ja eine schreckliche Geschichte. Die arme Simone.«
»Was genau hat Herr Tetzloff Ihnen erzählt?«
»Nicht viel. Vor allen Dingen hat er mir mehr oder weniger gedroht. Außer mit Ihnen dürfte ich mit niemandem über die Sache reden. Nicht ein Sterbenswörtchen. Ansonsten würde ich das Leben von Simone auf das Spiel setzen und das würde er mir niemals verzeihen. Darüber hinaus sagte er nur, dass sie entführt wurde und dass Sie mit mir über Simone reden wollen. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Herr Tetzloff sagte, Sie wären die beste Freundin seiner Frau. Stimmt das?«
»Ich denke schon, ja. Wir kennen uns seit über zehn Jahren. Ich habe Simone damals entdeckt. Und über das Geschäftliche hinaus haben wir uns auch privat sehr gut verstanden und im Laufe der Zeit sind wir richtige Freundinnen geworden.«
»Ihre Freundin war eines der höchst bezahlten Models der Welt. Ich vermute, Sie haben viel Geld mit ihr verdient. Waren da die geschäftlichen Interessen einer Freundschaft nicht hinderlich?«
»Rein theoretisch gesehen würde ich Ihnen da recht geben. Das ist ein hartes Geschäft und für Freundschaften bleibt nicht viel Raum. Aber Simone und ich schwammen einfach auf der gleichen Wellenlänge. Und dem Erfolg hat unsere Freundschaft nicht im Weg gestanden, eher im Gegenteil. Ich konnte mich hundertprozentig auf Simone verlassen und sie sich auf mich. Vielleicht war unsere Freundschaft sogar der Grund für ihren Erfolg. Am Anfang ihrer Karriere hätte ich im Traum nicht daran gedacht, dass sie es einmal so weit bringen würde.«
»Soviel ich weiß, ist die Post von Frau Tetzloff über ihren Tisch gelaufen.«
»Das stimmt nicht ganz. Als sie ganz oben auf der Karriereleiter angekommen war, mussten wir sie vor Journalisten und Verehrern schützen. Sie bekam eine geheime Telefonnummer und eine neue Wohnung, in der sie unter einem anderen Namen wohnte, wenn sie in der Stadt war. Die meiste Zeit war sie ja unterwegs und wohnte in Hotels. Wenn Journalisten einen Termin für ein Interview haben wollten, mussten sie ihre Anfragen über die Agentur laufen lassen. Und die vielen Verehrer, die sie auf der ganzen Welt hatte, konnten auch nur über die Agentur mit ihr in Kontakt treten. Aber es blieb ihr natürlich freigestellt, ihren Freunden und Bekannten ihre Adresse und den dazugehörigen Namen zu verraten. Private Post konnte sie also durchaus ohne die Agentur empfangen, wenn sie es wollte.«
»Mich interessiert in erster Linie die Post, die sie von hartnäckigen Verehrern bekommen hat. Solche, die ihr regelmäßig über einen langen Zeitraum geschrieben haben. Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
Nadja Asmussen inhalierte den Rauch der Zigarette tief in ihre Lunge ein und pustete ihn dann geräuschvoll aus. So, als wollte sie damit zum Ausdruck bringen, dass sie etwas zu sagen hätte, was nicht einfach auszudrücken war. »Es gab vielleicht drei oder vier Männer, die ihr recht häufig geschrieben haben. Die Briefe und Päckchen sind natürlich über meinen Tisch gelaufen.«
»Rote Briefe, geschrieben mit schwarzer Tinte, unterzeichnet von einem Graf F. Kennen Sie diese Briefe?«
»Ja, ich habe sie natürlich nicht gelesen. Aber Simone hat mir davon erzählt. Die Briefe vom Grafen musste ich ihr immer persönlich aushändigen. Die anderen habe ich meistens gesammelt und in einem großen Umschlag an ihre Adresse geschickt.«
»Was wissen Sie über diesen Grafen?«
»Verdächtigen Sie ihn, Simone entführt zu haben?«
»Es ist eine Spur, die wir verfolgen müssen. Frau Tetzloff hat seine Briefe gesammelt und es waren die einzigen Briefe, die sie nach der Hochzeit nicht vernichtet hat. Der Graf scheint es ihr angetan zu haben.«
»Ja, das stimmt schon«, seufzte Nadja Asmussen. »Simone hat mir einige dieser Briefe gezeigt. Sie war von ihm fasziniert. Er hat so eine Art Spiel mit Simone gespielt und Simone fand Gefallen an diesem Spiel. Er machte immer Andeutungen in sexueller Hinsicht, kam aber nie auf den Punkt. Er war der Graf und Simone das reiche arme Mädchen. Simone, die begehrteste Frau im Land und doch einsam und allein. Die Welt lag ihr zu Füßen, aber sie sehnte sich nach einem starken Mann, der ihr Verlangen und ihre Sehnsucht nach männlicher Führung stillte. Dieser Mann war natürlich der Graf. Eines Tages würde sie ihn treffen und dann könnte sie endlich ihr wahres Leben leben. Simone würde sich ihm hingeben und unter der Führung des Grafen endlich ihre geheime Leidenschaft ausleben können. Als seine Sexsklavin. Simone fand das spannend und sehr erotisch. Sie hätte zu gerne gewusst, wer wirklich dahintersteckt. Wir haben vor einigen Monaten bei mir zuhause bei einer Flasche Rotwein zusammengesessen und uns ausgemalt, wie der Graf aussehen könnte.«
»Und? Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
Frau Asmussen lachte. »Wir haben uns an Schauspielern orientiert. Am Anfang dachten wir an so Typen wie Charles Bronson, Bruce Willies oder Kevin Kostner. Unter dieser Voraussetzung hätte sogar ich gerne mal den Grafen persönlich kennen gelernt. Aber je länger wir darüber nachgedacht hatten, desto mehr kamen wir zu dem Entschluss, dass der Graf ein Blender sein dürfte.«
»An was für Schauspieler haben Sie da gedacht?«
»An alle möglichen Komiker. An Jerry Lewis, Karl Dall, Michael J. Fox oder Pierre Richard. Das ist der Franzose, der Blonde mit dem schwarzen Schuh. Kennen Sie den?«
»Klar, den Film habe ich bestimmt fünf Mal gesehen.«
»Dann lesen Sie die Briefe vom Grafen und denken dabei an Pierre Richard, wie er diesen Volltrottel spielt. Als wir das taten, war die erotische Atmosphäre aus seinen Briefen wie weggeblasen. Wir haben uns kaputtgelacht, als wir uns das vorstellten.«
»Das kann ich mir denken. Könnten Sie sich trotzdem vorstellen, dass hinter dem Grafen ein Mann steckt, der meint, was er schreibt? Könnten Sie sich vorstellen, dass er auf Frauen so wirkt, wie er sich beschreibt? Dass er seine Fantasien auslebt?«
Frau Asmussen zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Daher ja auch der Vergleich mit den Schauspielern. Es ist einfach alles möglich. Aber er hat immer nur geschrieben. Er hat nie versucht, Simone einmal anzurufen oder ihr bei einem ihrer Auftritte persönlich vor die Augen zu treten. Daher denke ich eher, dass er ein Spinner ist.«
»Gab es überhaupt keine Versuche von ihm, mit Frau Tetzloff persönlich in Kontakt zu treten?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Jedenfalls hat Simone nie etwas in dieser Richtung erwähnt.«
»Wenn er es getan hätte, hätte sie Interesse an einem persönlichen Treffen gehabt?«
»Das ist eine schwierige Frage. Wie gesagt, von seiner Schreiberei war sie fasziniert. Aber Simone war nicht dumm. Wenn sie sich mit ihm getroffen hätte, hätte sie vorher mit ihm telefoniert und sich auch ein Foto schicken lassen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir davon erzählt hätte. Und dann hätte die ganze Sache ja wahrscheinlich ganz anders ausgesehen. Simone war sehr wählerisch mit ihren Männerbekanntschaften. Nur von einem geheimnisvollen Schreibstil hätte sie sich nicht überzeugen lassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Graf ein ganz harmloser Spinner ist und zwischen ihm und Simone nie ein persönlicher Kontakt zustande gekommen ist.«
»Vielleicht haben Sie ja recht. Vielleicht ist er ein Spinner, ein unattraktiver Zeitgenosse, der im wirklichen Leben bei Frauen überhaupt nicht ankommt. Aber Simone Tetzloff wurde mit Gewalt entführt und der Entführer scheint es nicht eilig zu haben, ein Lösegeld einzufordern. An der Entführung ist irgendetwas faul und dieser Graf passt da ganz gut ins Bild. Hat er keine Anhaltspunkte über seine wahre Identität gemacht? Eine Telefonnummer? Eine Angabe über sein Alter? Aus welcher Gegend er kommt? Kamen seine Briefe immer ohne Absender? Wo sind die Briefumschläge geblieben? Wo wurden sie abgestempelt? Sie müssen doch irgendwelche Anhaltspunkte haben.«
»Lassen Sie mich nachdenken. Auf den Umschlägen stand immer nur Graf F. Abgestempelt waren die meisten Briefe in Köln. Manche auch in Bonn. Das ist aber auch alles, was ich dazu sagen kann. Tut mir leid.«
»Wie ist denn das Verhältnis zwischen Simone Tetzloff und ihrem Mann? Sind sie wirklich das Traumpaar, als das sie in den Medien bei ihrer Hochzeit hochgejubelt wurden?«
»Am Anfang auf jeden Fall, ja. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sebastian hat viel Zeit mit Simone verbracht. Sie sind zusammen verreist, nach Südamerika, nach Kanada, und an den Wochenenden sind sie nach London oder Paris geflogen. Simone war überglücklich. Sie hatte den Absprung geschafft. Für viele Models kommt das Karriereende schleichend und sie sind nicht auf das Leben danach vorbereitet. Simone hat aufgehört, als sie noch ein absoluter Superstar war. Aber spätestens in zwei Jahren wäre ihr Stern langsam, aber sicher gesunken. Als Frau von Sebastian Tetzloff stehen ihr jetzt langfristig alle Türen der Gesellschaft offen.«
»Sie sagten: am Anfang. Wie steht es denn jetzt um die beiden? Die Hochzeit ist doch noch gar nicht so lange her.«
»Sie verstehen sich immer noch gut. Aber Sebastian verbringt bei Weitem nicht mehr so viel Zeit mit ihr. Er kümmert sich wieder mehr um seine Geschäfte. Schließlich ist er ein erfolgreicher Unternehmer und führt mehrere Firmen. Ein Arbeitstag hat bei ihm oft fünfzehn Stunden und mehr. Simone ist an ein ähnliches Arbeitspensum gewöhnt. In den letzten Wochen ist sie immer mehr zur Hausfrau mutiert. Das füllt sie natürlich nicht aus.«
»Könnte das ein Grund für sie gewesen sein, sich den Grafen doch einmal aus der Nähe anzusehen?«
»Nein, das glaube ich nicht. Sie hat nach einer sinnvollen Beschäftigung gesucht, hat sich Gedanken über Kinder gemacht. Eine Affäre als Sklavin des Grafen ist ihr mit Sicherheit nicht in den Sinn gekommen, nur weil sie Langeweile hatte. Dafür war Simone nicht der Typ. Wenn, dann hätte sie ihn aus Neugier getroffen, nicht aus Langeweile.«
»Wie ist denn Sebastian Tetzloff so als Mann? Verkörpert er den starken Mann, auf den Ihre Freundin immer fixiert war?«
»Sebastian ist ein starker Mann, sonst wäre er nicht so erfolgreich im Beruf. Er kann sehr charmant und höflich sein, aber er ist auch durchsetzungsfähig und lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen. Außerdem sieht er sehr gut aus und ist reich. Genau der Typ Mann, der zu Simone passt.«
»Dass sie weggelaufen ist, halten Sie also für ausgeschlossen?«
»Das können Sie völlig ausschließen. Es gab überhaupt keine Anzeichen, dass Simone unglücklich mit ihm gewesen sein könnte. Das hätte sie mir erzählt. Im Gegenteil, das Einzige, was sie störte, war, dass er nicht mehr so viel Zeit mit ihr verbrachte.«
»Wann haben Sie Simone Tetzloff zuletzt gesehen?«
»Das war vor zwei Wochen. Sie kam mittags in die Agentur und hat mich zum Essen eingeladen. Wir sind dann für zwei Stunden in die Stadt zu einem mexikanischen Restaurant gefahren.«
»Hat sie irgendwelche Bemerkungen oder Andeutungen gemacht, dass sie sich verfolgt fühlte? Oder kam Ihnen sonst irgendetwas merkwürdig an ihr vor?«
Aufeinandergepresste Lippen und ein zaghaftes Kopfschütteln gingen der Antwort von Nadja Asmussen voraus. »Nein, überhaupt nicht. Wir haben viel über alte Zeiten gequatscht und uns Gedanken gemacht, was Simone mit ihrer überschüssigen Zeit anstellen könnte. Wir haben darüber gesprochen, ob sie mit in die Agentur einsteigen sollte. Aber sie wollte lieber etwas Neues machen, die Modewelt hinter sich lassen.«
»Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie denn hier?«
»Fest angestellt sind noch vier Mitarbeiter. Ein Fotograf, eine Sekretärin, ein Außendienstmitarbeiter und Helmut. Helmut ist so eine Art Mädchen für alles. Hin und wieder beschäftige ich auch Praktikantinnen, zurzeit habe ich aber keine.«
»Fürs Erste habe ich keine Fragen mehr. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an. Hier ist meine Karte. Und behalten Sie die Geschichte für sich. Ich habe noch keine Ahnung, was genau hinter der ganzen Sache steckt und das Leben von Ihrer Freundin könnte wirklich in Gefahr sein, wenn ihr Verschwinden publik wird.«
»Keine Sorge. Sebastian hat sich schon sehr deutlich ausgedrückt. Sie ist aber doch noch am Leben? Ihr geht es doch gut?«
»Davon müssen wir einfach ausgehen. Vielen Dank für Ihre Kooperation. Ich muss mich jetzt verabschieden.«