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Samstag, 29. November 2003, 17:20 Uhr

Es war ein nasskalter, trüber Nachmittag, die ersten weihnachtlichen Melodien hielten bereits überall Einzug. Im Supermarkt herrschte ein heilloses Gedränge zu den festlichen Klängen von Oh du fröhliche Weihnachtszeit, die dezent leise aus den unsichtbaren Lautsprechern ertönten. Siebels schob missmutig seinen Einkaufswagen durch die Gänge. Er hatte keine Lust, bei dem Trubel einzukaufen. Er versuchte sich zu erinnern, warum er überhaupt hier war. Er ärgerte sich, weil er wie immer ohne Einkaufsliste zu der denkbar ungünstigsten Zeit zwischen all den einkaufswütigen Menschen völlig planlos die Regale inspizierte. Mittlerweile hatte er wenigstens ein paar Kleinigkeiten in seinem Wagen, aber irgendetwas hatte ihn heute dazu angetrieben in den Supermarkt zu fahren und dieses irgendetwas fehlte definitiv in seinem Einkaufswagen. Sein Blick wanderte durch die Regale. Wenn er es nur sehen würde, dann wüsste er auch wieder, was ihn dazu veranlasst hatte, seinen kostbaren Samstagmittag in dieser unseligen weihnachtlichen Supermarkt-Hektik zu verbringen. Da sich beim Absuchen der Regale einfach kein Aha-Erlebnis einstellen wollte, änderte er seine Taktik. In Gedanken ging er den Inhalt seines Kühlschrankes durch, doch da war alles an seinem Platz. Er öffnete im Geist alle Schränke und Schubladen in der Küche. Mehl, Zucker, Kaffee, all das war noch vorrätig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich beeilen musste, denn heute wollte er sich zusammen mit Sabine ganz gemütlich die Sportschau ansehen. Die Eintracht kämpfte zurzeit um die zwingend notwendigen Punkte gegen den Abstiegskampf. Mit Till hatte er gewettet, dass die Frankfurter Mannschaft heute endlich wieder mal gewinnen würde. Er war mittlerweile bei den Süßigkeiten angelangt, warf sich noch ein paar Tafeln Schokolade zu dem abgepackten Käse, der Marmelade, den aufbackbaren Brötchen und den zwei Flaschen Mineralwasser und betrachtete wehleidig seinen mickrigen Einkauf. Rings um ihn herum waren die Wagen bis oben hin gefüllt. Die Schlangen an den Kassen bewegten sich nur im Schneckentempo vorwärts. Er fragte sich, warum die Leute sich das alles antaten, und stellte sich hinten an. Mittlerweile verschwendete er keinen Gedanken mehr daran, warum er eigentlich hergekommen war. Er starrte auf die Kassiererin, beobachtete sie, wie sie die Waren auf dem Band über den Scanner zog. Es kam ihm vor, als würde er noch Stunden hier anstehen müssen, ohne zu wissen, warum er eigentlich hier stand. Als er endlich das Band erreichte und seine paar Habseligkeiten unter den mitleidigen Blicken einer robusten Mittfünfzigerin, die auf gleicher Höhe in der Nachbarschlange wartete, auf das schwarze Gummiband beförderte, packte er noch fünf Päckchen Zigaretten dazu.

Erleichtert verließ er den Konsumtempel und schob seinen Einkaufswagen zielstrebig zu seinem BMW. Natürlich hatte er einen Einkaufswagen erwischt, dessen Räder klemmten und eierten. Nur mit Müh und Not gelang es ihm beim Abbiegen, den parkenden Jaguar nicht mit seinem lädierten Einkaufswagen zu rammen. Zu allem Überfluss setzte jetzt auch noch ein Nieselregen ein. Genervt öffnete er den Kofferraumdeckel seines Wagens und kaum hatte er seine Einkäufe verstaut, fiel ihm auch wieder ein, warum er überhaupt hergekommen war. Klopapier, er hatte kein eines Blatt Klopapier mehr.

Zwei Stunden später lag er mit seiner Freundin auf dem Sofa. Sabine hatte Chips und Bier und nach dem Anruf von Siebels auch zwei Rollen Klopapier mitgebracht. Sabine Karlson arbeitete als Kriminalbeamtin bei der Sitte. Siebels hatte sie bei einem Mordfall, den er zu bearbeiten hatte, erst als Kollegin und später auch als Frau zu schätzen gelernt. Seit vier Monaten bildeten die beiden nun ein Paar und in letzter Zeit schmiedeten sie immer häufiger gemeinsame Zukunftspläne. In der Sportschau lief gerade das Spiel der Bayern. Sabine, deren Blut zur Hälfte deutsch und zur anderen Hälfte schwedisch war, war ein begeisterter Anhänger des FC Bayern München. Die Münchner blieben aber unter den Erwartungen und Siebels freute sich diebisch über jeden verlorenen Ball eines Münchner Spielers. Seine Freude wurde jäh unterbrochen, als sein Handy klingelte und er die Stimme von Staatsanwalt Jensen vernahm.

»Guten Abend, Herr Siebels. Ich hoffe, Sie amüsieren sich nicht allzu gut. Ihr freies Wochenende ist nämlich ab sofort gestrichen. Es handelt sich um einen heiklen Fall, ich erwarte Sie schnellstmöglich in Königstein.«

»In Königstein? Warum ich? Es gibt doch diensthabende Beamte, was soll das jetzt, Herr Jensen?« Siebels wanderte unter den neugierigen Blicken seiner Freundin im Wohnzimmer umher. Er schaute zu ihr und verdrehte seine Augen, während er mit dem Staatsanwalt diskutierte. Jensen war allgemein als Nervensäge verschrien. Siebels hoffte noch, dass es sich nur um einen kurzfristigen hysterischen Anfall des immer wieselflinken kleinen Staatsanwaltes handeln würde.

»Wie ich bereits sagte, es ist ein sehr heikler Fall, am Telefon kann ich Ihnen nicht mehr dazu sagen. Ich benötige Sie, weil Sie der Beste sind. Und vorerst kein Wort zu niemandem, außer natürlich zu Ihrem Kollegen Herrn Krüger, den bringen Sie gleich mit.« Jensen beschrieb Siebels den Weg und nannte ihm die Adresse. Bevor Siebels noch einmal widersprechen konnte, hatte Jensen die Verbindung schon unterbrochen.

»Ein sehr heikler Fall, weil Sie der Beste sind, Siebels«, äffte Siebels den eifrigen Staatsanwalt zornig nach, während er sich seine Schuhe anzog.

»Ich erzähle dir dann später, wer die Tore für die Frankfurter geschossen hat«, versuchte Sabine ihn zu trösten. Die beiden umarmten sich zum Abschied, der gemeinsame Samstagabend wurde wie so oft durch die Arbeit unterbrochen. Wenn es nicht Steffen Siebels war, der Dienst hatte, dann musste Sabine Karlson bei Razzien im Frankfurter Rotlichtmilieu präsent sein.

Auf dem Weg zu seinem BMW rief Siebels bei Till an. »Einen schönen Gruß von Jensen, unser freies Wochenende ist gestrichen. Warum? Weil wir die Besten sind, Kollege. Es ist nämlich ein heikler Fall, wie der Herr Staatsanwalt sich ausgedrückt hat. Ich bin in einer Viertelstunde bei dir. Und ich will kein Wort über das Spiel der Eintracht hören, das schaue ich mir später im Fernsehen an, bis gleich.«

Erst jetzt fiel Siebels auf, dass der Spruch von Jensen, von wegen die Besten und so, auch etwas tiefgründiger gemeint gewesen sein könnte und nicht bloß ein dumm daher gesagter Spruch war. Siebels und Till waren zwar tatsächlich die Besten, wenn es um die Aufklärungsquote von Mordfällen ging. Aber das früher so überzeugende und selbstsichere Auftreten von Till hatte in letzter Zeit etwas gelitten. Das hing mit dem Fall zusammen, bei dem Siebels Sabine kennen gelernt hatte. Till hatte damals einem Verdächtigen beim Verhör schwer zugesetzt. Er war sich sicher gewesen, den Richtigen verhaftet zu haben, und wollte um jeden Preis ein Geständnis aus dem Verdächtigen herauspressen. Der Mann erhängte sich kurz nach dem Verhör in seiner Zelle, fast zur gleichen Zeit, als Siebels mit Hilfe von Till und Sabine den tatsächlichen Täter stellen konnte. Jensen machte Till später schwere Vorwürfe und Till war nicht mehr der Alte. Geplagt von Selbstzweifeln hatte er oft daran gedacht, den Dienst zu quittieren. Viele lange Gespräche mit Siebels und mit Sabine Karlson hatten ihn mittlerweile wieder Tritt fassen lassen. Wenn ihm Jensen jetzt wieder ausdrücklich sein Vertrauen aussprach, konnte das nur gut für ihn sein. Eigentlich war Jensen gar kein so schlechter Kerl, dachte sich Siebels. Wenn er nur nicht so eine nervige Art an den Tag legen würde.

Die Bauarbeiten im neuen Frankfurter Stadtteil City West waren immer noch in vollem Gange. Die Straßenbahnschienen, die von dem neu entstandenen Stadtteil zu dem nächsten neu entstehenden Stadtteil Rebstockpark führten, waren mittlerweile vollständig verlegt. Till hatte sich in der City West eine Eigentumswohnung gekauft, nachdem er als frisch gebackener Polizeioberkommissar unter den Fittichen von Siebels sein Handwerk bei der Mordkommission erlernt und nebenbei eine kleine Erbschaft mit Hilfe seines Bruders und dem Börsenboom am Neuen Markt vervielfacht hatte. Seine Gold Wing, mit der er im Sommer über den heißen Großstadtasphalt schwebte, stand jetzt in einer angemieteten Garage. Er wartete bereits vor dem Haus, als Siebels um die Ecke bog.

»Wochenende ade, Jensen springt im Karree«, begrüßte er Steffen Siebels, der sich eine Marlboro anzündete.

»Die Adresse, die Jensen mir gegeben hat, ist in Königstein. Keine Ahnung, was er da von uns will.«

»Lassen wir uns überraschen, wie geht’s Sabine?«

»Die liegt jetzt gemütlich auf der Couch, trinkt mein Bier und guckt sich die Eintracht an. Und denk dran, ich will nichts hören. Wenn wir Glück haben, sind wir in zwei bis drei Stunden wieder zurück. Dann will ich ganz ungestört das Sportstudio sehen.«

»Von mir erfährst du nix, auch nicht, wenn wir die ganze Nacht in Königstein verbringen, was ich befürchte, wenn Jensen uns persönlich das Wochenende vermiest.«

»Mach mir bloß Mut. Wahrscheinlich erwartet uns eine prominente Leiche und Jensen hat wieder panische Angst vor einem Presserummel.«

Königstein war das Pflaster der Reichen. Etliche Villen, bewohnt von der Elite der Frankfurter Bankenszene, von namhaften Chirurgen oder von alteingesessenen Unternehmern, schmückten das Bild des kleinen, aber feinen Ortes im Taunus, nur ein paar Autominuten von Frankfurt entfernt. Siebels kannte sich hier nicht sonderlich gut aus. Als er noch mit seiner Exfrau glücklich verheiratet gewesen war, hatten sie mit der kleinen Tochter oft einen Wochenendausflug in den Taunus unternommen. Damals waren sie regelmäßig durch Königstein gefahren, aber sie hatten nie die Hauptstraße verlassen, hatten sich nie um die Villen und deren Einwohner in Königstein gekümmert. Als Siebels das Ortsschild von Königstein passierte, entdeckte er ein älteres Paar, das seinen Dackel ausführte. Langsam steuerte Siebels auf die Leute zu.

»Frag die beiden da doch mal, wie wir fahren müssen.«

Till kurbelte das Seitenfenster herunter und fragte nach der Adresse, die Jensen genannt hatte. Die beiden Spaziergänger schauten neugierig in den Wagen. Der Mann schien skeptisch zu sein, als er die Gesichter von Siebels und Till erblickte.

»Das ist die Adresse von Herrn Tetzloff. Sind Sie sicher, dass Sie da hin wollen?«

»Ganz sicher«, entgegnete Till mit einem freundlichen Lächeln.

Der Mann drehte sich zu seiner Frau, er schien unsicher zu sein, ob er den beiden Fremden den Weg beschreiben sollte. Seine Frau übernahm nun das Wort, sie beugte sich zum Fenster und fing mit gestikulierenden Handbewegungen an, den Weg zu beschreiben. Die beiden Beamten bedankten sich höflich, das Ehepaar folgte wieder dem an der Leine nach vorn drängenden Dackel. Die Beschreibung der älteren Dame erwies sich als sehr präzise, zehn Minuten später stand der BMW in einer ruhigen, dunklen Straße vor einem hohen Eisentor. Mit Efeu bewachsene Mauern umrahmten das Grundstück, dessen Einfahrt von einem mit aufwändigen Verzierungen geschmückten Eisentor verschlossen war. Jensen hatte nur die Adresse genannt, keinen Namen. Die Hausnummer war künstlerisch in das Tor eingearbeitet. Nr. 5. Kein Name, dafür waren geschmiedete Initialen in die andere Seite des Tores eingearbeitet.

»S. T.«, brummte Siebels vor sich hin.

»Ja, Siebels und Till. Vielleicht will Jensen uns ja nur unsere neue Dienstwohnung zeigen. Gleich drückt unser Butler auf den Knopf, damit sich das Tor öffnet.«

Kaum hatte Till den Satz ausgesprochen, da öffnete sich tatsächlich das schwere Tor. Siebels schaute ungläubig zu seinem Kollegen. Der zeigte ihm die Videokamera, die unmerklich am oberen Ende des rechten Torpfostens angebracht und in der Dunkelheit kaum auszumachen war. Siebels legte den ersten Gang ein, neugierig ließ er den BMW auf das Grundstück rollen, das von außen nicht einsehbar war. Sie fuhren durch ein kleines Waldstück, vielleicht fünfzig Meter weit. Dahinter erstreckte sich eine Parkanlage. Die asphaltierte Straße, die zu einer altertümlichen Villa führte, war jetzt mit kleinen Laternen beleuchtet. Till pfiff anerkennend durch die Zähne.

»Das erinnert mich an die alten Filme von Edgar Wallace. Langsam verdichtet sich der Nebel, aber Inspector Till Krüger ist der Mann nicht entgangen, der sich heimlich in das Schloss geschlichen hat ... der Ruf einer Eule durchbricht die Stille der Nacht, dann ein unheimlicher Schrei. Kommt der Inspector zu spät?«

»Halt die Klappe, du Spinner. Das einzige Unheimliche, das uns hier erwartet, ist ein kleiner wieselflinker Staatsanwalt, der uns unser Wochenende einfach nicht gönnen will.«

Sie hatten die Villa nun erreicht, eine kreisförmige Auffahrt führte zum Haupteingang, vor dem bereits der Mercedes von Jensen parkte. Gleich daneben stand ein Aston Martin. Ein Stück weiter parkte ein dunkelblauer, verbeulter Passat.

»Das ist die Kiste von Charly Hofmeier. Wir sind also nicht die einzigen Deppen, die Samstagnacht von Edgar Jensen Wallace in das unheimliche Schloss gerufen werden.« Charly Hofmeier war ein Kollege von der Spurensicherung, der sich als EDV-Spezialist im Präsidium und weit darüber hinaus einen Namen gemacht hatte.

Siebels nahm noch einen tiefen Lungenzug, schnippte seine Kippe auf die Einfahrt und ging dann zielstrebig auf den Eingang zu. Till folgte ihm stillschweigend. Mindestens zwei Videokameras hatte Till ausfindig gemacht, von denen sie ins Visier genommen wurden. Die beiden schlenderten die fünf steinernen Stufen hoch. Oben öffnete sich die schwere Holztür und Jensen erschien im Türspalt.

»Na, meine Herren, das wurde ja auch langsam Zeit. Jetzt kommen Sie schon, die Sache ist Ernst und die Zeit drängt.«

Die verlorene Vergangenheit

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