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ОглавлениеErinnerungen, September 1975
Eines Abends, ich hatte bereits mehr als drei Monate mit Claude und Monique auf dem Bauernhof verbracht, kam Claude mit einer Flasche Schnaps und zwei Gläsern in mein Zimmer. Er schenkte ein, einmal, zweimal, dreimal, das Zeug brannte in meiner Kehle, aber es tat mir gut. Claude betrachtete mich mit sorgenvoller Miene, er hätte sich viele Gedanken gemacht, teilte er mir schließlich mit. Ich könne nicht ewig auf seinem Hof bleiben, sagte er und schenkte den nächsten Schnaps ein. Mir war klar, dass er recht hatte, aber ich wusste nicht, wohin ich hätte gehen sollen. Das sagte ich ihm auch und er nickte wissend. Es würde da einen Weg geben, ich könnte ganz von vorn anfangen. Niemand würde fragen, was geschehen sei oder wo ich herkommen würde, vertraute er mir an. Er schenkte die Gläser wieder voll und ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber ich vertraute ihm. Schon am nächsten Morgen würde er mich fortbringen, ich sollte mir einen neuen Namen suchen, wenn ich mit meinem alten Leben endgültig abschließen wolle. Ich lag daraufhin die ganze Nacht wach, der Schnaps hatte seine Wirkung nicht verfehlt, mir war schlecht. Fieberhaft dachte ich über einen neuen Namen nach, war so sehr damit beschäftigt, dass ich von meinen nächtlichen Albträumen in dieser Nacht verschont blieb.
Am nächsten Morgen weckte Claude mich in aller Herrgottsfrühe, noch bevor der Hahn das erste Mal krähte. Monique hatte bereits das Frühstück zubereitet, es gab Omelett. Wir saßen schweigend am Tisch und aßen. Der Abschiedsschmerz lag in der Luft. Nach dem Frühstück verabschiedete ich mich von Monique, wir umarmten uns liebevoll. Sie legte mir ein Medaillon um den Hals, es sollte mir Glück bringen und die bösen Geister vertreiben, die mich jede Nacht aufs Neue heimsuchten.
Die Zeit für den Hahn war bereits gekommen, er krähte, der Hof erwachte zum Leben. Der Abschied schmerzte. Ich saß neben Claude in seinem alten Pick-up, wir sprachen kein Wort miteinander. Die Sonne stieg immer höher, das flache belgische Land zog an meinem Seitenfenster vorbei. Zwei Stunden später erreichten wir Antwerpen. Zielsicher fuhr Claude durch die Stadt, immer tiefer in die Innenstadt hinein. Schließlich stellte er den Pick-up in einer kleinen Gasse vor einer Kneipe ab. Ich folgte ihm in die dunkle Spelunke, ein unrasierter Wirt spülte gerade Gläser. Am Tresen saß ein Mann mit vernarbtem Gesicht, er war in eine Zeitung vertieft, ein Bier und ein leeres Schnapsglas standen vor ihm. Der Wirt begrüßte Claude freudig und musterte mich mit skeptischem Blick. In einer Ecke lungerten noch zwei andere junge Männer, vielleicht in meinem Alter, Anfang zwanzig. Sie machten einen müden und erschöpften Eindruck. Der eine war unschwer als Engländer auszumachen, der andere war Pole, wie ich später erfuhr. Der Wirt schenkte uns Bier ein, auf seinem nackten Oberarm prangte ein tätowierter Skorpion. Das gleiche Motiv war auch auf dem Oberarm von Claude abgebildet. Die beiden unterhielten sich auf Flämisch miteinander, einige Brocken davon konnte ich verstehen. Claude und Monique unterhielten sich oft in dieser Sprache. Ein Deutscher, das wäre selten, sagte der Wirt, und der andere Mann am Tresen schaute mich neugierig an. Claude antwortete, dass ich sehr gut französisch sprechen würde, und erkundigte sich beim Wirt, wann es losgehen würde. Bald, man müsse noch Station in Brüssel machen. Mehr konnte ich nicht verstehen. Wir tranken unser Bier aus und verharrten noch eine Weile schweigend am Tresen, bevor Claude mir alles Gute wünschte und mich schließlich allein in dieser Spelunke zurückließ. Nur ein fester Händedruck, dann war er weg. Ich gesellte mich zu dem Engländer und dem Polen und stellte mich vor. Ich sprach auf Englisch, der Pole verstand kein Wort, er sprach aber Deutsch.
Nach einer weiteren halben Stunde betrat ein neuer Gast die Kneipe. Der Wirt gab uns zu verstehen, dass unsere Reise nun beginnen würde. Draußen stand ein alter VW-Bus für uns bereit. Ich setzte mich zwischen den Engländer und den Polen und fragte nicht, wo die Reise hingehen sollte. Von Antwerpen nach Brüssel war es nur eine kurze Fahrt. In Brüssel hielten wir wieder vor einer Kneipe und luden noch zwei Belgier ein. Anschließend fuhren wir gleich weiter. An der Grenze zu Frankreich diskutierte der Fahrer mit dem Grenzer, ich konnte nicht verstehen, worum es ging. Der Grenzer winkte uns durch, die Fahrt ging weiter ins Innere von Frankreich. Nach einer weiteren Stunde erreichten wir Reims. Der VW-Bus stoppte in der Avenue de la Paix. Wir stiegen aus dem Bus und folgten unserem Fahrer durch einen Innenhof, vorbei an einem Uniformierten. An der Hauswand entdeckte ich ein Schild: Légion Etrangère, Accueil – Renseignements. Fremdenlegion, Empfang – Auskunft.
Sonntag, 30. November 2003, 12:40 Uhr
Während der Fahrt von Königstein zurück nach Frankfurt konnten sich Siebels und Till endlich wieder unter vier Augen unterhalten.
»Glaubst du an diese Rumänen?«, wollte Till wissen.
»Ein ganz normaler Entführungsfall wäre mir lieber. Wenn da wirklich ehemalige Offiziere von Ceaucescu dahinterstecken, dann sind die mit allen Wassern gewaschen. Vor zwei Polizisten wie uns haben die mit Sicherheit keine große Angst. Und in der Haut von Simone Tetzloff wollte ich dann auch nicht stecken. Aber noch glaube ich nicht an die Rumänen. Trotzdem werde ich gleich morgen Früh mal bei den Kollegen vom K31 vorbeischauen. Vielleicht liegen denen ein paar Informationen über diese Rumänen vor.«
»Sind das die Jungs von der Wirtschaftskriminalität?«
»Genau, es gibt zwei Abteilungen. Die Kollegen vom K313 befassen sich mit Kapitalanlagebetrug und Wertpapierhandel und die Kollegen vom K314 mit Bankrott und Insolvenzbetrug.«
Die beiden waren mittlerweile wieder in Frankfurt eingetroffen, Siebels fuhr mit hundertdreißig über die Stadtautobahn Richtung Miquelallee. Erlaubt waren hundert und unter der Brücke, kurz vor der Abfahrt nach Bockenheim, fluchte er laut, als es blitzte.
»Wie oft haben sie dich hier jetzt eigentlich schon erwischt?«
»Das war das dritte Mal. Irgendwann werde ich es lernen. Was macht eigentlich Johanna? Du hast lange nichts mehr erzählt. Seid ihr noch zusammen?«
Johanna war in einen Fall verstrickt gewesen, den Siebels und Till im letzten Sommer gelöst hatten. Es war der Fall, bei dem Till einen unschuldigen und psychisch labilen Mann mit seinen unorthodoxen Verhörmethoden in den Selbstmord getrieben hatte. Zwei junge Frauen waren ermordet worden, Johanna war die Dritte auf der Liste gewesen. Aber dann kam alles anders. Der Täter hatte sich in Johanna verliebt, wurde aber schließlich von Siebels, Till und Sabine Karlson gefasst. Sabine Karlson war eigentlich bei der Milieukriminalität angesiedelt gewesen, wurde aber für diesen Fall in das Team von Siebels und Till integriert. Siebels und die Karlson kamen sich auch privat näher, jetzt wartete sie auf ihn, lag auf seinem Sofa und schaute wahrscheinlich Fernsehen. Als der Fall abgeschlossen war und Johanna in den darauffolgenden Tagen ihre Aussage zu Protokoll gebracht hatte, war es Till, der die Befragungen übernommen hatte. Als der Fall endgültig abgeschlossen war, gingen die beiden des Öfteren mal aus, nach einiger Zeit waren sie ein Paar, sie redeten auch immer öfter über eine gemeinsame Wohnung.
»Ja, klar sind wir noch zusammen. Wir hatten aber einen Streit, eigentlich zieht sich das schon über Wochen hin. Sie fährt nämlich immer noch regelmäßig ins Gefängnis und besucht diesen Jens Kiesbach. Und seinen Bruder besucht sie auch alle zwei Wochen. Der lebt jetzt in einem Heim.«
»Und was stört dich daran?«
»Wir haben sowieso nicht viel Zeit, die wir gemeinsam verbringen können. Und wenn ich mal Zeit für sie habe, dann ist sie bei Kiesbach. Entweder bei dem einen oder bei dem anderen.«
Siebels stoppte den BMW vor Tills Haustür. »Sei froh, dass du sie hast und dass sie sich kümmert. Sie hat ein gutes Herz, sie ist ein Hauptgewinn, vergiss das nicht.«
»Hast ja recht, und jetzt fahre zu deiner Sabine, wir sehen uns morgen.«
Siebels schaute seinem Kollegen hinterher, bis der hinter der Haustür verschwunden war, dann fuhr er nachdenklich zu seiner Sabine.
Samstag, 29. November 2003, 23:05 Uhr
Sie hatte es aufgegeben. Ihre Stimme war vom vielen Reden heiser geworden. Sie musste auf die Toilette. Sie spürte, wie die Kräfte sie verließen. Sie war zermürbt. Die vielen Gedanken, die sich in ihrem Kopf drehten, machten einer resignierenden Leere Platz. Plötzlich hörte sie, wie sich der Schlüssel in der Tür drehte. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, ihr Herz schlug höher, ganz plötzlich war die Angst wieder da. Dann erblickte sie endlich ihren heimlichen Beobachter. Er brachte ein Tablett, darauf ein Teller mit heißer Suppe und ein Glas Orangensaft. Er stellte das Tablett neben dem Bett ab und setzte sich auf die Bettkante. Sie würde zu viel reden, sagte er nur. Seine Stimme klang ruhig und angenehm. Er griff in seine Hosentasche, hielt den Schlüssel für die Handschellen zwischen seinen Fingern. Er schwenkte spielerisch den Schlüssel vor ihrer Nase. Dabei sprach er beruhigend auf sie ein, er würde sie von ihren Fesseln befreien. Wenn sie sich ruhig verhalten würde, benötigte er keine Handschellen. Sie nickte schnell, blieb aber stumm. Ihre Stimme versagte, dabei hätte sie so viel zu sagen gehabt. Er stellte das Tablett auf das Bett. Der Dampf der heißen Suppe stieg auf, Tomatencremesuppe, dazu zwei Scheiben Weißbrot. Er zeigte zu der Tür, die eine Ecke des Zimmers abtrennte, dort würden sich die Dusche und die Toilette befinden. Sie solle sich wie zuhause fühlen, sie wäre sein Gast und er wäre bemüht, ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Während er sprach, lächelte er und sein Lächeln erschien ihr auf eine unerklärliche Weise charmant. Endlich fand sie ihre Stimme wieder. Sie hatte einen Schluck von dem Saft getrunken und tauchte das Weißbrot in die Suppe ein. Ihre Stimme klang erst zögerlich, sie fing sich, von ihm schien keine körperliche Gefahr auszugehen. Sie fragte ihn, was er wolle, ob er Geld wolle, ob er ihren Mann erpressen würde. Sie sagte ihm, dass sie auch Geld hätte, viel Geld. Sie fragte ihn, wie viel er haben wolle.
Er lächelte, sah sie an und lächelte. Das machte sie wütend. Sie schlug mit dem Löffel in die Suppe. Es spritzte, kleine rote Flecken verteilten sich auf seinem weißen Hemd und auf der Bettwäsche. Seine Miene verwandelte sich, das Lächeln war verschwunden. Er griff nach ihren Handgelenken, sein Griff fühlte sich eisern an. Er drückte ihre Arme nach oben auf das Bett und sein Gesicht ganz nah an das ihre. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, sie spürte seinen gleichmäßigen Atem auf ihrem Kinn. Er schaute jetzt ernst, zu allem entschlossen. Sie würde zu viele Fragen stellen, stellte er lapidar fest und schnauzte sie dann an, dass sie erst einmal lernen solle, sich zu benehmen.
Dann ließ er von ihr ab, drehte sich um und verließ das Zimmer. Sie hörte wieder, wie sich der Schlüssel von außen im Schloss drehte. Sie aß den Rest der Suppe, stieg dann aus dem Bett und versuchte sich zu strecken und zu dehnen. Ihr tat alles weh, sie machte ein paar Kniebeugen und spürte dabei wieder den Druck auf ihrer Blase. Sie ging zu der Tür in der Ecke, öffnete sie schnell, sie musste jetzt dringend. Erleichterung stieg in ihr auf, als sie sich endlich entleeren konnte. Sie blieb noch einen Moment auf der Klobrille sitzen, ihr Blick schweifte durch das kleine Toilettenzimmer. Mit Entsetzen entdeckte sie die Videokamera über der Tür.
Montag, 01. Dezember 2003, 8:00 Uhr
Als Till im Büro erschien, war Siebels natürlich schon längst wieder da. Jedenfalls hing sein Jackett über dem Stuhl und der dampfende Kaffeebecher stand auf seinem Schreibtisch, daneben lag die Bild-Zeitung. Till fuhr seinen Computer hoch, ging online und startete seine Suchmaschine. Als Suchbegriff gab er »Tetzloff« ein. Eine lange Trefferliste, aber nur wenige Einträge galten Sebastian Tetzloff. Er verfeinerte seine Suche und gab auch noch Sebastian ein. Die neue Trefferliste gab fast ausschließlich Verweise auf den Mann an, der in der pompösen Villa in Königstein residierte. Die meisten Seiten stammten von Frauenzeitschriften. Die Hochzeit von Sebastian Tetzloff und Simone Deubinger, zukünftige Simone Tetzloff, war in den Gazetten in allen Einzelheiten ausgeschlachtet worden. Till verfolgte den Werdegang von Simone Tetzloff. Sie war am 12. Juli 1975 in Bingen am Rhein geboren worden. Ihr Vater starb an Krebs, da war sie gerade fünf Jahre alt gewesen. Er hatte ein Maklerbüro für Immobilien und ein kleines Vermögen hinterlassen, wenn man die Summe der Lebensversicherung berücksichtigte. Mutter und Tochter hatten ein sorgenfreies Leben führen können, wenigstens in finanzieller Hinsicht. Die Mutter hatte sechs Jahre später ein zweites Mal geheiratet. Drei Jahre hatte diese Ehe gehalten. Nach der Scheidung war die Mutter nach Ibiza übergesiedelt und hatte dort ein Hotel eröffnet. Tochter Simone war zu diesem Zeitpunkt vierzehn gewesen und war in ein Internat am Bodensee geschickt worden. Dort hatte sie ihr Abitur gemacht und war anschließend nach Frankfurt gezogen, um Germanistik zu studieren. Der monatliche Scheck ihrer Mutter war immer großzügig bemessen gewesen, trotzdem hatte sie nach Unabhängigkeit gesucht und den Weg zu einem Casting gefunden. Models für Modeaufnahmen waren gesucht worden. Simone Deubinger hatte nicht nur gut ausgesehen, sie hatte auch Talent gehabt und das war nicht lange verborgen geblieben. Bei ihrem ersten Job hatte sie sich in Damen-Unterwäsche für den Neckermann-Katalog ablichten lassen. Der Fotograf war von ihr begeistert gewesen. Als der Neckermann-Job erledigt gewesen war, hatte er Simone zu einer privaten Foto-Session überreden können. Er hatte eine Mappe erstellen und Simone groß rausbringen wollen. Seine Fotos waren von überragender Qualität gewesen. Lagerfeld war der Erste, der Simone Deubinger engagiert hatte. Von 1993 bis zum Sommer 2002 folgten anstrengende Jahre. Simone Deubinger war es gelungen, zum höchst bezahlten Model in der Modebranche aufzusteigen, und sie hatte in regelmäßigen Abständen mit ihren Liebschaften Furore gemacht. Sie hatte eine Affäre mit einem amerikanischen Schauspieler gehabt, die Geschichte hatte allerdings nicht länger als vier Wochen angehalten. Böse Zungen hatten behauptet, sie hätte nicht den Schauspieler, sondern eine Hauptrolle in Hollywood gewollt. Einige Zeit später hatten die Paparazzi sie kreuz und quer durch Kalifornien und Arizona gejagt. Ihre Verbindung zu dem Sänger einer Heavy Metal Band hatte die Seiten der Yellow Press gefüllt. Auch diese Affäre war nur von kurzer Dauer gewesen, danach war noch ein Techtelmechtel mit einem smarten saudischen Prinzen gefolgt, dessen Portemonnaie immer prall gefüllt gewesen war, der aber nur selten seinen Palast in der Wüste Saudi-Arabiens verlassen wollte. Diese Geschichte hatte im Frühjahr 1995 stattgefunden. Dann war bis Ende 1996 nichts mehr über Liebschaften der Simone Deubinger zu lesen. Im Dezember 1996 war sie dann wieder in den Gazetten aufgetaucht. Auf einem Wohltätigkeitsball hatte sie Sebastian Tetzloff kennen gelernt. Die Beziehung zwischen den beiden war seitdem sporadisch, aber beständig durch die Presse gelaufen, bis Simone Deubinger Anfang 2002 ihren Ausstieg als Model bekannt und kurz darauf Sebastian Tetzloff ihr Ja-Wort gegeben hatte.
Und damit verschwand sie schließlich aus den Augen der Öffentlichkeit, nur noch gelegentlich tauchte ihr Name in den Zeitschriften auf. Sebastian Tetzloff wurde in den Hochzeitsartikeln eher vernachlässigt. Er war schlicht und ergreifend der Märchenprinz, von dem jede Frau träumte. Er sah gut aus, hatte mehr Geld, als er ausgeben konnte, und bei seinen wenigen öffentlichen Auftritten versprühte er Charme und Witz. Er war ein Macher, geliebt von den Frauen, bewundert von den Männern. Eine Lichtgestalt, die ihr Licht gern unter den Scheffel stellte, denn aus dem persönlichen Leben von Sebastian Tetzloff wussten die Schreiberlinge wenig zu berichten.
Till blätterte weiter in der Tetzloff-Trefferliste und kam allmählich zu älteren Artikeln, vornehmlich aus den Wirtschaftsseiten der Zeitungen. Er fand mehrere Artikel, die die Wahl von Tetzloff zum Manager des Jahres behandelten, der Erfolg seiner Firma Business-Soft wurde euphorisch dokumentiert und bejubelt. Made in Germany, es gab sie noch, die Aushängeschilder deutscher Schaffenskraft. Tetzloff schaffte Arbeitsplätze, Tetzloff expandierte, Tetzloff kritisierte die Politiker und die Wirtschaftskapitäne spendeten ihm Applaus. In einem Who’s who, Lexikon deutscher Unternehmer, fand Till eine kurze Biografie von Tetzloff. Tetzloff war 1955 in Wetzlar geboren worden, sein Vater war gelernter Kaufmann und Abteilungsleiter bei den Farbwerken Höchst gewesen, bevor er sich 1965 mit einer kleinen Papierfabrik selbständig gemacht hatte. Die Mutter war gelernte Schneiderin gewesen, in den Nachkriegsjahren hatte sie in einem Textilunternehmen vor der Nähmaschine gesessen und später Kostüme für das Theater entworfen. Sebastian Tetzloff hatte 1975 sein Abitur gemacht und anschließend Betriebswirtschaft in Frankfurt studiert. 1979 war er in die Firma seines Vaters eingetreten, 1981 war er dort Vertriebsleiter geworden, die Firma hatte angefangen zu expandieren. 1983 war der Vater an einem Herzinfarkt gestorben und der Sohn in seine Fußstapfen getreten. Unverzüglich hatte er in neue Maschinen investiert. Mitte der achtziger Jahre hatte der Siegeszug des Personal Computers begonnen, erst in den Büros, später auch in den privaten Haushalten. Im Windschatten des PC war auch der Nadeldrucker populär geworden und der Bedarf für das Papier aus der Tetzloffschen Fabrik täglich gewachsen. Anfang der Neunziger hatte Tetzloff Fabriken in Frankfurt, Düsseldorf, Nürnberg und in Dresden besessen. Weitere Werke waren in Finnland, Spanien und Ungarn entstanden. Die Papierfabriken von Tetzloff hatten ihren Umsatz von Jahr zu Jahr verdoppeln können. Gleichzeitig war Bill Gates mit seinen Softwareprodukten zum reichsten Mann Amerikas aufgestiegen und hatte sich als Visionär feiern lassen, unter anderem hatte er das papierlose Büro proklamiert. Eine Vision, die für Tetzloff ein Albtraum gewesen war. Konsequent hatte er seinen Expansionsdrang in der Papierbranche gezügelt und sich nach neuen Märkten umgesehen. Er hatte als ersten Schritt einen Verlag gegründet und sich auf finanzwirtschaftliche Produkte spezialisiert, hatte Zeitschriften und Börsenbriefe herausgebracht und auch in diesem Geschäft mit dem Börsenboom Ende der neunziger Jahre rasante Zuwächse verbuchen können. Der Tintendrucker hatte dann für weiteres Wachstum in seinen Papierfabriken gesorgt, der Durchbruch der digitalen Kamera war Garant für eine stetig steigende Nachfrage nach hochwertigem Fotopapier gewesen. Im Jahr 2001 hatte Tetzloff sich an einer neu gegründeten Zeitarbeitsagentur beteiligt, nur drei Monate später war er Mehrheitseigentümer und hatte Niederlassungen in der ganzen Republik eröffnet. Als erfolgreicher Arbeitsvermittler war es ihm gelungen, sich Gehör und Einfluss bei den politischen Parteien aller Couleur zu verschaffen, er war zum Vordenker bei den anstehenden wirtschaftlichen Reformprozessen avanciert und war als Kandidat für das Präsidentenamt beim Bundesverband der Deutschen Industrie gehandelt worden. Tetzloff hatte aber dankend abgewinkt. Er hatte es vorgezogen, sich auf die 1993 von ihm erworbene Firma Business-Soft zu konzentrieren. In seinen Augen war diese Firma der größte Schatz in seinem kleinen Imperium und er hatte wieder einmal recht behalten. Zehn Jahre später hatte sich Business-Soft zum Weltmarktführer in einem lukrativen Markt und Tetzloff zum Multimillionär entwickelt.
Till druckte die Biografie aus. Wahrscheinlich auf Tetzloff-Papier, dachte er sich, während der Drucker geräuschvoll die Seiten bedruckte. Er hatte über eine Stunde damit verbracht, im Netz nach Informationen über Tetzloff zu suchen, von Siebels war immer noch nichts zu sehen. Till las noch einmal die ausgedruckten Seiten, er saß mit dem Rücken zur Tür, dachte, es wäre Siebels, als die Tür sich öffnete. Aber hinter ihm stand Jensen.
»Was machen Sie denn da, Herr Krüger? Das sind doch alles Informationen zu der Person von Herrn Tetzloff. Herr Tetzloff ist das Opfer, ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich um den Täter kümmern.« Jensen war mittlerweile um die Schreibtische herumgegangen und setzte sich Till gegenüber auf den Stuhl von Siebels.
»Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen gehen wir davon aus, dass der Entführer mit vielen Einzelheiten aus dem Leben der Familie Tetzloff vertraut ist. Wir versuchen nun, uns in die Lage des Entführers zu versetzen. Wir wollen rekonstruieren, wie er bis jetzt vorgegangen ist und uns dann überlegen, wie seine nächsten Schritte aussehen könnten. Dazu müssen wir natürlich so viel wie möglich über Simone und Sebastian Tetzloff wissen.« Till hob die Augenbrauen und wartete spitzbübisch auf die Antwort von dem Staatsanwalt.
»Gut so, Krüger. Aus Ihnen wird noch ein mit allen Wassern gewaschener Ermittler. Aber vergessen Sie bloß eins nicht: Absolute Diskretion!« Jensen flüsterte die letzten Worte, stand auf und machte kehrt. An der Tür stieß er mit Siebels zusammen. »Ah, der Herr Polizeihauptkommissar Siebels. Ich muss ja wohl nicht betonen, dass ich rund um die Uhr auf dem Laufenden gehalten werden will, was die Sache Tetzloff betrifft.«
»Sie kennen uns doch nun lange genug, Herr Staatsanwalt Jensen. Auf uns können Sie sich verlassen.«
»Ja ja, mal mehr und mal weniger.« Jensen fuchtelte dabei mit den Händen in der Luft herum, als wollte er das mehr und weniger auch noch plastisch zum Ausdruck bringen, verließ dann aber kopfschüttelnd das Büro.
»Das wird noch was werden, früher oder später sickert das doch durch und dann ist der Teufel los. Dieses konspirative Gehabe gefällt mir nicht. Entweder ermitteln wir offiziell oder wir lassen es sein. Ich bin doch kein Angestellter von diesem Tetzloff und lasse mir von dem vorschreiben, wie viele Beamte wir bei den Ermittlungen einsetzen.«
»Das ist mir Wurst, solange Jensen glücklich ist. Wenn der erst mal Panik hat, dann nervt er noch viel mehr, darauf habe ich überhaupt keinen Bock.«
»Nur weil er Choleriker ist, können wir doch nicht einfach alles schlucken, was dem so in den Sinn kommt. Warten wir mal ab, was der Tag heute so bringt. Wenn mir das zu dumm wird, spreche ich mit dem Polizeipräsidenten persönlich. Am Ende geht das schief und wir sind die Deppen, nur weil der Jensen dem Tetzloff in den Arsch kriecht.«
»Hast ja recht. Wie geht’s jetzt weiter?«
»Wir fahren ins Main-Taunus-Zentrum, wie besprochen. Da klappern wir die Geschäfte ab, in denen Simone Tetzloff ihre Einkäufe erledigt hat. Außerdem habe ich noch eine Idee. Wenn wir davon ausgehen, dass der Täter sie auf dem Parkplatz überwältigt hat, muss es eigentlich Zeugen geben. Vielleicht hat es ja für Außenstehende nach einem Streit zwischen Eheleuten ausgesehen, was weiß ich. Aber so ein Jaguar fällt doch auf. Wenn da ein Gerangel zwischen einer Frau und einem Mann stattgefunden hat, muss das auch irgendjemand beobachtet haben.«
»Und? Willst du einen öffentlichen Aufruf starten? Wer hat beobachtet, wie die berühmte Simone Tetzloff am helllichten Tag entführt wurde? Jensen bringt dich um, wenn du nur dran denkst.«
»Wir müssen ja nicht direkt darauf eingehen. Wie wäre es, wenn der Jaguar beschädigt wurde, während er auf dem Parkplatz stand. Wir hängen einfach in der Nähe des Parkplatzes Zettel auf und fragen, ob jemand beobachtet hat, wie der Kotflügel von unserem schönen Jaguar eingedellt wurde.«
Till schnippte mit dem Finger. »Das ist eine gute Idee, das machen wir.«