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3.2. Theologie und Semiotik 3.2.1. Geist und Vollmacht
ОглавлениеDie semiotischen Aspekte lassen sich also mit theologischen Momenten im Hinblick auf die Geistthematik in Verbindung bringen, so dass sich eine Anwendung auf eine Evangelienschrift anbietet. Dabei zeigt das älteste der vier kanonischen Evangelien ein elementares und profiliertes Verständnis der Wirkmacht des Gottesgeistes. Somit erscheint dieses Evangelium in besonderer Weise dafür geeignet, eine Interpretation anhand der semiotischen Hermeneutik zu erproben. Das Markusevangelium zeichnet sich dadurch aus, dass es die Geistaussagen als Zeichen der Vollmacht Jesu interpretiert. Diese Verbindung ist wesentlich für die Deutung des markinischen Geistbegriffs. Die programmatische Schlüsselszene für die Darstellung des Vollmachtsbegriffs ist Mk 1,21–28.1
Die Szene schildert im prägnanten – typisch markinischen – Stil das erste Auftreten Jesu. Die Handlung spielt an einem Sabbat in der Synagoge von Kafarnaum (vgl. V. 21). Mit Mk 1,21–28 liegt ein „narratives Diptychon“ vor, denn diese Szene bietet einen zweifachen Blick auf Jesus.2 Dieser tritt zum einen als Lehrer auf (vgl. Mk 1,21–22) und setzt sich damit gleich zu Beginn des Evangeliums der Gefahr des Widerspruchs und des Widerstands der Schriftgelehrten aus. Es deutet sich bereits hier die den weiteren Lebensweg Jesu und damit den folgenden Handlungsverlauf des Evangeliums zutiefst prägende Auseinandersetzung zwischen Jesus und der religiösen Elite bzw. den religiösen Gruppen Israels an, die in Passion und Tod Jesu gipfelt. Diese an die Personen gebundene Beobachtung lässt sich auch topografisch bestätigen: Galiläa – die religiöse Peripherie – ist der Ort der Wirksamkeit Jesu, Jerusalem – das jüdische Kultzentrum, mit dem die Schriftgelehrten (vgl. Mk 3,22) sowie die weiteren religiösen Autoritäten verbunden sind (vgl. Mk 14–15), – wird der Ort des Leidens und Sterbens Jesu sein. Wie bereits in der voraufgegangenen Taufszene beim Herabsteigen des Geistes (vgl. Mk 1,10), verschränken sich daher Erde (Galiläa) und Himmel (Jerusalem, Tempel) markant auch in dieser Szene. Darüber hinaus zeigt sich der Mann aus Nazaret zugleich als machtvoller Exorzist, der die Herrschaft der Dämonen bricht (vgl. Mk 1,23–28, im Kern die Verse 23–26). Das in Jesu Predigt verkündigte Gottesreich – die βασιλεία τοῦ θεοῦ – führt nicht nur zu einer geistigen, sondern auch zu einer körperlichen Befreiung. Damit ist das Leben in all seinen Dimensionen – also nach jüdischer Vorstellung als leibseelische Einheit – durch das Evangelium angesprochen.
Ein doppelter Kontrast ist in der behandelten Szene festzustellen: Jesu Vollmachtsanspruch in seiner Lehre steht der Lehrbefugnis der Schriftgelehrten gegenüber; seine in seinen Taten sich manifestierende Vollmacht widersetzt sich dem Machtanspruch der Dämonen.3 Die Dämonen kann Jesus offenkundig überwinden – er kann diese satanischen Kräfte binden (vgl. auch Mk 3,27) –, während umgekehrt die religiösen Autoritäten des Judentums, als deren Stellvertreter die Schriftgelehrten in der vorliegenden Perikope fungieren, Jesus zu Fall bringen werden: Er wird für seine vollmächtige Botschaft in den Tod gehen (vgl. die drei Leidensankündigungen Mk 8,31–33; 9,30–32; 10,32–34). Die widerstreitenden Vollmachts- bzw. Machtansprüche spiegeln sich in der Demut Jesu und dem Hochmut seiner Kontrahenten wider.4 Dass aber mit dem Leiden und Sterben Jesu die Botschaft von der Königsherrschaft Gottes gleichwohl nicht hinfällig ist, weiß der Leser des Markusevangeliums, wenn er die Lektüre beendet hat. Anfang und Ende des Evangeliums verweisen aufeinander und deuten sich in der Relecture.5 Jesus von Nazaret verkündet und vollzieht die befreiende Botschaft vom angebrochenen Gottesreich, sie wird in den Worten und Taten des vollmächtigen Mannes buchstäblich anschaulich.6 Die Szene Mk 1,21–28 soll dem Leser verdeutlichen, dass Jesus tatsächlich der Sohn Gottes ist; er ist sozusagen genauso Herr über die Schriftgelehrten wie er unzweifelhaft Herr über die Dämonen ist.
In die Wahrheit über Jesu Identität werden, nachdem der Leser bereits im Prolog Mk 1,1–137 darüber in Kenntnis gesetzt ist, nun auch die Erzählfiguren eingeweiht. Die beiden wesentlichen Aussagen über die Vollmacht und somit die Messianität Jesu kommen in den Reaktionen der Zuhörer (vgl. VV. 21. 22) und Zuschauer (vgl. VV. 23–28) der geschilderten Ereignisse zum Ausdruck. Sie sind Ohren- und Augenzeugen der wundersamen Begebenheit, die sich in der Synagoge abspielt. In beiden Fällen berichtet der Evangelist von der tiefen Erschütterung – dem Erstaunen und dem Erschrecken (vgl. Mk 1,22a: ἐξεπλήσσοντο, vgl. Mk 1,27a: ἐθαμβήθησαν) – der Umstehenden, und in beiden Fällen benutzt er den Begriff „Lehre“ (διδαχή – vgl. Mk 1,22b. 27c) und verbindet ihn mit dem Begriff „Vollmacht“ (ἐξουσία).8 Das Stichwort „Lehre“ verweist zurück auf das „Evangelium Gottes“ (τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ – vgl. Mk 1,14), dessen Wortlaut Mk 1,15 referiert, und der Begriff „Vollmacht“ fällt an dieser Stelle zum ersten Mal – durch die doppelte Nennung aber in prononcierter Form. Was jedoch „Vollmacht“ im Rahmen des Markusevangeliums bedeutet, definiert der Verfasser durch die Komposition, die zwei Aspekte umfasst:
Erstens: Der Evangelist stellt zunächst das Wirken des Geistes anschaulich dar. In seiner Taufe im Jordan durch Johannes teilt sich Jesus der Geist Gottes mit. Das Zerreißen des Himmelsfirmamentes demonstriert dabei die kraftvolle Gegenwart des Geistes, die dadurch auf die Allmacht Gottes verweist. Der Geist „steigt wie eine Taube herab“ (ὡς περιστεράν καταβαίνων – vgl. Mk 1,10) und dringt „in“ (εἰς! – vgl. Mk 1,10) Jesus ein – auch das ein Zeichen für die drängende und daher machtvolle Wirksamkeit des Geistes (vgl. zur Auslegung der Stelle weiter unten im Fließtext)! Diese göttliche Kraft verspürt Jesus – und mit ihm der Leser – dann erneut in der unmittelbar an die Taufperikope anschließenden Versuchungsepisode buchstäblich am eigenen Leib, worauf der Begriff ἐκβάλλω (vgl. Mk 1,12 – wörtlich: „hinauswerfen“!) hinweist. Die schöpferische Allmacht (δύναμις)9 Gottes und die endzeitliche Vollmacht (ἐξουσία)10 Gottes werden zur eschatologisch-messianischen Vollmacht (ἐξουσία) Jesu,11 die eine Überbietung prophetisch-charismatischer Bevollmächtigung bedeutet:12 Johannes der Täufer war der letzte Prophet – der „Elija redivivus“ –, Jesus hingegen ist der neue Messias.
Zweitens: Das Evangelium schildert danach die Folge bzw. die Folgen des Geistes: Jesus besteht die Prüfung in der Wüste und erweist sich somit unzweifelhaft als der, den die Himmelsstimme zuvor zweifach angekündigt hat (vgl. Mk 1,2. 11). Die Heilsbotschaft des Sohnes Gottes bringt die Sendung Jesu, die mit dem endzeitlichen geistbegabten Messias verbunden ist, ins Wort (vgl. Mk 1,14–15). Die vier ersten Jünger, die Jesus daraufhin beruft (vgl. Mk 1,16–20), werden zu seinen von ihm mit Vollmacht ausgestatteten Nachfolgern. Sie bilden die „Menschenfischer“ der neuen Heilsgemeinschaft, die zur Gruppe der „Zwölf“ anwächst und dadurch ganz Israel zeichenhaft erfasst. Schließlich dehnt sich die Heilzusage auch auf die Heiden aus (vgl. Mk 7,24–30: die Beispielerzählung über die Syrophönizierin). In dieser neuen Gemeinschaft vollzieht sich die Gottesherrschaft (vgl. auch die markanten Jüngerbelehrungen Mk 9,35–37: Urvertrauen in die Botschaft; 10,43–45: Dienst für die Botschaft). Auf die geschilderte Berufung der beiden Brüderpaare folgt sofort die kurze Erzählung über Jesu erstes Wirken in Kafarnaum.
Für Markus ist es also evident, dass Geistbesitz Vollmachtsbesitz bedeutet.13 Die Verleihung der Vollmacht ist jedoch an die Geistbegabung in der Taufe Jesu im Jordan gebunden (vgl. Mk 1,9–11). Sie markiert den narrativen wie theologischen „Anfang“ – die ἀρχή (vgl. Mk 1,1) – für die irdische Wirksamkeit des Mannes aus Nazaret (vgl. Mk 1,9) im Sinne einer Prämisse bzw. Legitimation. Jesus wird mit dem Geist Gottes erfüllt (εἰς αὐτόν – vgl. Mk 1,10). Er ist daher nun imstande, „das Evangelium Gottes“ (τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ – vgl. Mk 1,14) über „die Königsherrschaft Gottes“ (ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ – vgl. Mk 1,15a) als bevollmächtigter Bote Gottes (vgl. κηρύσσων – Mk 1,14) zu verbreiten. Die Botschaft und ihr Bote werden durch die Vermittlung des Geistes verbunden. Das heißt, dass sich in Jesu Lebensweg zeichenhaft die göttliche Königsherrschaft verwirklicht: So lässt sich das „Evangelium von Jesus Christus“ (τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ – vgl. Mk 1,1) mit dem „Evangelium Gottes“ (vgl. Mk 1,14: τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ; vgl. Mk 1,15: τῷ εὐαγγελῳ) gleichsetzen.14 Gottes Allmacht kommt in Jesu Vollmacht zum Ausdruck. Jesu Vollmacht partizipiert an der Allmacht JHWHs.15 Jesus handelt demnach als bevollmächtigter Stellvertreter Gottes.16 Daher besteht eine innige Verbindung zwischen Gott-Vater und Sohn Gottes, so dass die Verwendung der familiär-intimen Bezeichnung „Sohn“ im christologischen Titel „Sohn Gottes“ im ersten Satz des Markusevangeliums legitim erscheint.17 Dieser Jesus von Nazaret ist also wahrhaftig der erwartete Messias, den die einleitenden zwanzig Verse des Evangeliums – stilistisch herausgehoben durch eine Klimax – als den „Herrn“ (vgl. Mk 1,3: κυρίου), den „Stärkeren“ (ὁ ἰσχυρότερός – vgl. Mk 1,7), den „Geisttäufer“ (αὐτὸς δὲ βαπτίσει ὑμᾶς ἐν πνεύματι ἁγιῳ – vgl. Mk 1,8b) und „(meinen geliebten) Sohn“ (vgl. Mk 1,11b: ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός) vorstellen. Das aus menschlicher Sicht Ungreifbar-Unbegreifliche der angebrochenen Gottesherrschaft wird in den vollmächtigen Worten und Taten Jesu greifbar und begreifbar, zugleich aber auch angreifbar, wie die doch verbreitete Ablehnung gegen Jesu Auftreten belegt (vgl. beispielhaft Mk 3,21–22).18 Der im Markusevangelium erscheinende Vollmachtsaspekt ist daher meines Erachtens nicht nur christologisch,19 sondern auch pneumatologisch zu deuten: Das Handeln Jesu in Vollmacht beruht auf der Wirkung des Geistes Gottes.
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Der Vollmachtsbegriff stellt ein Synonym für den Geistbegriff dar. Diese Vollmacht manifestiert sich in Zeichen, und zwar – wie Mk 1,21–28 eindrücklich zeigt – in Wort- und Tatzeichen. Der Vollmachtsbegriff bleibt daher wie der Geistbegriff nicht schwebend-unbestimmt. Der Text Mk 1,21–28 ist daher als Zwischenstück zu begreifen, das die in Mk 1,14–15 proklamierte Königsherrschaft Gottes mit erzählerischen Mitteln zum Ausdruck bringt.20 Dabei weist die Tatsache, dass der Beginn des Wirkens Jesu in der Synagoge von Kafarnaum stattfindet, auf die tiefe Verbundenheit zwischen JHWH und Jesus und damit auf die Verbindung zwischen Gottes Allmacht und Jesu Vollmacht hin. Es handelt sich bei Mk 1,21–28 evident um eine Szene der Offenbarung göttlicher Schöpfermacht; die Schriftauslegung und die Dämonenaustreibung sind Zeichen der Vollmacht Jesu und damit zugleich Zeichen der Allmacht Gottes, die sich nun in seiner beginnenden Königsherrschaft Bahn bricht. Die programmatische Stelle hat einen sowohl abschließenden wie eröffnenden Charakter, denn sie deutet einerseits Jesus von Nazaret als geistbegabten, bevollmächtigten Sohn Gottes (vgl. Mk 1,1. 11) – somit als den von Israel erhofften Messias – und leitet andererseits zugleich über in die Erzählung über das Wirken Jesu.