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Ein Wiedersehen in Holiday City

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Als ich den Motor anließ, stieß der betagte Travelette eine schwarze Wolke aus und hinterließ auf der Pfütze unter dem Motorblock einen öligen Schimmer. Der Zustand der Karre bereitete mir schon seit einiger Zeit Kopfschmerzen, wir sollten so flott wie möglich unser Ziel erreichen.

»Keine goldenen Kuppeln mehr, keine Tornados, keine spirituellen Experimente«, sagte ich, während ich folgenlos eine rote Ampel überfuhr. »Wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren.«

»New York!«, rief es von der Rückbank wie aus einem Mund.

»Ja, genau: New York«, bestätigte ich, und die beiden begannen zu singen: »Start spreadin’ the news, I’m leaving today, I want to be a part of it: New York, New York!« Auf der Ladefläche des Pick-Up flatterten meine Kleider im Wind, und ich hoffte, dass sie bis zum Abend so weit trocken sein würden, dass ich nicht länger splitterfasernackt durch Amerika fahren musste. Taleesha hatte mir eine Jacke mit einer großen rosa Schleife umgehängt, damit ich nicht zu viel Aufsehen erregte, aber wahrscheinlich erregt ein Mann, der mit bloßem Oberkörper einen Pick-up steuert, im Mittleren Westen weniger Aufsehen als einer, der dabei eine rosa Jacke trägt.

Wir kamen an diesem Tag noch bis in die Nähe von Holiday City in Ohio, das klang so aufmunternd, dass ich entschied: genug für heute. Gleich am Ortsanfang lagen sich zwei Diners gegenüber, das eine hieß South Side Soda Shop und lag an der Südseite der Route 80, auf der anderen Straßenseite war Howie’s Diner. Wenn ich ein Schriftsteller wäre, der Geschichten einfach so erfindet, dann könnte ich mir jetzt alles Mögliche einfallen lassen. Ich könnte den Pick-up vor dem Soda Shop stoppen, dort wo schon zwei andere Wagen parkten, ich könnte Laurens seine inzwischen trockenen Kleider im Schutz des Wagens anziehen lassen und so tun, als ob er mit den Mädels den South Side Soda Shop betreten wollte. Oder ich könnte ihn das Gaspedal durchtreten und weiterfahren lassen bis, sagen wir: Elmira oder Ottokee. Als richtiger Schriftsteller wäre ich genauso frei in meinen Entscheidungen wie Laurens selbst es damals war: Lag es nicht ganz allein an ihm, was jetzt geschah? Das ist doch im ganzen Leben so, sage ich jetzt mal im Rückblick, heute, da ich älter bin als mein Opa je war, und die Reste des Zapaca-Rums sogar doppelt so alt. Man meint immer, man müsste, sollte, dabei kann man immer alles tun, was einem gerade einfällt. Ob dieser Laurens damals erst die Hose und dann das Hemd anzog oder umgekehrt? Oder ob er gar nackt die Straße überquerte und bei Howie’s gebackene Stierhoden bestellte? – und dass mir jetzt keiner einen Joke macht!

Aber ich bin kein Schriftsteller und ich muss wahrheitsgemäß berichten, was wirklich geschah, denn Laurens, frei in seiner Entscheidung, wendete den Wagen in der Ortsmitte und brauste zurück zu Howie’s Diner. Ich weiß heute nicht mehr wieso, aber ich hatte schon immer ein untrügliches Gespür für Gasthäuser, in denen einem etwas für sein Geld geboten wird. Auf dem Parkplatz vor Howie’s ließ ich den Wagen ausrollen und mir von den Mädels die Kleider reichen. Das Anziehen hinter dem Lenkrad erforderte einiges an körperlicher Tüchtigkeit, so dass mir die beiden helfen mussten, und ja, ich konnte eine gewisse Erregung dabei nicht verbergen, und nochmal ja, Dorothy ließ sich dabei zu kleinen Handgreiflichkeiten und derben Sprüchen hinreißen, was mich in meiner Meinung bestärkte, dass es sich um das wildeste brave Mädchen handelte, das jemals in einem Tornado vom Himmel gefallen war. Taleesha hatte ihr unterwegs in einem Anfall von schwesterlicher Vertrautheit erzählt, dass wir miteinander geschlafen hatten, und seitdem schaute mich Dorothy ihrerseits ganz unschwesterlich an.

Doch Howie’s Diner änderte alles, was über die Beziehung zwischen mir und Dorothy in irgendeiner Weise zu sagen gewesen wäre, von dem, was ich mir an diesem Tag vielleicht erhoffte, ganz zu schweigen. Das Gasthaus war gut besucht, an den meisten Tischen saßen Gäste – Männer, einzeln und in Gruppen, Paare, auch zwei Familien mit Kindern jeglichen Alters. Auch an der Bar standen ein paar Männer, die sich angeregt unterhielten. Der namengebende Howie war ein zierlicher Mann mit gepflegtem Oberlippenbärtchen, der die ganze Länge seiner Arme aufbieten musste, um an die Gläser im Regal zu langen, und der bei einer Kneipenschlägerei gewiss als erster hinter der Theke abtauchen würde. Wir hatten uns gerade an einen Tisch am Fenster gesetzt, von dem aus ich den Parkplatz und meinen Pick-up im Auge behalten konnte. (Habe ich schon erwähnt, dass ich die Flasche Zapaca-Rum aus dem Sturm gerettet hatte? Sie lag jetzt wohlverwahrt in meinem Rucksack unter der Rückbank.) Plötzlich löste sich ein Mann aus der Thekentruppe, der mir bereits durch seine ungewöhnlich große und magere Gestalt aufgefallen war, und setzte sich ohne Weiteres zu uns. Normalerweise saßen die Mädels immer nebeneinander und überließen mir die gegenüberliegende Tischseite, diesmal jedoch hatte sich Taleesha neben mich gesetzt, vielleicht wollte sie mich vor Dorothy beschützen, ich weiß es nicht. Der Fremde setzte sich folglich auf den einzigen freien Platz neben Dorothy, die so vertieft in die Speisekarte war, dass sie erst aufschaute, als ich schon das Wort ergriffen hatte.

»He, was soll das? Wer sind Sie, was wollen Sie?« - irgendetwas in der Art. Doch Dorothys Reaktion ließ mich augenblicklich verstummen. Sie fiel dem Langen um den Hals, küsste seine Stirn, seine Wangen, schließlich seinen Mund, und rief dazwischen immer wieder, atemlos: »Hunk! Mein Hunk! Mein Darling!« Während dieses überschwänglichen Gefühlsausbruchs beobachtete Howie ein wenig geistesabwesend die Szene, wobei er mit dem linken Zeigefinger auf Abenteuerreise in seiner Nase unterwegs war. Unsere Blicke trafen sich, und er rollte mit den Augen, ohne sich den Genuss zu versagen, den ihm der Zeigefinger bei der Penetration seiner Nase verschaffte.

Als Dorothy endlich mit einem tiefen, randvoll mit Glück gefüllten Seufzer (»Ach, mein Hunk!«) von ihm abgelassen hatte, nahm er seinen Hut ab, einen schmutzig-grauen und völlig verbeulten Hut, dessen Krempe sich in Auflösung befand und der am Kniff, dort wo er immer wieder zum Auf- und Absetzen angefasst wurde, ganz speckig war, und er sagte in die Runde: »Ja, da bin ich jetzt!«, gerade so, als hätten wir nichts sehnlicher erwartet als sein Erscheinen bei Howie’s in Holiday City. Dorothys Erwiderung war vorhersehbar, sie küsste ihn wieder ab, drückte sich an ihn und infizierte dabei ihr hübsches blaues Kleid mit einem beträchtlichen Teil des Staubs und des Schmutzes, der seinen einstmals grünen Overall und das karierte Flanellhemd bedeckte. Es sah gerade so aus, als hätte man ihn mit allem bekleidet, was eigentlich seine Zeit hinter sich hatte, wie man es mit einer Vogelscheuche machen würde, indem man sagte: Ach, für Hunk geht das noch.

Hunk war auch im Sitzen groß, was ihn dazu verleitete, immer den Kopf ein wenig einzuziehen, dabei die Schultern zu heben, die wie die zwei Enden eines umgedrehten Kleiderbügels unter dem Hemd hervorstachen. Hunk war dünn, fast dürr, und die Farbe seiner Haut bewegte sich irgendwo zwischen Grau und Gelb. Sein Gesicht war so unnatürlich lang wie es sein ganzer Körper war, beginnend in einer hohen glatten Stirn, unter der zwei kohlrabenschwarze Augen unergründlich auf die Welt blickten, gefolgt von einer schmalen, spitzen Nase, die geradewegs vom Gesicht abstand und mich an Pinocchio erinnerte (und mich in den Tagen unseres Zusammenseins dazu veranlasste, sie zu beobachten, ob sie wohl auch mal länger wurde oder schrumpfte). Den Mund umfassten die schmalsten Lippen, die ich je an einem Menschen gesehen hatte, und wenn sie sich öffneten, gaben sie den Blick frei auf ein wirres Gehege von Zähnen. Muss ich noch erwähnen, wie spitz sein Kinn war? Er schlug sich mit dem Hut auf das linke Bein, das nicht mehr unter den Tisch gepasst hatte, und fuhr sich mit der anderen Hand durch die gelben Haare, in denen die einzelnen Strohhalme nicht weiter auffielen. »Ja, hier bin ich!« wiederholte er, und das war in der Tat unbestreitbar.

»Das ist mein Hunk«, stellte Dorothy ihn vor, und dann, nach einem Augenblick voller Seligkeit, auf uns deutend, »und das ist Laurens und das ist Taleesha. Die beiden haben mich gerettet.«

»Danke«, sagte Hunk, als hätte ihm einer von uns beiden das Milchkännchen gereicht.

»Wie kommst du denn hierher?«, fragte Dorothy aufgeregt, und Hunk erwiderte: »Das Gleiche könnte ich dich fragen!«

»Ja, halt … hier … die …« antwortete Dorothy und zeigte auf uns beide. »Hast du denn schon was gegessen?«, wechselte sie das Thema und vertiefte sich wieder in die Speisekarte. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Familienvorstand zu geben. »Sie sind natürlich mein Gast«, sagte ich und zählte im Geist meine Dollars.

Wenn ich das richtig verstanden habe, war er zu der Zeit, als der Tornado wie ein Wirbelwind durchs Land fegte, in Atchison bei Doc Shicklegroover, »Hämorrhoiden, weißt du, eklig, kennst du?«, fragte er mich und schob eine Gabel voll Weißkrautsalat in seinen Mund. »Das juckt und juckt, zum Wahnsinnigwerden. Und immer mal wieder dieses Blut, kannst du dir das vorstellen?« Er spießte dabei mit seinen krummen Gabelzinken die Erbsen auf und ließ sie zwischen uns in der Luft schweben. »Na ja, ich hatte gerade meine Hosen runtergelassen und mich nach vorn gebeugt, damit Doc Shicklegroover ’ne bessere Sicht hat – isst du das nicht mehr, Darling?«, fragte er Dorothy, die ihr Besteck zur Seite gelegt hatte, und stach mit seiner Gabel in das letzte Stück Fleisch auf dem Teller des Mädchens, so dass noch ein wenig rotbrauner Fleischsaft herausfloss. »Und dann war der Doc weg, und mit ihm das halbe Haus. Gerade da, wo ich stand, hatte der Tornado die Vorderfront vom Haus abgerissen und zusammen mit dem Doc und dem Schreibtisch und dem grinsenden Skelett, das immer in der Ecke gestanden hat, und dem Schrank mit den Spritzen und so einfach weggeblasen.« Hunk blies mit vollen Backen und spitzen Lippen aus, um den wilden Wind nachzumachen, und ich konnte mir tatsächlich sehr anschaulich vorstellen, was da alles durch die Luft geflogen war.

Hunk setzte seine Erzählung fort, und Dorothy staunte ihn mit offenem Mund an. »Da habe ich mir schnell die Hosen hochgezogen und sehe doch, wie der Tornado gerade vor Hodgkins Grand Railroad Hotel & Bar Lounge anhält, als hätte er beim Blick über die Schulter bemerkt, dass er mich vergessen hat. Der Wirbel dreht auf, die Luft ist voller Dröhnen, er kommt zurück, zurück, zurück zu mir und – dann weiß ich nichts mehr. Doch, Moment! Erst kam Squirt vorbei, der Hund aus dem Barber Shop, wahrscheinlich weil er kleiner und leichter war, flog er schneller hinauf in den Wolkentrichter. Dann flog ich an General Denver vorbei, der hatte mit dem ganzen Gusseisen und dem Granit unter seinen Stiefeln natürlich nicht so viel Auftrieb. Irgendwo da oben sah ich dann das Harmonium aus der Shiloh Baptist Church auf mich zufliegen, und ob ihr’s glaubt oder nicht: Es spielte von selbst Onward, Christian Soldiers! Dann bekam ich einen Schlag gegen meinen Allerwertesten« – er griff sich dabei an den Kopf – »und das war’s!«

»Aber wie bist du bis hierher … ich meine: Wir sind hier in Ohio?« Dorothy sagte O-HAI-OOH und machte aus dem Namen eine lustige kleine Melodie. Doch Hunk schob nur die Kleiderbügel in seinen Schultern nach oben. »Das Wichtigste ist doch, dass wir uns wiederhaben.«

»Oh ja«, Dorothy strahlte und gab ihm einen Kuss auf die stoppelbärtige Wange. »Wir fahren nach New York«, sagte sie, und Hunk machte »Hmm, hmm.« Dann dachte er einen langen Moment nach, bis er das Ergebnis verkündete. »Ich kenne da niemand. Und dann gibt’s da ja auch keine Farm, ich glaube, die kommen ganz ohne Farmer aus.«

»Oh, du, da mach dir mal keine Gedanken«, plapperte Dorothy, »wir finden schon was. Ich hab’ da einen Onkel, bei dem können wir doch erst mal bleiben.«

»Noch’n Onkel?«, entfuhr es Hunk argwöhnisch.

»Nicht so einer wie Onkel Henry«, beeilte sich Dorothy den unausgesprochenen Einwand zu entkräften.

»Was ist mit Onkel Henry verkehrt?«, mischte ich mich ein, in der Hoffnung, vielleicht doch noch ein bisschen mehr über die Affäre Henry zu erfahren.

Dorothy presste die Lippen aufeinander und schaute Hunk unverwandt an. Der löste endlich seinen Blick und wandte sich uns zu. »Henry hat seine Hände überall, wo sie einfach nicht hingehören. Kommt sonntags aus der Kirche und nimmt die Kleine zum Spaziergang ins Maisfeld mit. Badet so gern mit ihr, wenn Tante Emily bei den Sisters of Mercy zum Patchworken ist. Lass mich, Dorothy, das muss jetzt gesagt werden.« Er schüttelte ihre Hand ab, die sie beschwichtigend auf seinen Arm gelegt hatte. »Wir sprechen das jetzt einmal aus, und dann denken wir nie wieder an ihn. Hat ihre Muschi geleckt, da hatte ich noch nicht gewagt, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, und sein Ding …« Da schoss Dorothys Hand vor und hielt ihm den Mund zu.

»Ist alles vergessen«, rief sie aufgebracht und in einem fast fröhlichen Singsang und schüttelte ihren Kopf mit geschlossenen Augen, »alles vergessen, alles vergessen. Jetzt gehöre ich nur dir, verstehst du, ich bin deine Dorothy, dein sauberes Mädchen. Alles vergessen.« Sie schaute uns an und nickte heftig. »Alles vergessen!« Das duldete keinen Widerspruch.

Wir fuhren ein Stück weiter, da gibt es hinter Holiday City ein kleines Wäldchen, dort haben wir übernachtet, die zwei Frauen vorne und Hunk und ich hinten auf der Ladefläche. Ich hatte noch Segeltuch, in das haben wir uns eingewickelt, ging schon, ich habe sogar geträumt, aber darüber will ich jetzt nicht reden.

Eine schräge Geschichte, die böse endet

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