Читать книгу Eine schräge Geschichte, die böse endet - Stefan G. Wolf - Страница 8
Es ist noch Kartoffelsalat da
ОглавлениеIn fünf Tagen sollten wir es bis New York City schaffen, und ich fürchtete die Fahrt als eine endlose Abfolge von Asphalt, braunen, gelben und grünen Landschaften in allen Schattierungen, Diners, die sich glichen wie ein Fried egg overeasy dem anderen. Aber es kam anders. Und vor allem war da ja auch noch Taleesha, die ab dem Moment, an dem uns zum ersten Mal die Morgensonne von vorne beschien, plapperte, sang, Kaugummi-Bubbles blies, sang und plapperte.
Ich hörte kaum zu, hing meinen Gedanken nach, manchmal auch laut, dann schlief sie ein, weil sie nicht verstand, was ich auf Deutsch oder Dänisch erzählte, und weil da draußen doch nur Asphalt und braune, gelbe und grüne Landschaften in allen Schattierungen vorbeizogen. Ich dachte darüber nach, was ich von Opa wirklich wusste, und was ich wusste, was er wusste. Hat er alles mit ins Grab genommen, sagte ich zu dem Little Tree, der am Innenspiegel hing. Der wackelte vor sich hin und duftete ungerührt nach Grünem Apfel. Es ist immer alles für immer hin, fuhr ich genauso ungerührt fort, dieser ganze Hirnkram, knips, aus, vorbei. Dabei hätte ich gerne gewusst, was Opa gewusst hatte, erlebt und gesehen und gefühlt und gehört. Wie war das, als er mit seinem Kindermädchen gebumst hatte? (Oder wie hat man wohl damals dazu gesagt, ich meine: 1914 in Masuren? Wahrscheinlich hat man gar nicht lang geredet, mir wäre das auch lieber gewesen.) Was hat er im Krieg gesehen, im ersten, im zweiten? Ich erinnerte mich dunkel an ebenso dunkle Familiengeschichten, da war irgendetwas mit Spionage oder Fahnenflucht. Oder war es dabei um meinen Vater gegangen, also meinen richtigen Vater, der war doch auch nicht mehr aufgetaucht? Ich hieb mit der flachen Hand aufs Lenkrad, verdammt! Ich hatte Zeit gehabt, ihn zu fragen, und was habe ich gemacht? Wir haben über Elvis, Kennedy und die diversen Hintern von Filmschauspielerinnen gesprochen und wir haben uns gestritten: Ich war für Horst Buchholz und Die Glorreichen Sieben, er für Jean-Paul Belmondo und Außer Atem. Ich war für Kirk Douglas und Spartacus, er für Marcello Mastroianni und Dolce Vita. Ich habe viel von ihm über Dramatik und Filmkunst gelernt, aber rein gar nichts über ihn. Nicht über Opa, über Oma, meinen Vater, seine Frau – du meine Güte: Gerade eben merkte ich, dass ich so gut wie nichts über meine Familie wusste! Jedenfalls nicht aus erster Hand. Ich konnte etwas über ihn lernen, wenn ich etwas von ihm lernte, aber dazu hätte ich nachdenken müssen, unsere Gespräche reflektieren. Aus. Vorbei. Für immer!
Heute ärgere ich mich, dass ich nie Tagebuch geführt habe, versuche mich in mein vergangenes Leben hineinzuversetzen, um festzuhalten, was es ausmachte. Aber, ach, man wird uns ja doch vergessen. Alles, was wir für bemerkenswert und wesentlich gehalten haben, wird mit der Zeit vergessen sein oder unwichtig erscheinen. Und wir können jetzt überhaupt noch nicht wissen, was man in Zukunft einmal bedeutend und wichtig nennen wird. Vielleicht wird es ja gar keinen Begriff von Bedeutsamkeit mehr geben. ›Was meinst du mit bedeutsam?‹ wird man fragen, mit den Schultern zucken und weitergehen.
Doch jetzt war erst mal damals, und damals bin ich in Denver dann doch nicht auf die 70, sondern auf die 76 gefahren, die später in die 80 übergeht, hoch nach Nebraska, weiter Richtung Iowa, kurz vor Des Moines noch mal Halt machen bei den Verwandten in Ole Crossing, dänische Blutsbande, noch mal Großtante Margret sehen, Onkel Jasper, Tante Mabel und so weiter. Die Leute in Earlham oder Dexter oder Winterset denken, dass Ole Crossing so heißt, weil hier eine alte Furt über den Middle Creek führt (Ole im Sinn von: Ol’ Man River), aber es war Ole Olsen aus Store Thorlund, der 1847 hier einen Schweinestall gebaut hat – erst einen Schweinestall, dann sein Wohnhaus, und nach dem ist die Furt durch den Middle Creek benannt.
Es ist Samstagabend in Ole Crossing und alle sind draußen unterwegs, Straße fegen, die Kirche mit Blümchen schmücken, Heu einbringen, Kleid von der Schneiderin holen, Kinder zum Baden einsammeln, einfach nur geschäftig sein, hin- und herlaufen, sich sehen lassen. »Hej, Arne, dejlig aften.« – »Ja, det kan du sige.« Worte, die hin- und herfliegen, tausendmal gesprochen, belanglos der Inhalt, dennoch wichtig. Jetzt aber: großes Hallo bei unserer Ankunft. »Wie war’s bei den Chicos?« – »Wir können aber auch ganz schön heiß hier oben.« – »Hast du Mabel ’nen Kaktus mitgebracht?« – »Nun mal her mit dem Tequila!« – »Treffen sich zwei Mexikaner beim Metzger …« – lauter solche Sachen, über die man zwischen all dem Händeschütteln und Schulterklopfen und Umarmen nur hinweggrinst. Bis zu dem Augenblick, wo Großtante Margret die Frage aller Fragen stellt: »Wo habt ihr denn Hänschen gelassen?«
Ich weiß bis heute nicht, welchen Teil meiner Erzählung sie geglaubt haben: Das mit dem Fallschirm, das mit dem lutherischen Pastor, der zufällig vorbeikam und Opa beerdigt hat, oder das mit seinen letzten Worten. »Hat er noch etwas gesagt?« – »Ja, doch, ich hielt ihn in den Armen, etwa so, und er schaute mich glücklich lächelnd an.« – »Und was hat er gesagt?« Mir fiel nichts Besseres ein als: »O Junge, wir sind dem Bertil noch einen Hahn schuldig, entrichte ihm den, und versäum es ja nicht.« – »Ja, so war er, treu und gewissenhaft bis zum Ende«, sagte Mabel und alle nickten, obwohl sie ihn erst wenige Wochen zuvor persönlich kennengelernt hatten.
Es wurde dann doch noch ein lustiger Samstagabend. Ich erzählte natürlich noch die Geschichte von der Grenze und der Zirkustruppe, »det er opfundet«, warf Onkel Jasper aufgebracht ein.
»Nein, so wahr ich hier sitze, es ist nichts erfunden«, entgegnete ich und war so angestachelt, dass ich beinahe die Sache mit den blutigen Händen zum Besten gegeben hätte. Noch bevor mir Taleesha ihren Ellbogen in die Rippen rammen konnte, setzte die Musik ein, jemand hatte Fidel und Banjo geholt und es wurde gesungen.
Morten kam rübergeschlendert, reckte vor mir die Brust raus und sagte: »Lass sie doch mal tanzen, Negerweiber können doch so gut tanzen, das wär’ doch ’n Spaß.«
»Frag sie doch selber!«, gab ich zurück.
Morten schaute nur aus den Augenwinkeln zu Taleesha hinüber, beugte sich zu mir herunter und flüsterte laut genug: »Und wie ist sie so?« Zum Glück legte jemand von hinten Morten die Hand auf die Schulter, »machst du mit?«, fragte er ihn, und Morten nickte und drehte ab.
»Nein, nein, kommt nicht in Frage«, sagte Margret später, »du schläfst nicht in dieser Kiste da.« Sie meinte den Wohnwagen, den ihr Neffe Jake aus Bevington uns bei unserem ersten Halt auf dem Weg in den Süden verkauft hatte. »Du schläfst im Haus, und die« – sie zeigte auf Taleesha –, »Brenda, Liebes, warum bringst du sie nicht zu der Hütte, wo die Erntehelfer immer schlafen« – und im gleichen Atemzug an mich gewandt: »Sie ist doch reinlich, oder?«
Ich hatte die Nase voll, aber Taleesha beruhigte mich: »Lass nur, ist schon gut, ich kenne das.«
»Ich war immer gut zu meinen Negern«, sagte Margret, die mitbekommen hatte, dass ich sauer war, »und Neil und Kirk durften immer mit ihnen spielen. Frag Yetty!« Sie zeigte auf eine alte Frau, die abseits unter einem Ahornbaum saß und an einer Flasche Cola nuckelte. Sie war die einzige schwarze Einwohnerin des Ortes und mit ihren einhundertundzwei Jahren hätte sie eine Menge Geschichten auf Lager haben können. »Wenn sie noch richtig im Kopf wäre, könnte sie dir erzählen, wie gut wir immer für alle gesorgt haben. Das ist nicht der Süden, wir sind hier in Iowa, und Großvater hat für die Union seinen linken Arm gegeben.«
Woher kommt das, dass man manchmal einfach das Falsche sagt oder tut, gar nicht böse gemeint, einfach so, ohne nachzudenken, und alles ist verdorben, und man mag sich nicht mehr im Spiegel ansehen und noch Jahre später quält einen die Scham, wann immer man an diesen Augenblick denkt. Und manchmal sagt und tut man genau das Richtige, das einzige, was angemessen ist, ehrlich, aufrichtig, und so sagte ich: »Nein, Taleesha bleibt bei mir.«
Taleesha schlief im Wohnwagen und ich auf der Rückbank des Pick-ups, so weit wollte ich dann doch nicht gehen, dass ich mit einem Negermädchen im selben Bett liege, sozusagen vor aller Augen. Auch in Iowa – ups! – brennen zuweilen Hütten.
Sonntag, Kirchgang. Das war wie zuhause in meiner Kindheit: leiernde Choräle (von einem Lied haben wir vierzehn Strophen gesungen!), gemurmelte Gebete, eine endlose Predigt (ich nahm sie als Buße für all meine Sünden der letzten Tage), Fürbitte für den Präsidenten, die Verworfenen dieser Welt und Peter Peterson, der sich vergangene Woche ein Bein und einige Rippen gebrochen hatte, als er seinen Zuchteber bändigen wollte. Auf den geistlichen Segen folgte der Segen der dänisch-amerikanischen Küche: riesige Hackbraten, in deren Innerem sich Hühnerleber, Käsewürfel, Lauchringe und ganze gekochte Eier verbargen, gegrillte Schweinebäuche, geräucherter Speck, Hühnerschenkel, luftgetrocknete Hartwürste, buttertriefende Maiskolben, Berge von Kartoffelsalat (deren Herstellung und Zutaten ein unerschöpfliches Gesprächsthema während des Essens waren, wie wahrscheinlich schon seit hundert Jahren), verschiedene Weißkrautsalate, mit Käse überbackener Blumenkohlauflauf, schließlich mehrere Lagkage, zwischen deren Schichten sich die Beerenernte des gesamten Countys drängte (was man aber erst erkennen konnte, wenn man sich durch die Schlagsahne gearbeitet hatte), dazu Hefezöpfe, gefüllt mit Pflaumenmus. Ständig kam eine der Frauen vorbei, um eines ihrer Werke anzupreisen und zur Überprüfung der Werthaltigkeit ihrer Worte auch gleich auf den Teller zu häufen. Nach den Wochen schmaler Kost befürchtete ich das Schlimmste für meine Verdauungsorgane, doch halt!: dafür gab es ja den Akvavit!
Wir müssen morgen früh los, entschuldigte ich uns am frühen Abend, und wir umarmten uns und sagten »Ses snart!« und »See you!« und »Tak for gæstfriheden!« und »Danke für alles!«, und dann zogen wir uns in den Wohnwagen zurück. Lass uns gleich abhauen! schlug ich vor, doch Taleesha sagte etwas von Höflichkeit und Müdigkeit und Dunkelheit, und so legte ich mich im Pick-up schlafen und so war es auch gut.
Der Abschied war versöhnlich, wir bekamen noch einen Kaffee, und Großtante Margret belud den Pick-up eigenhändig mit Bergen von Plastikbehältern, bis zum Rand gefüllt mit Schinken und Würsten, mit Kartoffelsalat und Roter Grütze, damit wir nicht schon am ersten Tag unserer Weiterreise verhungerten. »Hilsen mit hjem«, bat mich Margret, und ich versprach, beim nächsten Besuch eine Tüte mit Heimaterde mitzubringen.