Читать книгу Eine schräge Geschichte, die böse endet - Stefan G. Wolf - Страница 11

New York! New York!

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»Weißt du denn, wo dein Onkel wohnt, ich meine, der andere?«, fragte ich nach hinten, als wir am nächsten Morgen weiter ostwärts fuhren. Hunk saß neben mir und klaubte Kletten aus seiner Hose, die beiden Damen wie üblich hinten.

»So ein bisschen«, antwortete Dorothy unbestimmt.

»Und?«, bohrte ich weiter.

»Das muss Yellow Brick Road heißen, oder die Straße ist mit gelben Ziegelsteinen gepflastert, weiß nicht, eins von beiden. Tante Emily hat von ihm erzählt, er ist ihr Stiefbruder, aber Stiefbruder ist nichts Schlimmes, das ist ganz normal, viele Leute haben Stief«, beeilte sie sich anzufügen.

»Und wie heißt er?«

»Onkel Ozzy. Er ist Zauberer, also natürlich kein richtiger Zauberer wie im Märchen.« Dorothy kicherte ihr Kleinmädchen-Kichern, das mit den Zöpfen. »Er tritt auf«, sagte sie, und es klang gerade so, als hätte sie nicht den blassesten Dunst, was das heißen könnte: auftreten.

»Du kannst ja vielleicht seine Assistentin werden«, schlug Taleesha vor. »Viele Zauberer haben Assistentinnen, und die meisten sind noch nicht mal so hübsch wie du!«

»Was macht denn ’ne Sistentin?«, fragte Dorothy und kaute auf der Unterlippe.

»Eine As-sistentin, also, die hilft dem anderen, also dem Chef oder wem sie halt assistiert.«

»Ich glaube, Onkel Ozzy braucht keine As-sistentin, der braucht niemanden, der ihm beim Zaubern hilft«, beeilte sich Dorothy um Klarstellung.

Irgendwo war ich falsch abgebogen und fand mich irgendwann, weil ich abkürzen wollte, auf Nebenstraßen von Nebenstraßen wieder. Nach den endlosen, menschenleeren Weiten in Gelb-Braun-Grün war die Fahrt durch die Appalachen die reinste Achterbahnfahrt, na ja, vielleicht auch eine Geisterbahnfahrt, wenn ich an die Typen in den Diners, Tankstellen und Cafés denke. In der letzten Nacht vor New York haben wir dann in einem Motel übernachtet, damit wir wenigstens sauber geduscht in der Stadt ankamen. Ich war ja der einzige, der in den vergangenen Tagen Wasserberührung gehabt hatte, und das nur wegen dieser Folge-dem-Rabbi-Geschichte.

Das Motel in der Nähe von Hemlock Glen nannte sich Grandview Comfort Inn Suites, Grandview weil die riesigen alten Eiben, die ihre Zweige bis in die Fenster streckten und für 24/7 Dämmerung sorgten, den Ausblick auf das Zementwerk im Tal gnädig verbargen, Comfort, weil jedes Zimmer über einen Kunstledersessel unbestimmter Farbe verfügte, Inn, weil in der Anmeldung ein mannshoher Automat Käsesandwichs, Snickers und Root Beer bereithielt, und Suites, weil jedes Zimmer eine Verbindungstür zu den beiden Nachbarzimmern besaß, so dass man, wenn man bereit war, alle Zimmer zu buchen, eine Wohnfläche zur Verfügung hatte, die nahe an die der Präsidentensuite im Waldorf Astoria heranreichte.

Die alte Dame an der Anmeldung war nett, sie nahm wirklich Anteil am Leben ihrer Gäste, fragte nach dem Woher und Wohin, den verwandtschaftlichen Banden, die uns aneinander schmiedeten, womit wir unseren Lebensunterhalt verdienten und welcher Konfession wir anhingen. Und zu jeder unserer Antworten wusste sie ein Erlebnis, eine Beurteilung oder eine Lebensweisheit beizutragen. Dabei verband sie überraschend tiefgründige Allgemeinbildung mit hanebüchenen Aussagen. »Ah, Dänemark«, sagte sie, »da habt ihr doch diesen Hamlet: Sein oder Nichtsein …« Ich war einigermaßen erstaunt, bis sie mich fragte: »Und, hat er sich schon entschieden?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, stellte sie Hunk in Sachen Mähdrescher auf die Probe: »Gleaner, John Deere oder Case IH? Na ja, so was wie Hangausgleich braucht ihr in Kansas ja nicht, da ist ja alles so flach wie das Fräuleinchen hier«, und sie kniff Dorothy in die Wange, nur um im selben Atemzug Taleesha um ihre Stimme zu beneiden: »Schwarze Baptistenfrauen haben die schönsten Stimmen«, stellte sie fest. Doch dann sang sie selbst mit ihrer dünnen, klirrenden Altweiber-Stimme: »Ring the bells of heaven, there is joy today.«

Mit der Zimmerverteilung hatte sie ihre liebe Not: Sie konnte ja wohl kaum zulassen, dass wir Männer mit je einer der Frauen ein Zimmer teilten (in welcher Kombination auch immer), noch konnte sie es über sich bringen, dass Taleesha und Dorothy die Nacht gemeinsam verbrachten, weil das bedeutete, dass wir Männer unter einer Bettdecke stecken würden. Das war wohl ihr Schicksal: Immer musste sie zwischen zwei gleich schlechten Alternativen entscheiden, das machte sie völlig fertig. Überließ sie ihrer Stieftochter sonntags die Anmeldung, konnte sie sicher sein, dass einige Zehn-Dollarscheine in die falsche Tasche wanderten; sie hatte sogar den Verdacht, dass noch der eine oder andere Zehner dazukam, wenn sie alleinreisenden Männern das Zimmer und seine Annehmlichkeiten zeigte. Kümmerte sie sich selbst um die Gäste, konnte sie aber ihren Enkel nicht sehen. Oder: Ließ sie die Leuchtreklame an der Straße nachts ihre Botschaft verkünden

The shades of the yew

guard your sleep in Grandview

kostete sie das genau soviel Stromgeld, wie sie verdiente, wenn die Lichter noch ein, zwei Gäste anzogen. So war das immer, und so wie ich sie einschätzte, wusste sie sogar, dass man das Dilemma nennt.

»Wissen Sie was, Rosemary«, sagte ich, um der Rumdruckserei ein Ende zu machen, »wir nehmen nur ein Zimmer und passen alle schön aufeinander auf«. Das hatte sie jetzt davon, und für uns war ein Kingsize-Bett allemal ausreichend. Hunk und Dorothy waren zusammen so breit wie jeder einzelne von uns beiden anderen, und so wickelten wir uns nach dem Duschen in unsere Badetücher, legten die Mädels in die Mitte und wir Männer sicherten das Lager rechts und links.

Als ich morgens aufwachte, lagen alle noch so da, wie sie sich abends gebettet hatten, außer Dorothy. Sie war nach unten vom Bett gerutscht und hatte gerade ihr Badetuch fallen lassen, als ich die Augen öffnete. Sie war bemüht, kein Geräusch zu machen, und ich beschloss, es ihr gleichzutun, um den Anblick niemals zu vergessen, dieses Zwielicht aus Herbstnebel, Sonnenaufgang und Eibendickicht, das einen Streifen Glanz auf ihren jugendlichen Körper und auf ihr reizendes Gesicht zauberte, auf ihre, ja, verdammt noch mal, wenn es doch so war: rosigen Wangen, ihre wunderschön geschwungenen Lippen, ihre glatte hohe Stirn, hinter der sie ganz kindlich vertieft war in das, was sie tat. Sie schaute an sich hinunter, wiegte sich dabei in der Hüfte, und sah plötzlich zum Bett herüber, da trafen sich unsere Blicke. Sie hielt einen Moment inne, für den Bruchteil einer Sekunde aus ihren Gedanken gerissen und erschrocken, dann drehte sie sich mir zu, breitete die Arme aus, lächelte fast unmerklich und verschwand im Bad.

Als wir uns New York näherten, so etwa nach den letzten Hügeln vor Roxbury, wurde der Verkehr dichter und die Bebauung ebenfalls. »He, Leute«, sagte ich, »wir machen’s so: Ich habe keine Lust mit der Karre durch New York zu kreuzen, außerdem brauche ich das Geld, das ich noch dafür kriegen kann, so lange die Kiste überhaupt noch einen Stoffwechsel hat. Ich verkaufe den Wagen, bevor wir in die Stadt reinfahren, und wir nehmen dann den Bus.« Alle fügten sich in ihr Schicksal, und ich glaube, sie waren viel zu sehr mit ihrer ferneren Zukunft beschäftigt, als dass sie über solche naheliegenden praktischen Dinge nachdenken wollten.

Für den Wagen bekam ich in Hackensack dreihundert Dollar. Vom Ortsschild an (Hackensack, pop. 32,127 – A City In Motion) konnte ich mich vier Blocks lang vor Lachen nicht halten: Hackensack, wie bescheuert klang das denn! Da wusste ich noch nicht, dass der Autohändler, der die Karre mit verkniffener Mine begutachtete und jedes Stäubchen auf dem Blech in Abzug brachte, Walter John Sackenhack hieß. Trusted Cars and a Trusted Name: Sackenhack in Hackensack.

Von Hackensack ist es nur noch ein Katzensprung über den Hudson hinein ins pralle Menschenleben New Yorks. Wir stiegen am Grand Central aus, und ich folgte den anderen wie ein herrenloser Hund, als sie wie besoffen durch die Straßen torkelten, immer mit dem Kopf im Nacken und Aahs und Oohs und Guck-mal-das und He!-Habt-ihr-gesehen? Irgendwann war ich’s leid. »Leute, macht ihr allein weiter, wir treffen uns in zwei Stunden genau hier, könnt ihr euch das merken? Broadway« – ich zeigte die Straße hinauf – »Canal Street« – ich bewegte die Arme von rechts nach links. »Genau hier! Habt ihr verstanden?« Alle nickten.

Und was soll ich sagen? Sie waren pünktlich alle wieder am vereinbarten Treffpunkt. »Prima!«, lobte ich, »erste Aufgabe bestanden«. Gemeinsam schlenderten wir nach Süden, bogen irgendwo Richtung Hudson ab und suchten uns ein Diner, denn es war schon später Nachmittag. Inmitten all der Radiogeschäfte und -reparaturläden auf der Cortlandt Street fanden wir einen Deli, der Kosher Knish, Lachsbagel, Corned Beef-Pastrami-Sandwich mit sauren Gürkchen und solche Sachen anbot. »Was ist denn Knockwurst?«, fragte Dorothy, »und Kreplach Soup?«, fragte Hunk. »Ich weiß nicht«, sagte ich, »bestellt’s, dann seht ihr’s, oder esst, was ihr kennt.«

Für den Abend hatte jeder einen anderen Plan: Dorothy wollte unbedingt ins Kino, Hunk auf das Empire State Building und Taleesha hatte einen Jazz Club gefunden, wo sie SCHON DIREKT HEUTE ABEND vorsingen sollte. Ich hatte mittlerweile herausgefunden, dass es tatsächlich eine Yellow Brick Road gab.

»Taleesha muss wissen, was sie tut, aber ihr zwei solltet euch in die Bahn setzen und nach Northport gondeln, das ist auf Long Island und da ist nämlich diese Straße, in der Onkel Ozzy wohnen soll. Je früher, umso besser«, und ich dachte: das gilt für Erfolg wie für Enttäuschung.

»Und du?«, fragten alle wie aus einem Mund.

»Ich werde sehen, dass ich noch heute ein Schiff finde, dass einen Seemann wie mich braucht, um nach Europa zurückzuschippern.«

Waren wir Freunde? Keine Ahnung, wir hatten wahrscheinlich nicht ausreichend Gelegenheit gehabt, das auszuprobieren, obgleich wir uns ja nah genug gekommen waren (der eine mehr, der andere weniger). Taleesha, der Opa und ich, das war die eine Geschichte, Dorothy, vom Winde verweht, und ihr seltsamer Lover, das war eine andere. Und alle hatten wir den Anfang eines langen Fadens in der Hand. Irgendwo dort, ein paar Handbreit oder ein paar Armlängen weiter mochten sich die Fäden verwirren oder es wartete jemand mit einer scharfen Schere. Vielleicht war es aber auch dem einen oder anderen vergönnt, Hand über Hand die Spule abzuwickeln, bis der Faden auf natürliche Weise aufgebraucht war.

Ob wir uns noch mal wiedersehen, fragte ausgerechnet Hunk, dem ich so viel Empfindsamkeit und Weitblick gar nicht zugetraut hätte. Niemand antwortete darauf sofort. Nach einer Weile sagte ich: »Ok, so machen wir’s! Hier, genau hier, und zwar am selben Tag in … wie vielen Jahren?«

»Fünf«, rief Dorothy in die Runde, aber Taleesha gab zu bedenken, dass wir das wohl nicht schaffen würden, »ich meine, Laurens muss ja extra übers Meer kommen, und in fünf Jahren ist ja wahrscheinlich auch noch nicht so viel passiert.«

Mein Blick fiel auf die Menükarte vor uns auf dem Tisch. 40 Jahre Jaffah Kosher Deli stand oben drauf. »Was haltet ihr von vierzig Jahren? Mit Kindern, Gehhilfe und falschen Zähnen!« Alle lachten. »Ja, so machen wir’s, aber dann schon zum Frühstück, damit wir genügend Zeit haben«, – »ja, ja zum Frühstück, so halb neun, neun, am 11. September 2001«, (»du meine Güte: geht das denn überhaupt, ich meine das mit den Zweitausend?«, gab Dorothy zu bedenken), »genau hier in der Cortlandt Street 17. Das wird bestimmt ein Mordsspaß!«.

Eine schräge Geschichte, die böse endet

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