Читать книгу Eine schräge Geschichte, die böse endet - Stefan G. Wolf - Страница 7
Jetzt ist er weg
ОглавлениеJetzt war hier unten alles erledigt, eine Nacht noch, dann würden wir uns auf den Weg machen. On the Road Again, diesmal ich hinterm Lenkrad. King of the Road. Abschied von Opa, und ich ahnte, dass es diesmal für sehr lange sein würde.
In der Nacht schlief jeder auf seiner Seite, und als ich aufwachte, war Taleesha schon angezogen und hatte einen Becher Kaffee in der Hand. Ich stützte mich auf den Ellbogen, ließ die Jalousie am rückwärtigen Fenster hochschnellen und erschrak. Ganz deutlich waren dort Opas Hände auf der Scheibe zu sehen, so wie das aussieht, wenn Kinder mit Fingerfarben die Kindergartenfenster dekorieren, Handballen, fünf Finger, vom Daumen nur das vordere Glied, schräg zu den anderen vier. Opas Hände, grau-braun und rot. Jetzt erinnerte ich mich: Da war das Kaninchen gewesen, das hatte er geschossen, und nachdem er es ausgenommen und ihm das Fell über die Ohren gezogen hatte, war er gestolpert und hatte sich mit beiden Händen an der Scheibe abgestützt. Opas Hände, grau-braun und rot.
»Was machst du?«, fragte Taleesha, als ich mit einem Eimer loszog, ein Slalom um übermannshohe Kakteen und überalterte Wohnwagen, um am Waschhäuschen des Coyote Howl Trailer Parks Wasser zu holen.
»Nach was sieht’s aus?«, fragte ich zurück. Als ich wieder zum Wagen kam, hatte auch sie Opas Hände entdeckt. »Kein Gruß aus dem Jenseits«, beruhigte ich sie und erinnerte sie an den Vorfall zwei Tage zuvor.
»Aber wir haben das gestern nicht gesehen«, wandte sie ein.
»Weil wir müde waren«, gab ich zurück, »und wir haben auch die Jalousie nicht hochgemacht.« Ich schüttete schwallweise das Wasser über die Rückfront und Opas Hände verliefen sich über die Karosserie des Wohnwagens.
Taleesha und ich, wir beide hatten ein gemeinsames Ziel, deshalb verschwendeten wir auch nicht mehr viele Worte und machten uns auf den Weg. Ich hängte den Wohnwagen an den Travelette und wir zuckelten los. Wir wollten beide nach New York, das hatten wir gestern Abend beschlossen. Taleesha träumte, warum sollte sie nicht? Jetzt hatte sie ja fast nichts mehr als diesen Traum, in dem sie sich in New York sah, auf einer Bühne, gern auch Broadway, singend, tanzend, vom Beifall umtost. Oh doch, sie konnte singen – I’m sorry, Paper Roses, Blue Bayou sang sie, ein wenig kehlig, aber angenehm, mit warmem Timbre. Wo hast du …? wollte ich fragen, aber sie kam mir zuvor. »Ich singe, solange ich denken kann, du weißt, alle schwarzen Mädchen fangen im Kirchenchor mit dem Singen an.« Und sie begann wieder: Precious Lord, Take My Hands.
Ich hatte Taleesha versprochen, so weit wie möglich nach Norden zu fahren, bevor wir Richtung Ostküste abbogen, denn ein schwarzes Mädchen und ein weißer Mann auf dem Weg durch die Südstaaten, das konnte für beide böse enden. Ich hatte ein verblasstes Kartenblatt vor meinem geistigen Auge, wollte über Phoenix, Flagstaff und Albuquerque Denver ansteuern, von wo aus der Highway Nr. 70 ziemlich geradewegs nach Osten führt.
Am ersten Tag kamen wir nur bis Holbrook, ich war es nicht gewohnt, so lange Strecken zu fahren, muss ich zugeben, also stellten wir den Wohnwagen zwischen dem Puerco River und den Eisenbahnschienen in einem Gebüsch ab. Wir hatten unterwegs ein paar Donuts gegessen, jetzt holten wir das Bier aus dem Kühlschrank und hingen einfach nur rum, dösten, wechselten ein paar Sätze, alberten, bedauerten Opa (oder Johnny, wie Taleesha sagte) und dösten wieder ein. Irgendwann wurde es kühl, wir wechselten nach drinnen, hörten Radio Phoenix (Where The Valley Comes To Talk) und schliefen schließlich auf dem Klappbett ein.
Als ich wieder erwachte, war Taleesha schon angezogen und hatte einen Becher Kaffee in der Hand. Ich stützte mich auf den Ellbogen, ließ die Jalousie am rückwärtigen Fenster hochschnellen und erschrak. Ganz deutlich waren dort Opas Hände auf der Scheibe zu sehen, grau-braun und rot, wie die Abdrücke zweier mit Fingerfarben angemalten Hände. Ich sprang aus dem Bett und fiel fast mit der Tür nach draußen. Wir hatten uns seit gestern früh offensichtlich keinen Inch von unserem alten Stellplatz gerührt, der Wohnwagen stand abgekoppelt neben dem Pick-up zwischen den blöden Kakteen des Coyote Howl Parks. »Ganz ruhig, Schätzchen«, raunte ich Taleesha zu, als gelte es, eine Klapperschlange nicht im Schlaf zu stören.
»Das ist nicht Holbrook«, sagte sie nur tonlos, glücklicherweise keine Spur von Hysterie.
»Nein, das ist definitiv nicht Holbrook, absolutely positively not. Er will uns etwas sagen.«
Taleesha blickte nach oben, in das strahlende Blau des Himmels, während ich nur in die unendlich eintönigen Fernen der Sonora-Wüste schaute. »Du weißt doch auch, dass wir gestern Morgen von hier losgefahren sind, oder?«
»Ich glaube schon«, antwortete ich, »andererseits …«
Ich sah es Taleesha an, dass sie versuchte, dem Ganzen einen Sinn abzukämpfen, doch es kam nichts mehr von ihrer Seite. Also zog ich wieder los, um Wasser zu holen und den Dreck abzuwaschen. Der war schließlich ganz von dieser Welt. Wieder koppelten wir den Trailer an den Pick-up und zockelten nach Norden – Ajo, Casa Grande, Phoenix. In Camp Verde nahmen wir wieder Donuts auf, und der pickelige Highschool-Jüngling hinter dem Tresen sah uns an, als hätte er uns schon einmal gesehen. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich ihn. Taleesha stieß mir in die Seite, aber mich ritt der Teufel.
»Ah, Sir, keine Ahnung …«, stotterte der Junge.
»Keine Ahnung von was?«
»Ich hab’ nur gedacht, ich hätte Sie schon mal gestern …« Er fuhr mit dem Zeigefinger durch die Luft, rechts-links, rechts-links. Genau, dachte ich, da hast du vollkommen Recht.
»Gibt’s wahrscheinlich nicht so häufig hier«, bohrte ich weiter, »ein blonder Kerl mit dänischem Akzent und ein schwarzes Mädchen von solcher Schönheit, wie Salomo sie von der Königin von Saba rühmt.«
»Nein, Sir«, sagte der Junge, und fühlte sich nach meiner Rede befugt, Taleeshas Brüste ausgiebig zu begutachten, »Salomo kenne ich hier keinen.«
Wir fuhren erneut nur bis Holbrook und stellten den Wohnwagen wieder zwischen dem Puerco River und den Eisenbahnschienen in einem Gebüsch ab. Wir änderten nichts, machten dasselbe wie am Tag zuvor, bis ich sagte: »Normalerweise passiert ja in allen Geschichten so etwas dreimal, dann kommt die Erlösung oder die Katastrophe, je nachdem, ob es darum geht, dass der Held standhaft bleibt oder dass er dreimal Gelegenheit hatte, die Handlung zum Guten zu wenden.«
Taleesha stand auf, kam zu mir herüber, zog mich aus meinem Hocker hoch und führte mich zum Wohnwagen. »Ich will aber nicht dreimal denselben Scheißhorror erleben, Laury, lass es uns jetzt ändern!«
Niemals hätte ich gewagt, sie unter diesem Vorwand rumzukriegen. Aber sie durfte das, natürlich, so war das damals. Ich hatte ja bisher nur Annemarie kennengelernt, und die hat mir nach unserem zweiten Mal hinter dem Fahrradschuppen der Uni den Laufpass gegeben, irgendetwas muss ich verkehrt gemacht haben. An Mette dachte ich in dem Moment gar nicht, ich weiß nicht wieso, aber Mette war wie ausgelöscht in meinem Kopf, und es sollte noch Monate dauern, bis mir Mette wieder einfiel.
Bei Taleesha aber war alles gut, es war, als wäre es gleichzeitig das erste und das hundertste Mal, aufregend neu und doch ohne diese Prüfungsangst, die Jungs unter euch wissen, was ich meine. Ich dachte – also bitte, das war 1961 und ich habe mir damals nichts dabei denken können – ich dachte: das zweite Mädchen, und dann so eine (ich denke, in meinem inneren Monolog sagte ich wirklich: so eine) mit dieser exotisch schwarzen Haut und den tollen Brüsten und dann der Hintern, Entschuldigung, aber das ist Originalton 60er und ich will nichts beschönigen.
Zehn Minuten später, als ich mich erholt hatte, bemerkte ich irgendwie, dass Taleesha nicht genauso zufrieden war wie ich, aber mit dieser Erkenntnis wusste ich damals nichts anzufangen. »Wir könnten jetzt gleich weiterfahren«, schlug sie vor, »nur um diesmal wirklich alles anders zu machen«.
»Mitten in der Nacht?«, wandte ich ein, »das geht nicht, das ist mir zu dunkel«. Wie meistens nachts.
Sie lachte. »Dann schlafen wir halt«, sagte sie, und das war wahrscheinlich das Beste, was wir tun konnten.
Als ich erneut an diesem Ort erwachte, hoffte ich inständig, dass es diesmal wirklich dieser Ort war, und trotzdem beugte ich mich zuerst zu Taleesha hinüber, um ihr einen Kuss auf die schlafenden Lippen zu hauchen. Doch sie drehte den Kopf zur Seite, als ob sie die Annäherung meines nachtfaulen Atems schon geahnt hätte. Ersatzweise ließ ich meine Hand unter der Decke nach unten wandern, aber da war sie schon wach und schob mich weg. »Lass das!«, fauchte sie leise, »keine Chance, was war, war, und jetzt ist es, wie es ist. Hast du denn überhaupt schon nachgesehen?« Mit einer nachdrücklichen Kopfbewegung deutete sie auf das rückwärtige Fenster. Ich stieg über sie hinweg aus dem Klappbett und öffnete die Tür. Da war die Eisenbahnlinie, auf der anderen Seite der Rio Puerco, um uns Büsche und Sträucher. Keine Kakteen. Und keine Fingerabdrücke auf der Scheibe. Taleesha hatte sich in die Bettdecke gewickelt, die sie fest an Brust und Bauch drückte. »Er ist weg«, sagte sie leise.