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Taleesha auf Coke

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Taleesha fand ich schließlich dort, wo sich die State Route Nr. 86 gabelt und dabei die Nr. 85 nach Süden entlässt. Sie saß im Schneidersitz am Straßenrand, hatte eine leere Cola-Flasche in der Hand und starrte auf den Liquor Store auf der anderen Straßenseite. »Mann, einhundertsiebenundsechzig Einwohner, aber ein Schnapsladen!«, sagte ich, als ich mich neben sie setzte.

»Die haben auch Cola und Sprite«, gab sie mir zur Antwort. Wir schwiegen, während die kalte Wüstenluft, die immer noch beständig aus dem Norden blies, unsere Nackenhaare aufstellte. Ein paar Knöpfe ihrer Bluse hatten ihr Loch nicht gefunden, und ich genoss es, bis ich vor meinem geistigen Auge sah, wie Opas Mund Taleeshas Brustwarzen umschloss, und ich wusste, warum sie ihn und nicht mich gewählt hatte. »Und Rice Krispies und Pretzels und Fritos Corn Chips«, ergänzte sie die Angebotspalette des Spritladens. Sie schaute mich traurig an, so dass ich mich entschloss, noch nicht über das Unvermeidliche zu reden. Vielleicht wusste sie es ja auch schon, wegen Frauen, Hormone, siebter Sinn, irgendsoetwas. Ich nahm ihr die Cola-Flasche aus der Hand und roch daran, aber ich konnte nichts entdecken außer einem süßlichen Aroma von Koffein-Citrat, Karamell und Kokablatt-Extrakt. »Und Marshmallows«, sagte sie, dabei kam ihre Stimme mit dem Wüstenwind herangeweht und die Silben klangen wie in Daunen gepackt.

»Ich nehm’ das Gleiche, was du hattest«, antwortete ich, aber sie hob nur ihre leere Flasche und schwenkte sie ein paarmal hin und her, während sie eine rosafarbene Kaugummiblase platzen ließ. »Und Wrigley’s.«

Ich versuchte es mit einer Runde Wer-weiß-denn-sowas. »Wusstest du schon, warum Why Why heißt?«

»Why?«, fragte sie ohne Zögern und Nachdenken.

»Deswegen!« antwortete ich und zeigte auf die beiden Straßen, die rechts und links von uns auseinanderstrebten. »Ursprünglich hieß der Ort Y, weil hier die State Routes Nr. 85« (ich zeigte nach rechts) »und Nr. 86« (ich zeigte nach links) »in einer Y-Form auseinandergehen. Oder zusammentreffen, von wo aus man das halt sehen will. Aber es gab im Staat Arizona ein Gesetz, das vorschrieb, dass Ortsnamen mindestens aus drei Buchstaben bestehen müssen. Und so entschieden sich die Leute für den Namen Why, was ja genauso ausgesprochen wird wie der Buchstabe Y. ¿Entiendes?«

»Hm«, brummelte sie, »verstehe ich vollkommen.« Dann nickte sie ein paar Mal und noch ein paar Mal zuviel. »Macht Sinn.«

Ich müsste hier mehrere Zeilen leer lassen, so lange haben wir unser Schweigen genossen. Die Sterne am nachtschwarzen Himmel schleuderten ihr kaltes Feuer auf uns herunter und der Dreiviertelmond, der hinter San Luis aufgegangen war, lächelte verlegen.

»Und weißt du, warum Arizona Arizona heißt?« Es war Taleeshas Runde.

Ich dachte immerhin einige Sekunden nach, bevor ich aufgab. »Sag, warum?«

Taleesha richtete sich ein wenig auf und machte irgendwie einen wacheren Eindruck. »Also«, begann sie, »ich habe zwei Erklärungen: Es könnte aus der Sprache der Tohono O’Odham kommen, wo Ali Sonak kleine Quelle bedeutet.«

»Dann müsste es aber irgendwas wie Alisona heißen«, gab ich zu bedenken.

»Gut mitgedacht!«, lobte sie mich, »und deswegen gibt es ja auch eine zweite These, dass nämlich baskische Einwanderer das Gebiet Aritz Ona genannt haben, das heißt gute Eiche.«

»Was du alles weißt«, staunte ich sie an.

»Zufall«, gab sie zu, »und American Guide Series: Arizona, the Grand Canyon State, ich hab’ vorhin drin geblättert, als ich auf« – und hier zögerte sie für einen winzigen Wimpernschlag – »auf euch gewartet habe.«

Das alles ist jetzt fast vierzig Jahre her, aber ich habe in manchen Nächten immer noch den Geruch ihrer Haut in der Nase, eine Kopfnote von Schweiß und Avons Unforgettable, eine Herznote von frischem Heu und Staub mit einem Tröpfchen Cola und einem Hauch Tabak. »Du musst doch nicht im Auto schlafen«, sagte sie und hielt die Tür des Wohnwagens auf. Das war bisher ihr Wohnwagen gewesen, Opas und Taleeshas, meine ich, und ich hatte mich jede Nacht auf der Rückbank des Pick-ups zusammengerollt. Manchmal, wenn ich noch mal draußen war, weil ich mich erleichtern wollte oder noch eine rauchen, dann hörte ich gedämpfte Geräusche, die mich neidisch machten. Wir hatten Taleesha am Lake El Dorado aufgesammelt, es hatte zwei Tage lang geregnet und sie sah zum Erbarmen aus. Wir überließen ihr den Wohnwagen und quetschten uns selbst in den Pick-up, aber schon am nächsten Tag ergab es sich irgendwie, dass sie mit Opa das Bett teilte. Opa hatte es drauf, schon immer. Er war immerhin der Kerl, der sein Kindermädchen geschwängert hatte, also wohlgemerkt: sein eigenes, das war von da an meine Oma, so ging das los. Und selbst jetzt, zusammen mit Taleesha im Klappbett, löffelchenweise, respektierte ich Opa und gestattete mir keine schlechten Gedanken. Ich hörte und spürte, dass das Mädchen leise weinte, und ich genoss ihre Wärme und Nähe. Dann schliefen wir ein. Keine Träume.

Taleesha saß auf dem Campingstuhl vor dem Wohnwagen, als ich herauskam. Ich setzte mich auf die Stufen des Trailers und beide begrüßten wir den neuen Tag wie aus einem Mund: »Und jetzt?«

Keiner wusste darauf eine Antwort. Sie warf mir die Packung Winston zu und ich steckte mir eine an. Eigentlich rauchte ich nur gelegentlich abends, aber ich wollte Taleesha die unverbindliche gemeinschaftsstiftende Wirkung der gemeinsamen Zigarette nicht abschlagen. Nach ein paar Zügen war mein Kopf klar, und mir fiel ein, was ich nicht bedacht hatte.

»Scheiße!« rief ich aus, »wir müssen ihn noch mal da rausholen.« Taleesha sah mich verständnislos an. »Ich habe nicht daran gedacht, dass wir einen Totenschein brauchen oder wie das heißt. Seine Frau, der Kiosk, sein Bankkonto, hier das Auto, der Trailer – das funktioniert ohne Totenschein nicht. Am Ende sitzen wir beide hinter Gittern, weil sie uns anhängen, wir hätten ihn umgebracht und in irgend so einen beschissenen Canyon geworfen.« Ich sah den grinsenden Sheriff von Lasolita vor mir und mir wurde schlecht.

So machten wir uns auf, die 85 hinunter und dann, kurz vor Lukeville, quer durch die Kaktuswüste nach La Buena Vista-und-so-weiter. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich endlich den Platz wiederfand, an dem ich Opa einen Tag zuvor beerdigt hatte. Taleesha weinte, als sie den Sandhügel mit den Steinen obendrauf sah, aber es half nichts, wir mussten ihn ausgraben. Es war leichter, als ich gedacht hatte, denn die Erde war noch locker, und ihn zu sehen war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Er war äußerlich tipptopp, als hätte er sich gerade mal für ein Nickerchen in den Schatten gelegt. Wir hoben ihn aus seinem Grab, und ich war froh, dass sich Taleesha nicht ekelte oder einen Nervenzusammenbruch bekam. Wir legten ihn auf die Rückbank und fuhren nach Osten Richtung Nogales, als wir auf einen kleinen Ort namens El Sásabe trafen. Ein mittelgroßes Dorf, aber die Straßen waren von Nord nach Süd mit Ziffern und von West nach Ost mit Buchstaben bezeichnet, als wären wir in einer amerikanischen Millionenstadt. Auf einer Straße, die Calle Tercera hieß, fuhren wir in den Ort hinein, und Taleesha entdeckte an der Ecke Calle B das Schild eines Veterinärs.

Ich öffnete das Fliegengitter und klopfte gegen die Eingangstür. Nach ein paar Minuten erschien ein junger Mann, und ich fragte ihn, ob der Doktor zu sprechen sei.

»Ich bin der Doktor«, sagte er, »wo steht die Kuh, das Pferd, das Schwein?«

»Mein Opa«, sagte ich und zeigte auf den Pick-up. »Er wollte noch mal das Meer sehen, meiner Schwester und mir zeigen, wo er Großmutter zum ersten Mal geküsst hat, und dann …« Ich überließ es der Fantasie des Tierarztes, die Geschichte zu Ende zu spinnen.

»Herzschlag?«, fragte er, ich zuckte mit den Schultern und nickte mit dem Kopf.

»Dann hilft ihm wohl kein Einlauf«, sagte der Doktor, der ein ordentliches Amerikanisch sprach, jedenfalls glaubte ich, das Wort Clyster gehört zu haben.

»Es geht uns um den Totenschein«, ich hatte nach dem Wort Death Certificate gesucht, sagte aber Death Licence. Der Doktor verzog jedoch keine Miene.

»Sie müssen ihn hereinbringen«, befahl er, und so schleppten Taleesha und ich den Alten ins Sprechzimmer und legten ihn auf den Stahltisch, auf dem sonst Katzen und Hunde kastriert wurden. (Wenn ich allerdings jetzt darüber nachdenke, bin ich mir nicht sicher, ob in Mexiko jemals ein Hund oder eine Katze kastriert wurde, und wenn, dann wahrscheinlich eher nicht bei einem Veterinär mit Hochschuldiplom, das hier an der Wand hing.)

Der Arzt drehte Opa nach links und nach rechts, offensichtlich suchte er nach den üblichen Einschusslöchern, dann fand er eine Platzwunde am Hinterkopf, und ich erklärte ihm: »Er ist hingefallen, als es passierte.« Der Doktor nickte und ließ sich auch durch die Pilotenbrille, die Opa auf den letzten Metern in der Luft auf die Stirn geschoben hatte, die wattierte Weste mit dem Abzeichen der Sky Dancers und die Chaparralblüten auf seiner Brust nicht irritieren. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, zog ein Formular aus der Schublade, das er ausfüllte, und übertrug die Daten in eine Kladde. Opas Namen und Geburtsort musste ich ihm buchstabieren, aber alles in allem waren wir zehn Minuten und fünfzig Dollar später wieder draußen.

Eigentlich hätten wir jetzt den wenig genutzten Grenzübergang und die Arizona State Route 286 nach Norden nehmen können, aber mit Opa auf der Rückbank und der Aussicht auf ein sauber ausgehobenes Grab 25 Meilen weiter westlich fuhren wir auf demselben Weg zurück, auf dem wir gekommen waren. Opa ist, jedenfalls soweit ich weiß, das erste Familienmitglied, das innerhalb von 36 Stunden zweimal beerdigt wurde.

Eine schräge Geschichte, die böse endet

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