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Dreh dich nicht um in Lasolita

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Ich nahm die Straße, denn ich wollte nicht noch mal durch die Wüste rumpeln, und außerdem befürchtete ich, dass ich die Schotterpiste, die durch das Kaktustal führt, nicht wiederfinden würde. Also machte ich mich auf nach La Solita, ein Kaff direkt an der Grenze, das fast übergangslos zu Lasolita auf der amerikanischen Seite wird. Die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten war damals nichts, was einen beunruhigen musste, es sei denn, die Arizona Diamondbacks hatten mal wieder ein Match verloren oder die Frau vom Patrouillenchef war unpässlich, dann ließen sie es einen schon mal spüren. Heute war offensichtlich so ein Tag, und darum hielten mich die Grenzer an. Einer postierte sich vor dem Kühler, die Hand am Revolver, der andere kam breitbeinig auf meine Seite.

»Motor aus und die Hände dahin, wo ich sie sehen kann!«, sagte er betont ruhig. Ich drehte den Schlüssel um und legte die Hände auf das Steuerrad. »Wo geht’s denn hin Chicano?« Ich brachte das jetzt gerade nicht zusammen: seine Frage und die Situation, ich, er. Ich war wahrscheinlich so ziemlich der blondeste und blauäugigste Chicano, auf den die Sonne Arizonas jemals niederbrannte, während über seinem Mund ein dicker schwarzer Bigote die Frage nach dem Stammbaum stellte.

»Wohin?«, bellte er, und ich antwortete: »Nach Why.« Wenn es nicht so ein kurzer Ortsname gewesen wäre, hätte ich ihn gewiss gestammelt, aber so kam er einigermaßen am Stück heraus.

»Why?«, fragte er, und ich sagte: »Na, weil da mein Wohnwagen steht.« Also, der ganze Dialog funktioniert ja eigentlich nur auf Englisch, wegen Why – Warum, deswegen überspringe ich das jetzt mal.

Ob auf Englisch oder Deutsch, jedenfalls endete das Gespräch damit, dass der Officer mir befahl auszusteigen, aber schön langsam, »eine falsche Bewegung und ich kann meinem Kumpel nicht verdenken, wenn er nervös wird«, warnte er mich. Im Rücken der zwei Grenzpolizisten fuhr gerade ein unverschämt langes und unverschämt breites Kabriolett von Norden nach Süden, vollbesetzt mit einer unverschämt jungen und unverschämt lauten Gesellschaft beiderlei Geschlechts, und ich hielt die Luft an, um nicht von den süßen Schwaden des mildtätigen Krauts, die herüberwehten, high zu werden. Doch die beiden Grenzer hielten die Aufmerksamkeit hoch, die sie mir widmeten, da war kein Platz für nichts anderes, da hätte die gesamte mexikanische Armee in Arizona einmarschieren können: Ich war jetzt der gefährlichste Mann der westlichen Hemisphäre. Der Officer, der neben der Fahrertür stand, war ins Schwitzen gekommen und schnaufte bedenklich, als er mich – Beine breit, Hände aufs Autodach – am ganzen Körper abtastete. Dann zog er doch noch seine Waffe, um mich mit ihrer Hilfe zu dem kleinen Postenhäuschen am Straßenrand zu dirigieren, auf dessen Dach das Sternenbanner schlappgemacht hatte.

Als ich das Innere betrat – genau genommen wurde ich hineingestoßen –, also, wie soll ich sagen: Ich bin ziemlich bewandert in Filmen wie Todesmeilen nach Las Cruces, Ein Mann ohne Furcht, Wer tötet Riley Quinn?, das war ja auch der Grund, warum ich unbedingt mit Opa mal hierher wollte, aber jetzt … Ich sah mich unwillkürlich nach der Kamera um: Dreh dich nicht um in Lasolita, Klappe die Erste, oder so ähnlich. Denn hinter einem schweren Schreibtisch aus dunkler Eiche saß ein Kerl mit so etwas wie einem Sheriffstern, seinen Stuhl hatte er nach hinten gekippt und die Füße (samt Buckaroo-Stiefeln!) auf die Tischplatte gelegt. Ich trau mich gar nicht, dass hier hinzuschreiben, aber er bewegte doch tatsächlich ein Streichholz von einem Mundwinkel zum anderen und zurück. Vor dem Schreibtisch teilte eine hölzerne Barriere den Raum, in der Ecke stand ein alter Schrank, der überquoll von Papieren, daneben zwei Wanted-Plakate mit Fotos von Leuten, die aussahen, als hätten sie dafür stundenlang in der Maske gesessen. Auf einem Sideboard hinter dem Stiefel-Mann stand eine Kanne Kaffee auf der Wärmeplatte und über ihm drehte sich ein Deckenventilator, der bei jeder Umdrehung einmal gequält quietschte. Weniger amüsant fand ich allerdings das, was ich an der Rückwand des Raumes entdeckte. Dort gab es eine Türöffnung, die ließ den Blick frei auf ein winziges fensterloses Kabuff, dessen einzige Einrichtung eine hölzerne Bank war. Die Tür bestand aus Gitterstäben. Bitte nicht dort hinein, bitte nicht! war alles, was ich mir in diesem Augenblick wünschte.

»Wie?«, fragte ich fahrig, denn ich hatte verpasst, was der Mann hinterm Schreibtisch zu mir gesagt hatte, so sehr rasten jetzt meine Gedanken und suchten einen Ausweg aus dem Schlamassel. Wenn meine Erklärungen den Verdächtigungen der Officers zu sehr widersprachen, würden sie mich in den Raum dort hinten sperren, bis – wie heißt das?: die Angelegenheit geklärt war; wenn ich ihnen einen Schritt zu weit entgegenkam, würden sie das als Eingeständnis meiner fiesen Absichten einordnen und mich erst recht hierbehalten. Einer der beiden, die mich aus dem Auto geholt hatten, gab mir einen Stoß in den Rücken.

»Ich habe dich gefragt, was wohl ein Chicano in einem Pick-up mit Kennzeichen aus Iowa vorhat, wenn er unberechtigt die Grenze überschreitet.«

»Unberechtigt?«, entfuhr es mir, was mir einen weiteren Rempler von hinten einbrachte.

»Du und deine Leute«, sagte der Boss und schnippte ein Stäubchen von seinem linken Stiefel. »Böse, böse. Sehr böse Leute. Und ihr werdet immer raffinierter. Aber nicht raffiniert genug. Du meinst, weil du blond bist und blaue Augen hast, könntest du uns täuschen.« Dann lachte er auf und sagte zu seinen Untergebenen: »Meint ihr, er kann mich täuschen?«

»Nein, Boss!«, kam es wie aus einem Mund, und zur Bekräftigung gab es wieder einen Stoß in den Rücken.

»Also, mach es uns allen hier leichter: Wem gehört das Auto?«

Ich dachte noch: Die Wahrheit ist der gerade Weg in die Hölle, aber da hatte ich schon geantwortet: »meinem Opa.«

»Und wo ist dieser Opa?«, fragte der Stiefelmann höhnisch. Darauf konnte ich kaum wahrheitsgemäß antworten: Vor drei Tagen angekommen in Why, aufgefahren in den Himmel, herabgefallen auf die Erde, begraben in der Wüste, irgendwo hinter La Buena Vista-und-so-weiter.

In diesem Augenblick zog eine Mariachi-Band in rot-grünen Uniformen mit aberwitzig großen weißen Sombreros vorbei, die spielten ¡Viva México! ¡Viva América!, und ihnen folgte eine bunte Schar schräger Vögel in Fantasiekostümen, zwei Elefanten, drei Vicuñas, ein Mädchen mit Prinzessinnenkrönchen, das einen Tanzbär am Nasenring führte, und ein junger Mann, der mit brennenden Fackeln jonglierte und einen kleinwüchsigen Clown auf seinen Schultern sitzen hatte, der ihm ständig den Schweiß von der Stirn wischte. Den Abschluss machte eine Frau, die etwa zwei Köpfe größer war als ich und ein Kreuz wie ein Wrestler hatte. Ihre Attraktion aber waren die drei Brüste, die sich unter ihrem leuchtendgrünen Crêpe de Chine-Kleid abzeichneten. Ich starrte wie gebannt auf diese Szenerie, die ich durch das Fenster hinter dem Stiefelmann wie auf einer Guckkastenbühne beobachten konnte, doch keiner der Anwesenden folgte meinem Blick, geschweige denn unterband jemand den Grenzübertritt der verrückten Truppe.

»Schweigen hilft dir nicht, Amigo«, sagte der Stiefelmann, der sich eine Zigarre aus der Brusttasche gezogen hatte und ein Streichholz an der Stiefelsohle anriss.

»Mein Name ist Laurens Baltruscheit Iversen und ich habe einen dänischen Pass«, kotzte ich ihm meine Identität vor die bestiefelten Füße.

»Einen dämlichen däppischen dänischen Pass«, äffte der Boss. »Was soll das sein: ein dänischer Pass? Habt ihr schon mal was von einem Land gehört, das Dänien heißt?«

»Nein, Boss«, bestätigten ihm die beiden den Erfolg ihrer Schulbildung, und der Boss fuhr fort: »Dänien, gleich neben Hernien und südlich von Spermien«, und alle schütteten sich aus vor Lachen.

In diesem Augenblick erschien die Rettung in Gestalt eines kleinen schwarzhaarigen Jungen, der auf den schmutzigsten nackten Füßen, die ich je gesehen habe, hereinspazierte und »¡A comer!« rief, »¡A comer! ¡A comer!«, gar nicht mehr aufhörte mit seinem Geschrei und dann in Packpapier gewickelte Burritos, Tortillas, Enchiladas, Fajitas oder was auch immer auf der hölzernen Barriere ausbreitete. »Ah, ah«, ließ sich der Boss vernehmen, »oh, ah«, riefen die beiden hinter mir aus und schoben mich zur Seite, »¡qué bueno!« rief der eine, »na endlich!« der andere, beide zückten je einen Dollarschein aus ihren Uniformtaschen und legten sie ebenfalls auf die Barriere, wo sie der Junge aufsammelte und – »¡provecho!« – verschwand.

Und ich mit ihm. Ich ging so gemächlich nach draußen, wie es mir angesichts der Situation möglich war, stieg langsam in meinen Pick-up, schloss leise die Tür, ließ ihn ein wenig nach rückwärts aus dem Blickfeld rollen, startete den Motor und verschwand über die Grenze.

Kurz danach machte die Straße einen Knick nach Westen. Nachdem ich etwa zwanzig Minuten weitergefahren war, bemerkte ich, dass ich wieder auf der mexikanischen Seite der Grenze war, wenn ich so weiterfahren würde, käme ich in einer halben Stunde nach Los Vidrios, einen Ort mit einer sehr nachtragenden Bewohnerschaft. Ich wollte mich in diesem Kaff nicht mehr sehen lassen, das hätte mir heute noch gefehlt. Vielleicht ist der Ort ja so zu seinem Namen gekommen: »¡Paga los vidrios rotos!«, hatte der Kneipenwirt gerufen und meinen Nacken mit seiner Pranke wie in einer Schraubzwinge gehalten, »bezahl die zerbrochenen Fenster!«, obwohl ich kein einziges seiner dreckstarrenden Fenster auch nur berührt hatte. Später lernte ich, dass das nur im übertragenen Sinn gemeint war, so ähnlich wie wenn wir vom Kerbholz sprechen oder der Hutschnur, einfach nur eine Redensart. Tatsächlich meinte er die Flasche Tequila, die mein Nachbar an der Bar geleert hatte, bevor er davonstolperte ohne zu bezahlen, und für die ich jetzt die Pesos auf die Theke legen sollte, was aber ein abgekartetes Spiel war (noch so eine Redensart), denn das machten die wohl hier immer so mit Fremden, die nichts begriffen von zerbrochenen Fenstern. Daher, so denke ich, heißt der Ort von alters her Los Vidrios, die Fenster, wahrscheinlich, kann doch sein, oder?

Ich drehte also um und fuhr zurück, und um nicht noch einmal Bekanntschaft mit dem Filmcast an der Grenze zu machen, bog ich nach links auf eine Piste ab, die schnurgerade nach Norden führte. Ich war noch nicht weit gefahren, da sah ich vor mir einen großen Menschenauflauf. Als ich näherkam, erkannte ich die bunte Zirkustruppe. Sie hatten sich malerisch zwischen den Kakteen verteilt, während zwei Vicuñas mitten auf der Straße ihre Gefühle auslebten. Die jungfräuliche Prinzessin mit dem Tanzbären senkte ihren Blick beschämt zu Boden, während andere dabeistanden und applaudierten. »¡Hay! ¡Hay! ¡Hay!« riefen sie und »¡Esto marcha!« und die Mariachiband spielte Los ojos de mi chamaca. Kaum war ich ausgestiegen, kam die große Frau in Grün auf mich zu und versprach, mir ihre Anatomie zu zeigen, wenn ich nur fünf Dollar aufbringen könnte. Auf mein Kopfschütteln korrigierte sie ihr Angebot: einmal anfassen für zwei Dollar. Am Ende ließ ich mir aus der Hand lesen, das war mir den Dollar wert, den sie in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ, und ich hatte ganz kurz die Vorstellung von einem Hütchenspieler – wo ist der Dollar: zwischen Brust eins und zwei oder zwischen Brust zwei und drei oder …?

Nachdem ich alles erfahren hatte über die kleine Blonde, vor der ich mich in Acht nehmen sollte, über den Geldsegen, der mich erwartete, und das große Haus mit dem Rosengarten, in dem ich mein Glück finden würde, ging ich dorthin, wo die Männer kleine rote Würstchen auf Saguarodornen gespießt hatten und über den Fackeln des Jongleurs brieten. Sie luden mich ein, ein Spießchen zu nehmen und mich zu ihnen zu setzen. Als ich mich auf eine dieser bunten Decken fallen ließ, merkte ich, wie müde ich war. Zwei Wurstspießchen und drei Corona-Bier später war ich eingeschlafen, und während ich davonflog, um mit Opa hoch über den Orgelpfeifen des Kakteenwaldes zu kreisen, merkte ich nur noch, dass mir jemand einen Hut übers Gesicht legte. »Johann!«, rief ich meinem Opa zu, der gerade einen vollendeten gehechteten Delfinsalto in das unfassbare Blau des südlichen Himmels schrieb, »Johann! Ich kann nichts mehr sehen, ich glaube, ich bin blind!«

Als ich erwachte, kroch das letzte Licht der untergehenden Sonne die Hänge der Ajo Mountains hinauf. Was war das bloß für ein seltsamer Traum, in dem sich Schwielensohler paarten, eine dreibrüstige Frau mir aus der Hand las und Mariachis Würstchen grillten? Im Kakteental war es schon ziemlich duster, doch nicht duster genug, um die Bierfläschchen, die hier und da zwischen den Büschen herumlagen, zu übersehen. Und wo kam der Sombrero her, der mich vor einem Sonnenbrand gerettet hatte, und die bunte Decke mit einer Spur von Erbrochenem an einer Ecke? Ich war ein klein wenig orientierungslos und zitterig.

Als ich mich auf den Fahrersitz von Opas Travelette gewuchtet hatte, stellte ich fest, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte, beste Voraussetzungen für die Rückfahrt nach Why.

Eine schräge Geschichte, die böse endet

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