Читать книгу Eine schräge Geschichte, die böse endet - Stefan G. Wolf - Страница 13

Unter Schmugglern

Оглавление

Die Piet Heyn fuhr nicht nach Rotterdam. Ich bin kein Seemann und auf dem Atlantik gibt es auch keine Straßenschilder, aber mir war schnell klar: Die Piet Heyn fuhr nicht nach Rotterdam, nicht nach Antwerpen und nicht nach Hamburg, auch nicht nach Southampton oder Le Havre, sie fuhr überhaupt nicht nach Osten. Selbst wenn man wie ich die meiste Zeit unter Deck verbringen musste, hat man doch irgendwann mal die Sonne an Backbord aufgehen und an Steuerbord untergehen sehen. Wir fuhren also geradewegs nach Süden. Dennoch hielt ich an dem Tag, an dem mir das klar wurde, den Erstbesten an, der mir im Gang entgegenkam, ein kleiner Bengale mit riesengroßen Glupschaugen. Ich deutete auf den Fußboden und fragte: »Nach Rotterdam?«, gerade so als ob das der Bus von Vejlby nach Skaade sei und Tante Liv mich an der Haltestelle Fredens Kirkegaard erwartete. Er schaute mich verwirrt an und zuckte mit den Schultern. »Donnoh«, sagte er und war schon verschwunden.

Auch die Gedanken der drei Seeleute, die mit mir die Kajüte teilten, blieben hinter den fremden Klängen ihrer Dialekte verborgen: Shkodran war Albaner, Panjang Malaie und Eduardo, den alle Eddy nannten, kam aus Chile. Vom Steuermannsmaat, einem rotblonden Schotten mit stechendem Blick, bekam ich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben einen Tritt in den Hintern, als ich ihn nach dem nächsten Hafen fragte. Wenn mir die Richtung nicht passe, so rief er mir sinngemäß hinterher, als ich mich von den Planken aufgerappelt hatte und durch die nächste Luke unter Deck verschwand, wenn mir die Richtung nicht passe, könne ich ja von Bord gehen. Er lachte dazu noch nicht einmal!

Eines Abends hieß es, wir sollten uns unter Deck bereithalten, gleich würden wir anlegen und dann sofort alle Mann die Ladung löschen, um am nächsten Tag die Fracht für Rotterdam aufzunehmen. Es war schon schwarze Nacht, als wir die typischen Geräusche und Schiffsbewegungen spürten, die anzeigten, dass wir angelegt hatten. Dann ging alles ganz schnell, der Schotte, der Lademeister und zwei seiner Schergen, schlimme Kerle mit stahlharten Fäusten, trieben uns an, wir wuchteten die großen Holzkisten an Deck und dann, immer zu zweit, über die Gangway auf den Kai, wo ein paar dunkle Gestalten sie sofort auf einem Lastwagen stapelten. Bei aller Hetze und Mühe bekam ich doch mit, dass der ganze Bereich des Hafens nur von ein paar schwachen Laternen beleuchtet wurde, die kaum heller waren als der Vollmond, der am wolkenlosen Himmel stand.

Ich hatte gerade meine dritte Kiste abgesetzt, da brach die Hölle los: Von allen Seiten stürmten Männer in Uniform auf uns zu und schossen in die Luft. »Hou op! Politie! Handen omhoog!«, riefen sie, und ich war für einen Augenblick verwirrt. Nicht nur wegen des Zugriffs, des Lärms, des Schießens, das die stille Nacht am Hafen erfüllte, sondern weil sich die Uniformierten eindeutig des Holländischen bedienten. »Niemand beweegt«, rief einer der Polizisten, doch da ich auf dem Rückweg war, die Gangway hinauf und schon fast wieder das Deck erreicht hatte, verbarg mich das Dunkel, und ich lief gebückt zur nächsten Luke und rutschte über die Treppen abwärts bis zum Kajütdeck. Ich wusste, dass der einzige Fluchtweg vom Schiff, auf dem ich unentdeckt bleiben würde, über die Wasserseite führte, und mich schauderte bei dem Gedanken an das Hafenwasser und den Gestank, den ich tagelang nicht aus den Kleidern bekommen würde.

Auf dem Weg durch die Gänge unter Deck beschäftigte mich die Sache mit dem Holländischen. Erst hatte ich gedacht, na ja, ist ja ein holländisches Schiff, aber dann war mir klar, dass keine Polizei der Welt bei einem solchen Zugriff die Höflichkeit besaß, die Leute, die sie dingfest machen will, in ihrer Muttersprache anzurufen. ›Leute, morgen Razzia auf dem chinesischen Lastkahn, für alle, die dabei sein werden jetzt eine Stunde Chinesisch für Anfänger!‹ Nein, so geht das nicht. Also waren wir wohl nach Süden gefahren und in Holland gelandet?

Ich unterbrach den interessanten Gedankengang, denn jetzt hatte ich die Kajüte erreicht, tastete mich hinein und zu meiner Koje, links unten. Ich schnappte mir meinen Rucksack, kniete mich vor das Bett, griff panisch nach allem, was noch herumlag, und stopfte es in den Sack. Als ich mich an Shkodrans Koje festhielt, um mich auf die Füße zu ziehen, bekam ich etwas zu greifen, was ich zu erkennen glaubte. Er hatte es mir am ersten Abend gezeigt, als wir von New York ablegten. Geistesgegenwärtig griff ich danach und rannte nach draußen, durch das Labyrinth der Gänge und die Treppen hinauf, bis ich auf der Wasserseite stand, geschützt durch die Aufbauten des Brückendecks. Ich warf die Jakobsleiter, die dort zusammengerollt lag, über die Reling und ließ mich an ihr hinunter. Etwa zwei Meter über dem Wasserspiegel riss ich die Hülle von dem Souvenir, das Shkodran seinem kleinen Sohn hatte mitbringen wollen, ertastete das Ventil und blies hinein. Langsam entfaltete sich das Plastikding, blau und rot, etwas mehr als ein Meter im Durchmesser, und an der Seite gegenüber dem Ventil, in das ich hektisch blies, richteten sich Hals und Kopf von Goofy mit seiner langen Schnauze und den Hängeohren auf. Ich drückte den Stopfen in das Ventil, stieg noch ein paar Sprossen nach unten, ließ das Bootchen langsam aufs Wasser und stieg hinein. Kniend paddelte ich mit den bloßen Händen davon, ein paar Dutzend Meter vom Schiff entfernt war ich nur noch ein Schatten zwischen den Reflexen, die das Mondlicht auf den Wellen erzeugte.

Die Strömung erfasste mich und zog mich weg vom Land. Goofy nickte bedächtig und strahlte kindlich-naiv übers ganze Gesicht: Er freute sich offensichtlich über die vorzeitige Gelegenheit zur persönlichen Entfaltung und den unvermuteten Ausflug. Bei mir wich die Freude über die gelungene Flucht langsam der Besorgnis, denn es war nicht nur die Strömung, die es mir unmöglich machte, dem Ufer auch nur eine Handbreit näherzukommen, jetzt blies auch noch ein sanfter, aber beständiger Wind vom Land her und brachte den Geruch von exotischen Blüten und Pferdeäpfeln mit. Niemals kann das Holland sein, sagte ich mir, wohl wissend, dass Goofy genau dort einige Wochen oder Monate später anlanden könnte, wahrscheinlich jedoch ohne mich.

In diesem Augenblick nahm ich ein Licht vor mir wahr und eine Bewegung hinter mir. Das Licht vor mir schien von einem Schiff zu kommen, die Bewegung hinter mir von einem Fisch, einem sehr großen Fisch. Ich schaute über die Schulter nach hinten, ganz vorsichtig, um in meiner Nussschale nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, und sah langes goldblondes Haar, wasserblaue Augen, Sommersprossen, eine Stupsnase und einen kirschroten Mund, gerade so wie die Galionsfigur an der Valkyrien, die ich mal in irgendeinem Schifffahrtsmuseum auf Seeland gesehen hatte. Der Kopf hob sich aus den Wellen und spie einen Schwall Salzwasser aus, lachte mich an und klimperte mit den Wimpern, an denen Tropfen im Mondlicht funkelten wie Diamanten. Zwei schlanke, aber kräftige Hände legten sich auf den Gummiwulst, in dessen Mitte ich um meine Zukunft und die meiner Kinder und Kindeskinder kämpfte, und mit den Schlägen ihrer silbrigschimmernden Flossen trieb sie Goofy voran, direkt auf das Licht zu. Wie hätte ich den Blick von ihr wenden können? Ab und zu hob sich ihr blanker Rücken aus dem Wasser, dann wieder ihr muskulöser geschuppter Unterleib mit den Flossen, dann wieder sah sie mich an, lächelnd, als ob es ihr keinerlei Mühe bereitete, mich durch die kabbelige See voranzuschieben.

»Heh, kijk daar!«, rief es vom Schiff. Jetzt sah ich die beiden Männer an der Reling, ein großer, breitschultriger, und einer, der eher untersetzt war. Beide hatten sie Ferngläser in den Händen, sahen jetzt aber direkt zu mir herunter, da ich schon auf etwa fünf Meter herangekommen war. »Wie ben jij?«, rief der Große. »Waar kom jij vandaan?«

»Ich habe damit nichts zu tun!«, rief ich hinauf, denn ich sah, dass der Mann eine Uniform trug und auf dem Bug des Schiffs, eher ein Küstenboot oder eine Jacht, stand Waterpolitie und am Heck flatterte die rot-weiß-blaue Flagge. »Ich bin da nur zufällig reingeraten!«, rief ich, und der Kleinere fragte den Größeren: »Wat zegt hij?« – »Dat hij onschuldig is«, gab der Uniformierte zurück, und der Kleine antwortete: »Dat zeggen ze allemaal.«

Ich drehte mich um, aber die Seejungfrau war verschwunden. Meine Bewegung muss ein wenig zu hastig gewesen sein, denn Goofy schwankte, ich parierte zu heftig, Goofy legte sich auf die andere Seite, und ich kippte ins Wasser. »Hilfe!«, rief ich hinauf, wo die zwei Männer meinen Kampf mit den Elementen teilnahmslos betrachteten. Goofy tanzte zwei, drei Meter entfernt auf den Wellen und grinste mich blöde an, während ich versuchte, mich über Wasser zu halten. Immer wieder klatschte mir eine Welle ins Gesicht, manchmal genau dann, wenn ich den Mund weit geöffnet hatte, um Luft zu holen. Ich spuckte, das Salzwasser brannte in Kehle und Nase, und ich merkte, wie ich immer seltener den Kopf aus dem Wasser bekam. Dann gab ich auf.

Die Bewegungen der Meerjungfrau waren bewundernswert kontrolliert, dennoch geschmeidig und – wie soll ich sagen – auch ein wenig geziert. Eine Unterwasser-Rumba, eine Atlantik-Beguine oder eher eine karibische Quadrille? Ich hörte keine Musik, aber einen deutlich wahrnehmbaren Taktschlag wie von einem Metronom aus Glas. Das war mein Puls, mein Herzschlag, den ich jetzt nicht nur in der Brust, sondern auch im Bauch und im Kopf spürte. Die Meerjungfrau kam ganz nah zu mir, umschlang mich, und sie war gar nicht so kalt und glatt, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich wollte etwas sagen, aber sie drückte ihre Lippen auf meinen Mund und küsste mich und presste dabei all das Salzwasser in meine Lungen.

Jetzt lag ich da, auf dem Grund des Meeres, in meinem nassen Grab, niemand weiß wo, noch nicht einmal ich selbst wusste es. So war das also, ertrinken: der Todeskuss einer Meerjungfrau. Mir war kalt und mir war kalt. Außerdem war mir kalt, ich zitterte am ganzen Körper, doch meine klammen Finger konnten die Decke nicht greifen, die mich hätte wärmen können. Ich zitterte, wie ich noch nie im Leben gezittert hatte, der ganze Körper bäumte sich dabei in Schüben auf, das ließ sich gar nicht unterdrücken. Und dann dieser stechende Schmerz, als ob mir jemand mit den Stiefelspitzen in die Nieren treten würde. »Laurens Baltruscheit Iversen, mach die Augen auf!«, brüllte mich der Herrgott an. Wahrscheinlich wollte er endlich über mich zu Gericht sitzen, und auch er hatte ja seine Zeit nicht gestohlen. »Verdammt, mach die Augen auf!« Der Herrgott fluchte, und das mit eindeutig holländischem Akzent.

Ich tat wie befohlen, schlug die Augen auf, und hinter mir sagte jemand »Na, eindelijk. Was macht ein Laurens Baltruscheit Iversen aus Oldrup in Jütland auf einem Schiff, das Waffen nach Guayana schmuggelt?« Ich verstand nur unvollkommen, was er damit sagen wollte. War das eine Frage? Sollte ich darauf irgendetwas antworten? War des Herrgotts himmlisches Tribunal jetzt ein königlich-niederländisches Amtsgericht? Ich sah den großen Polizisten an, holte Luft und musste die Reste des Salzwassers aus der Kehle husten. Da sprang ein dunkelhäutiger Mann auf mich zu, zwei Fäuste packten mich, zogen mich auf die Füße, nur um mich durch einen kräftigen Schlag in die Magengrube wieder auf die Planken zu schicken. »Ach, egal«, sagte der Große, der wohl das Kommando führte, »wir haben die Bande, wir haben die Waffen, und bald kennen wir auch das Netzwerk«.

»De koningin zal blij zijn«, sagte die Stimme hinter mir, wohl der kleinere der beiden, und der andere wiederholte es, »ja, die wird sich freuen«. Und der Kleine wieder: »Den brauchen wir nicht mehr, werft ihn über Bord.«

»Nein!«, schrie ich, »auf keinen Fall gehe ich wieder ins Wasser! Ich bin der Sohn des Konsuls in …« Da fiel mir ein, dass ich immer noch nicht wusste, wo wir uns befanden. »… der Konsul hier, der Sohn bin ich«, schloss ich so drohend wie ich konnte. Ich muss ein sehr beeindruckendes Bild abgegeben haben: halbnackt, nass und stinkend, mit blutigen Schrammen, zitternd vor Kälte und Angst, aber ansonsten zu allem entschlossen.

Und dann erschien SIE. »Wie is dat?«, fragte sie in die Runde, leicht amüsiert. Sie näherte sich mir und – kam es mir nur so vor oder wichen tatsächlich alle anwesenden Männer einen Schritt zurück? Der Kontrast hätte kaum größer sein können: Hier ich, in Unterhose und Socken (ich korrigiere: es war mir nur eine Socke geblieben), nass und zitternd, mit aufgeplatzter Augenbraue und faustgroßem Hämatom auf dem käsbleichen Bauch, ein Rinnsal der erbrochenen Erbsensuppe vom Abend hatte sich an meinem Kinn gesammelt; und dann: sie, die Dame in einem seidenen weißen Hosenanzug, silbernen Mokassins, die unglaublich bequem und unglaublich teuer aussahen, die blonden Haare frisch toupiert, mit dezentem Makeup, das ihre harten blauen Augen und ihre schmalen Lippen weichzeichnete, dabei die kleinen scharfen Falten rund um Augen und Mund kaschierte – und dann dieser Duft! Ich sage das jetzt einfach mal: Sie sah mir in die Augen und erkannte meine Seele. Und jeder dort erkannte im selben Augenblick das Offensichtliche, nämlich dass da was lief zwischen uns: Wir waren vom Schicksal füreinander bestimmt. Meine Güte! Glaubte ich das wirklich? Das musste die Wirkung des Sauerstoffdefizits auf das zentrale Nervensystem sein. Eigentlich konnte ich doch in diesem Augenblick an nichts anderes denken als an die Rettung meines Lebens, die Unversehrtheit meines Leibes und die Bekleidung meiner Blöße. Okay – ein Bier und ein Schnaps wären auch nicht schlecht gewesen.

O je, jetzt stand sie so dicht vor mir, dass ich die Limette und den Ingwer, die sie in ihrem Gin hatte, auf meiner Zunge schmecken konnte. »Geen angst«, hauchte sie mehr, als dass sie sprach. Es war nicht mehr als ein Versprechen, aber für mich öffnete sich in diesem Augenblick der Himmel, und ich sah, dass dort kein Herrgott über mich zu Gericht saß. »De jongen komt met mij mee«, sagte sie in den Raum hinein, ohne jemanden direkt anzusprechen. Dann nickte sie mir auffordernd zu, und ich trabte hinter ihr her. Sie brachte mich in eine Kajüte, so was hätte ich auf einem Polizeiboot nicht vermutet: geräumig, fast luxuriös, mit edelsten Tropenhölzern ausgeschlagen, Ledersessel, ein Bett und – eine Dusche. »Maak jezelf representatief«, hauchte sie mir zu und zog sich rücksichtsvoll zurück. Ich entledigte mich meiner Socke und meiner Unterhose und tauchte in das heiße Wasser ein, das so freigiebig aus dem Duschkopf strömte.

Eine schräge Geschichte, die böse endet

Подняться наверх