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George Orwell & das Jahr 1984

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Ich war im ersten Moment sprachlos. Noch eben hatte ich unsere Nachbarn für den verabredeten Sauna-Abend an diesem trüb-kalten Novembertag erwartet. Jetzt standen vor unserer Haustür zwei Herren mit dem zweifelhaften Charme grauer Eminenzen und hielten mir ihre Blechmarken unter die Nase.

„Staatsschutz. Dürfen wir reinkommen?“

Ich war gerade von meiner Arbeit an der Frankfurter Uni nach Hause gekommen und hatte meine Frau Emma, unsere eineinhalb-jährige Karola und den sechs Wochen alten Luca mit einem Küsschen begrüßt. Es war schön, endlich einmal zeitig zu Hause zu sein. So schön, Ruhe zu haben, bevor die Saunarunde angetanzt kam. So schön, Emma mit den beiden Süßen im Arm auf dem Sofa liegen zu sehen. Ich war entspannt und wollte gerade in die Küche gehen, um meiner Frau und mir einen Tee zu machen, als es geklingelt hatte. Erst einmal, dann ein zweites, und schließlich ein drittes, aufdringliches Mal.

„Schon die ersten Nachbarn?“, hatte ich Emma gefragt und auf die Uhr geschaut.

„Na, die wären aber mehr als eine Stunde zu früh.“

Es war Viertel nach Fünf, und erst um halb Sieben war die Saunarunde angesagt. Ich hätte mich am Liebsten tot gestellt und wäre nicht zur Tür gegangen, aber da klingelte es schon wieder, diesmal lange, sehr lange. Der kleine Luca hatte zu schreien begonnen.

Ich war zur Wohnungstür gegangen, hatte den Hausflur durchquert, die Haustür erwartungsvoll geöffnet und starrte nun auf diese beiden ovalen Blechmarken, auf denen „Zentrale Kriminaldirektion Land Hessen ZK 10“ eingraviert stand.

Mir ging blitzschnell so viel durch den Kopf, dass ich selbst nicht wusste, wie mir geschah. Ich dachte an meine Zeit in den USA, wo ich auf Kosten der IBM schwarz telefoniert hatte – konnte das vielleicht ein Grund sein? Aber ausgerechnet der Staatsschutz? Die IBM-Telefonate waren reines Privatrecht – da sah ich wahrhaftig keinen Zusammenhang.

Ich dachte an meine Verbindungen zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ACLU, der American Civil Liberties Union – was konnte daran verboten sein? Meine Blitzerinnerung führte mich aber auch zurück in die noch frühere Zeit der 1970er Jahre, als ich für den Verfassungsschutz zum Vorwand für eine kleine klassische Verschwörung wurde. Nur weil er mich kannte, sollte ein Schulkamerad Berufsverbot und damit keine Assistenzprofessur erhalten – offensichtlich war ich für unsere Staatsschützer ein Staatsfeind. Und der Bekannte eines Staatsfeindes war ebenfalls ein Staatsfeind. In jenen frühen Zeiten hatte ich Altkleidersammlungen für den Befreiungskampf der Vietnamesen gegen das völkerrechtswidrige, jahrelange Dauerbombardement der USA organisiert. Spendensammelei für Medizin, die von der vietnamesischen Bevölkerung dringend benötigt wurde. Der christliche Westen hatte die offiziellen Medizinlieferungen boykottiert. Konnte man als humanistischer Spendensammler im Christenland schon zum Staatsfeind werden?

Ich dachte an meinen verschwundenen Koffer, der höchstwahrscheinlich von der CIA noch auf dem International Airport in San Francisco vor meinem Abflug nach good old Germany abgefangen worden war. Stand etwa etwas Staatsgefährdendes in meinen Dokumenten? Vielleicht, dass die Amis ein äußerst progressives Gesetz hatten, den »Freedom of Information Act«, der jedem Bürger die Einsicht in seine von den Behörden geführten Akten unumschränkt erlaubte? Dass es große Hürden für die Administrationen gab, wenn sie dieses Recht ihren Bürgern verweigern sollten – konnte ein solch offen vorliegendes Wissen für die BRD-Behörden Verfolgens wert sein?

Und dann klopfte jenes Literaturglanzstück des laufenden Jahres wie verhext an mein Oberstübchen: »1984«, von George Orwell. Würden mich diese beiden Staatsschützer vielleicht auf unseren Staat einschwören wollen? Würden sie mir Fragen nach Orwellschem Muster stellen? Total verschwörerisch …

„Herr Koenig, sind Sie bereit, für unseren Staat Ihr Leben zu opfern?“

„Ja“, würde ich des Scheins halber antworten, um ihre wahre Absicht in Erfahrung zu bringen.

„Sind Sie bereit, einen Mord zu begehen?“

„Ja.“

„Sabotageakte zu begehen, die vielleicht den Tod von Hunderten von unschuldigen Menschen herbeiführen?“

„Ja.“

„Unser Land an die Vereinigten Staaten von Amerika zu verraten?“

„Ja.“

„Sind Sie bereit, zu betrügen, zu fälschen, zu erpressen, die Gesinnung von Kindern zu verderben, süchtig machende Rauschgifte unter die Leute zu bringen; die Prostitution zu ermutigen, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten – alles zu tun, was dazu angetan ist, die linken Genossen in Misskredit zu bringen?“

„Ja.“

„Würden Sie alles tun, um die Macht der Gewerkschaften und der Anti-Atombewegung zu untergraben?“

„Ja.“

„Wenn es zum Beispiel irgendwie unseren Interessen dienlich sein sollte, einem dieser neuen Grünen Schwefelsäure ins Gesicht zu spritzen – sind Sie dazu bereit?“

„Ja.“

„Sind Sie dazu bereit, Ihre bisherige Persönlichkeit aufzugeben und für den Rest Ihres Lebens als Kellner oder Hafenarbeiter durchs Leben zu gehen?“

„Ja.“

„Sie sind bereit, Suizid zu verüben, wenn und wann wir Ihnen das befehlen?“

„Ja. Nun sagen Sie mir aber bitte, was Sie heute von mir wollen?“, würde ich antworten.

„Noch eine letzte Frage: Sind Sie bereit, sich von Ihrer Frau, Ihrer Tochter und Ihrem Sohn zu trennen und sie nie wiederzusehen?“

Wahrscheinlich wäre ich für einen langen Augenblick meiner Sprache beraubt. Meine Zunge würde keinen Laut hervorbringen, während sie immer wieder die Anfangssilben erst des einen, dann des anderen Wortes zu formen versuchte. Ehe ich es nicht gesagt haben würde, würde ich nicht wissen, welches Wort meine Zunge endgültig formen würde, bevor die beiden Staatsschützer endlich ein „Nein!“ aus meinem Mund erreichen würde.

Meine Gedanken stockten.

Einer der beiden Herren vor der Haustür räusperte sich.

Noch immer starrte ich wie gebannt auf die Blechmarken der beiden Beamten.

„Nun“, sagte der größere von beiden, „mein Name ist Hase, sollten wir das Gespräch nicht lieber diskret führen?“

„Wer ist denn da?“, rief Emma aus der nahen Ferne des heimeligen Wohnzimmers.

„Ein Herr Hase und ein Herr …“

„Herrlinger“, sagte der zweite Schlapphut.

„Führen Sie zufällig auch Dienstausweise bei sich?“, fragte ich. „Nicht, dass ich Ihnen nicht traue, aber …“

„Selbstverständlich!“, sagten beide wie aus einem Mund und zückten ihre Ausweise, auf denen dasselbe wie auf den Blechmarken stand, versehen mit ihren Lichtbildern, ihren Namen und der Bezeichnung ihrer Wiesbadener Dienststelle: »Fahndung, OPE Staatsschutz«.

Zwei Stockwerke über uns hörte ich, wie sich eine Tür öffnete. Die Tür der neugierigen, alles sehenden, alles riechenden, alles hörenden Tante Ria.

„Kommen Sie herein“, sagte ich mit einem Seufzer. „Ich bitte Sie jedoch, auf unsere müden Kleinen Rücksicht zu nehmen. Meine Frau wollte sie gerade eben zu Bett bringen.“

„Dem steht nichts entgegen, Herr Koenig“, sagte der kleine Dicke.

Beide betraten unsere Wohnung. Ich schloss die Tür hinter ihnen, bat sie ihre Mäntel abzulegen, was sie tatsächlich taten, während ich in ihren Manteltaschen versteckte Aufnahmegeräte vermutet hatte, und ich stellte sie Emma mit den Worten vor, es gehe wahrscheinlich um ein politisches Interview.

Emma entschuldigte sich, die Kinder müssten ins Bett. Eigentlich sei dies mein Part, denn üblicher Weise würde ich ihnen Gute-Nacht-Geschichten erzählen.

Ich hatte nicht den Eindruck, dass diese Botschaft die beiden Beamten erreichte, aber sie machten dennoch ein bemüht-freundliches Gesicht zu unserem abendlichen Familienleben. Dann waren wir alleine.

„Ich weiß nicht, welches Anliegen Sie haben, aber ist es in einer halben Stunde zu erledigen?“, fragte ich, „denn dann strömen hier die Nachbarn ein. Wir haben jeden Mittwoch eine gemütliche Nachbarschaftsrunde.“

„Wir hätten unsere Garderobe nicht ablegen müssen, denn es handelt sich lediglich um zwei Fragen zu Ihrem Mercedes“, sagte Herr Hase, dessen Namen ich natürlich äußerst lustig fand.

Innerlich stöhnte ich erleichtert auf. Daran hätte ich eigentlich als Erstes denken können. Aber die Sache, so relativ frisch sie noch war, war doch bereits abgehakt als eine bürokratische Verwechslung des Kraftfahrtbundesamtes. Ein letzter Zweifel war allerdings geblieben, ob nicht irgendwelche kriminellen Elemente sich zufällig ein gleiches Modell auserwählt hatten, um irgendein krummes Ding zu drehen.

„Die erste Frage wäre, wo Ihr Wagen in den Monaten nach ihrem Umzug von Berlin nach Frankfurt war?“, fragte Herrlinger. Ich war davon überzeugt, dass beide Namen reine Tarnnamen waren.

„Hatten Sie das Auto an jemanden verliehen?“, schob sein Häschen-Kollege eine Frage nach.

Ich musste mir den Standardwitz verkneifen: Konnten Sie das nicht mit Hilfe Ihrer allmächtigen Behörde ermitteln? Oder ist Ihr Name wirklich Hase, und Sie wissen von nichts?

„Weder meine Frau, noch ich haben jemals das Auto verliehen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Und wo es war?“ Ich grübelte.

„War es immer bei Ihnen oder war es in dieser Zeit vielleicht einmal in einer Werkstatt?“, fragte der kleine Dicke.

Na klar, es war erst vor etwas mehr als einem halben Jahr für eine Woche bei meinem ehemaligen Grundschulkameraden Alois zur Reparatur gewesen. „Ja, der Mercedes hatte eine Inspektion, es musste allerhand repariert werden“, sagte ich.

„Können Sie uns bitte sagen, um welche Werkstatt es sich handelt?“

Ich sagte es ihnen, und dann erzählte ich noch einmal das, was ich bereits der harmlosen Bußgeldstelle mitgeteilt hatte: Meine Frau hatte eine Problemschwangerschaft gehabt. Sie war für vier Wochen im Krankenhaus gewesen. Während dieser Zeit war ich von der Uni freigestellt worden, hatte unsere kleine Karola und meine Eltern versorgt und nur das Fahrrad benutzt. Unser Mercedes stand während der gesamten vier Wochen, die meine Frau im Krankenhaus war, in der Garage. In dieser Zeit kaufte ich gegenüber, in der Seckbacher Landstraße, beim Tante Emma Laden, den die Familie Wagenbach liebevoll führte, ein. Ich brauchte kein Auto in diesen vier Wochen. Ganz einfach.

Doch genau in dieser Zeit war eine Dublette unseres alten Mercedes aufgetaucht und mit einer Frau am Steuer geblitzt worden.

„Wir wissen ja, dass nicht Ihr Wagen geblitzt wurde“, sagte Herr Hase. „Es war eine fast perfekte Dublette.“

„Wer hat denn Interesse, unseren Wagen als Dublette zu fahren?“, fragte ich die beiden Beamten.

Beide sahen sich an, dann antwortete der dickere: „Wissen Sie, es gibt tausend Gründe, weshalb, warum, wieso. Wenn wir das wüssten, dann wären wir nicht hier.“

„Sie sind aber doch kein übliches Kriminalkommissariat. Sie haben es doch mit politisch motivierten Straftaten zu tun, oder täusche ich mich?“

„Sie täuschen sich nicht. Aber wir ermitteln natürlich in alle Richtungen. Im Frankfurter Nordend und in Bornheim gibt es viele Unterstützer der sogenannten Roten Zellen“, sagte der Dicke. Beschwichtigend fügte er hinzu: „Wir wissen, dass Sie nicht dazu gehören.“

„Woher wollen Sie das wissen?“ scherzte ich, obwohl mir nicht zum Scherzen zumute war. Schließlich hatte man mich Jahre zuvor ganz offensichtlich postalisch und telefonisch überwacht – vielleicht sogar persönlich über Bekannte oder Freunde bespitzeln lassen. Und der Grund hierzu? Allein deshalb, weil ich der Bundeswehr entflohen war. Hinzu kam wohl auch der schon erwähnte Versuch, meine Vietnam-Sammlungen zur Beendigung des mörderischen US-Krieges zu kriminalisieren.

Der Staatsschützer ging nicht auf meine Frage ein. „Vielleicht brauchen diese RAF-Nachfolger unauffällige Familienautos in der Hoffnung, nicht aufzufallen. Aber der Zufall deckt dann doch immer wieder einmal etwas auf. Die Dame, die am Steuer der Dublette saß, fuhr einfach zehn Stundenkilometer zu schnell – und schon ist die aufwendig hergerichtete Dublette aufgeflogen. Jetzt ist unser Part herauszufinden, wie die gerade auf Ihren Mercedes gestoßen sind. Deshalb unsere Fragen.“

Der Beamte stand auf, auch Herr Hase erhob sich.

„Sie haben keine Idee dazu?“, fragte mich Herr Hase.

„Keine Spur, meine Herren. Ich bin politisch weit entfernt von diesen sogenannten Feierabend-Terroris-ten.“

»Feierabend-Terroristen« hatten die Behörden und Zeitungen jene Politgangster genannt, die meinen Fast-Schwiegervater, den hessischen Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry, und andere hohe Bundesbeamte ermordet hatten – aber es waren allesamt sehr merkwürdige Morde. Ohne echte Bekennerschreiben. Ohne politisch übliche Pamphlete, ohne theoretisches, bombastisches Rechtfertigungsgebrabbel – außer bei Karry, wo in einer sehr ungewöhnlichen und unglaubwürdigen Weise einige Klugscheißereien zum Besten gegeben worden waren. Merkwürdige Umstände. Merkwürdig mangelhafte Ermittlungen. Merkwürdige Morde mit merkwürdigen Hintergründen. Und dann dieser offiziell benutzte Begriff von „Feierabend-Terroristen“ – das klang so mysteriös verschleiernd wie die immer wieder aus der Klamottenkiste gezogene Einzeltäter-These bei rechtsradikalen Anschlägen und Morden.

Ich nahm die Mäntel der beiden vom Kleiderhaken und reichte sie ihnen.

„Danke, Sie sind der perfekte Gastgeber, aber Sie brauchen uns nicht in den Mantel zu helfen“, sagte der kleine Dicke lachend.

„Das hätte ich allein deshalb nicht gemacht, weil sie sportlich ausschauen“, antwortete ich. Tatsächlich sahen sie wie zwei unsportliche, bürokratische Sesselfurzer aus. Dann fügte ich hinzu, weil es mir tatsächlich erst jetzt einfiel: „Und entschuldigen Sie bitte, dass ich vergessen habe, Ihnen etwas zu trinken anzubieten. Aber Ihr Besuch kam so überraschend, dass ich …“

„Keine Sorge“, sagte der Dicke, „das holen wir jetzt nach.“ Und weg waren sie.

Irgendwie hinterließ der Besuch etwas Menschlich-Normales und doch auch etwas Unheimliches. Natürlich musste ich wieder an meinen aktuellen Lesestoff von George Orwell denken: »1984«. Dazu diese trübe Novemberstimmung. Da war jetzt die Sauna genau der richtige Ort.

*

Die ersten Besucher der Saunarunde kamen einfach herein. Die Tür war wie an jedem Saunaabend nur angelehnt. Ich hatte die Klingel abgestellt, damit die Kinder nicht geweckt wurden. Trotz Großstadt-Trallala hatten wir dieses grenzenlose urbane Vertrauen. Es wurde acht Jahre später heftig erschüttert.

Moni brachte ihren traditionellen Nudel-Salat mit, den ich nicht ausstehen konnte, weil sie ihn regelmäßig mit Mayonnaise überfrachtete. Ihr Mann, Logistiker bei REWE, brachte gebratene Hähnchenteile mit. Gunnar war früher ein Liebhaber knuspriger Hähnchenschenkel gewesen. Wenn er sich daran hörbar erinnerte, tätschelte er – Sigmund Freud ließ grüßen – die Oberschenkel seiner Liebsten. Er beschaffte die Hähnchen bei einem Bauernhof im Vogelsberg, wie er immer aufs Neue zu betonen pflegte. Auch unsere ewig gackernde Moni stammte aus dem Vogelsberg, jenem herrlichen Naturfleck zwischen Gießen und Fulda. Was die Hähnchenbeschaffung betraf, glaubte ich ihm auf‘s Wort. Emma glaubte ihm kein Wort. Dennoch wurde Gunnar sechs Jahre später Prokurist unserer Unternehmen, was wir jetzt noch nicht ahnten.

Erstaunlich war, dass er, der Hähnchenbeschaffer, seit Neuestem Fleisch verabscheute. Er war nun einer der ersten männlichen Vegetarier.

Nur Moni konnte er nicht auf den Vegetarier-Kurs zwingen; ganz im Gegenteil. Je mehr er von seinem vegetarischen Leben schwärmte, desto versessener schien sie heimlich Schnitzel und gelegentlich Hähnchenschlegel beim Metzger um die Ecke zu genießen. Wenn Gunnar und ihr gemeinsamer pubertierender Sohn Philip mittags noch nicht zu Hause waren, schlich sie sich davon und täuschte für die beobachtende Nachbarschaft einen Familieneinkauf vor. Per Zufall hatte ich sie einige Male beim Metzger getroffen. Mein Gott, ich wollte sie dort nicht treffen! Und meine Güte, ich gehörte nicht zur beobachtenden Nachbarschaft – was man von Moni nicht behaupten konnte.

Wohl deshalb fragte sie mich jetzt ein wenig aus.

„Wer waren denn die beiden Herren, die da vor eurer Haustür standen?“

Ich wusste sofort, wen sie meinte. Da aber gerade der zweite Schub an Saunagästen zur Tür hereinströmte, sagte ich: „Erzähl‘ ich dir später. Das ist eine längere Geschichte. Was ich dich fragen wollte: Macht Philip eigentlich die Essenspläne seines Vaters mit?“

Philip wuchs nun in seinem sechsten Lebensjahr schon voll vegetarisch auf. Und er war dennoch – wahrscheinlich aber gerade deshalb – sehr gut in der Schule, wie Moni und Gunnar unentwegt betonten. In seiner Klasse, in der die fleischfressenden Freunde noch weit in der Überzahl waren, war er jedoch in jeglicher Hinsicht Einzelgänger.

„Er schreibt schon wie ein Siebtklässler“, sagte Moni stolz. „Und er hat das Mathetalent seines Vaters geerbt, was ich neidlos zugestehen muss.“

„Vegetarisch bedingt?“, fragte ich.

Sie gackerte.

Als Gunnar sich etwas abseits mit dem gerade hinzugestoßenen Ärztepaar Anne und Tobias unterhielt, flüsterte sie mir zu: „Bitte keine Bemerkung über meine Balkonaktivitäten.“

Erst stutzte ich einen Moment, dann musste ich lächeln und antwortete mit einem klaren: „Ehrenwort!“

Auf Monis Balkon, über den wir uns zuwinken konnten, rauchte sie – auch hier heimlich und verschwörerisch – ihre ansonsten auf dem Küchenschrank sorgsam versteckten Zigaretten. Gunnar hatte das Rauchen strikt untersagt, „da man der Jugend kein falsches Vorbild abgeben darf“, wie er, der pädagogisch stets »on top« war, betonte.

„Wenn ich mein Zigarettchen morgens und mittags nicht rauchen kann, werde ich fett. Ich explodiere dann regelrecht und mein Mann wird mich von einer Diät zur anderen jagen“, flüsterte sie weiter. „Ich habe jetzt schon drei Kilo zu viel drauf!“

Die kleine Blondine war gut proportioniert, aber keinesfalls hatte sie eine jener vielen Brigitte-Diäten nötig, die seit einigen Jahren das besondere Geschenk der Unternehmerfamilien Gruner und Jahr an die neue ernährungsbewusste Welt der Feministinnen war. Mit Diäten ließ sich neuerdings gut Umsatz machen.

Inzwischen hatte Gunnar seine Nachbarn Anne und Tobias tief in pädagogische Austauscherfahrungen über ihre beiden gleichaltrigen Söhne verstrickt.

„In Sachen Ordnungssinn bin ich strikt!“ Gunnar hatte drei Wände des Kinderzimmers mit halbhohen Schubladenregalen versehen, und jede Schublade hatte eine große Überschrift mit etlichen kleinen Unterpunkten. Ein perfektes, bis ins Kleinste ausgeklügeltes Ordnungssystem, das einem jungen Menschen das Schubladendenken unheimlich nahe bringen musste.

Anne, die fast-promovierte Arztfrau – sie hatte kurz vor der Heirat die Doktorarbeit abgebrochen –, war jedoch keineswegs so ordnungsbegeistert wie ihr Nachbar und meinte: „Unsere Kinder brauchen Entfaltungsmöglichkeiten und müssen sich ihr Ordnungssystem vielleicht auch selbst erarbeiten, oder wie siehst du das, Gunnar?“

Gunnar sah es natürlich anders, denn sein Philip konnte – „freiwillig“, wie er betonte – noch etliche Schubladenregale aufstocken, was aus seiner Sicht genügend kreative Luft nach oben bot. Ich schwieg dazu und musste lächeln. Wahrscheinlich bewunderte ich insgeheim das Ordnungssystem. Aber gleichzeitig dachte ich: So wehrt sich die tief verinnerlichte alte Ordnungssehnsucht unserer Eltern und Großeltern gegen die erst eineinhalb Jahrzehnte frische Sehnsucht der 68er-Eltern nach mehr flexibler und kreativer Freiheit von genau dieser Ordnung.

Als Annes Mann Tobias, unser promovierter Diabetes-Experte, über verträgliche Menge und Art der Süßigkeiten für unsere Kids zu schwadronieren begann, war es Zeit, die Hüllen fallen zu lassen und zu duschen. Die Sauna war auf 80 Grad aufgeheizt, und so setzten wir unsere Unterhaltung schwitzend fort. Inzwischen waren auch Irmel und Arnd aus der Seitenstraße sowie ihr Untermieter, der 25-jährige Jungschauspieler Christian, eingetrudelt. Auch Doris, die im Nebenhaus wohnte und in Frankfurts Innenstadt einen gutsituierten Optik- und Hörgeräteladen betrieb, kam später dazu. Noch genoss sie ihr Single-Dasein, lag aber bei jeder Festivität auf der Lauer …

„Auf meinem Grabstein wird mal stehen »Sie war stets suchend und bemüht«. Ich werde euch für diese Inschrift jedenfalls von himmlischen Gefilden herab danken!“, sagte sie dann scherzend, wenn jemand versuchte, sie auf einen Mann aufmerksam zu machen.

Rasante Zeiten - 1985 etc.

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