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Traumreise nach London
ОглавлениеEmma schlief schon. Ich war angenehm erschöpft, aber noch nicht müde. Die beiden Saunagänge hatten gut getan – auch die Gespräche über Gott und die Welt hatten meine Gedanken vom Besuch der Staatsschutzbeamten und dem mysteriösen Hintergrund abgelenkt. Schlafen konnte ich noch nicht. Also knipste ich meine Nachttischlampe an und legte ein buntes Tuch darüber, damit Emma und Luca nicht wach wurden. Karola schlief schon in ihrem eigenen Kinderzimmer.
Ich griff zu meinem Schmöker auf dem Nachttisch, war im Nu in Orwells »1984« versunken und erlebte mit Winston Smith die Welt der allgegenwärtigen Überwachung. Keine Ahnung, wie lange ich gelesen hatte; ich weiß nur, dass mich die Sache mit dem »Neusprech« sehr beschäftigte. Wenn ich nur mehr darüber erfahren könnte … Dann musste ich gerade noch das Licht ausgeknipst haben und mir mussten die Augen zugefallen sein …
Es ist mir völlig schleierhaft, wie ich bei all diesen Kontrollen nach London gelangt war. Es war jedenfalls ein klarer, kalter Tag im November, und die Glocken am Big Ben schlugen gerade dreizehn, als ich den Victory-Block erreichte, in dem Winston Smith wohnte. Ich ging rasch durch die Glastür, nachdem mir ein unbestimmtes Summen anzeigte, dass Mr. Smith auf mein Klingeln hin den Öffner betätigt hatte.
Irgendwie roch es seltsam im Flur. Aber noch seltsamer war das Riesenplakat, von dem mir ein übergroßes weibliches Gesicht streng entgegensah – so, als wollte mich die Eigentümerin dieser Wohnanlage, oder wer immer es war, vor Ungehorsam warnen. Das Gesicht war so aufgenommen, dass mich ihre herrischen Augen überallhin verfolgten. Ich schaute nach, ob die darunter aushängenden Zettel einen Hinweis auf den strengen Blick gaben. Tatsächlich hing dort die Hausordnung, die ich jedoch nicht zu lesen beabsichtigte. Darüber konnte mir Winston gewiss Auskunft erteilen. Unter dem Plakat stand in fetten Lettern: »Sie sieht dich! Sie liebt dich!«
Winstons Wohnung lag sieben Stockwerke hoch, der Aufzug war außer Betrieb, und ich kam schnaufend an. Der Mann, der mir die Tür öffnete, sah verhärmt und grau aus. Seine Augen waren faltenumwölkt, hatten jedoch noch einen seichten Glanz und strahlten einen Rest Hoffnung aus, als sie mich wahrnahmen. Als hätte er mich lange schon erwartet, bat er mit einer einladenden Geste hinein, jedoch ohne ein Wort zu verlieren. Stattdessen legte er den Zeigefinger auf den Mund und bedeutete mir, ihm schweigend zu folgen.
Smith war eine magere, gebrechliche Gestalt, die fast etwas Geisterhaftes an sich hatte. Betont wurde dies durch die graue Tory-Parteiuniform, die er trug, einer Art Trainingsanzug. Über seiner linken Brusttasche, dort, wo das Herz sitzt, war ein roter Punkt aufgenäht. Es bedeutete, dass Winston Smith eine Vertrauensperson innerhalb des Parteiapparates und somit auch im Ministerium war.
Aus einem in die Wand eingelassenen modernen Volksempfänger, vermutlich aus Leichtmetall, der im Flur seitlich der Eingangstür angebracht war, klang eine blecherne Stimme und verlas Zahlen zur aktuellen Rüstungsproduktion. Winston drehte an der rechten Seitenwand an einem Metallrädchen. Er drehte es bis zum Anschlag, so dass die Stimme zwar leiser gestellt, aber nicht abgestellt werden konnte. Kurz hinter der Wohnungstür nahm Winston ein Tuch von der Linse des Volksempfängers, das bisher verhindert hatte, dass ich in ihr Blickfeld geriet. Es war ein Gerät, das sich »Televisor« nannte und das der Durchsage von Nachrichten für die Ministeriumsmitarbeiter, aber auch dem Empfang von Geräuschen und Gesprächen aus den Wohnungen und Büros derselben diente. Das Gleiche erfolgte auf optischem Weg – die Sendung und der Empfang von Bildern. Wir bogen hinter dem Gerät in ein Zimmer ein, das völlig verdunkelt war.
„Zwangshören?“, fragte ich extrem flüsternd. Ich konnte mir das absolute Schweigen nicht antun. Zu sehr war ich die Freiheit der Rede und der Gedanken gewohnt.
Sofort legte Winston seinen Finger wieder auf die Lippen. „Das Friedensministerium! Man kann den Televisor nicht abstellen!“, flüsterte er zurück und verschwand im Dunkel des Zimmers, in das ich ihm schweigend folgte. „Hier können wir uns leise unterhalten.“
„Danke, dass du unter diesen schwierigen Umständen zu einem Interview bereit bist“, sagte ich. „Wir können uns doch duzen, oder?“
„Wenn man mich verrät und beseitigt, ist es gleich, ob wir uns geduzt oder gesiezt haben.“
Ich fand es schade, dass wir uns hier im Dunkeln nicht sehen konnten. Gerne hätte ich seinen Gesichtsausdruck, seine emotionalen Regungen wahrgenommen. Schließlich hatte ich als Journalist gelernt, nicht nur die gesagten Worte, sondern auch die Körpersprache im Zusammenhang mit jenen bloß mit den Lippen geformten Lauten zu deuten.
„Ist es so schlimm?“, fragte ich. Mir war daran gelegen, für meine zukünftige wissenschaftliche Arbeit zum Datenschutz und zur Informationsfreiheit Fakten aus dem Dschungel zivilisatorischer Überwachungsdiktaturen zu sammeln. Und natürlich interessierte mich diese neue Sprache, das Neusprech.
Winston tastete nach meiner Hand und führte mich zu einem Sessel. „Nimm Platz.“ Vorsichtig ließ ich mich nieder. Dann saß ich in einer tiefen, weichen Mulde. Links und rechts mit Armlehnen versehen, fühlte ich mich etwas eingeengt, aber das sollte mich nicht stören, sobald ich nur meine Fragen wahrheitsgemäß beantwortet bekäme. Ich hörte, wie sich Winston räusperte.
„Es ist mehr als schlimm. Einen schlimmen Zustand kann man zumeist wieder ändern. Aber diesen endgültigen Verlauf kannst du nicht korrigieren, nicht rückgängig machen. Sie löschen Stück für Stück die Vergangenheit unwiederbringlich aus. Als Mitarbeiter der Abteilung IV des Wahrheitsministeriums bin ich unablässig mit der Korrektur alter Dokumente beschäftigt. Ich muss frühere Zeitungs- und Wissenschaftsartikel »verdeutlichen«, wie es in Neusprech heißt, also neu deuten. Ich muss ganze Bücher umschreiben, um die Vergangenheit umzudeuten und der Gegenwart anzupassen.“
„Artikel neu deuten, sie »verdeutlichen« – was meinst du damit?“
„Ich? Ich meine überhaupt nichts; es ist nicht mein Begriff. Es ist der Begriff der anderen! Die da oben meinen, man müsse die Erinnerung an alte Zeiten der neuen Zeit anpassen. Das nennt der Wahrheitsminister »verdeutlichen«. Sie wollen die Vergangenheit aus dem Gedächtnis tilgen, um der neuen, der sogenannten »wirklichen Wahrheit« Platz zu schaffen. Aber dies soll schleichend geschehen, durch immer neue, kleinere, fast unmerkliche und stetige Korrekturen, durch permanente Umdeutungen, bis schließlich keine wahre Erinnerung mehr existiert. Nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein.“
„Wie soll das geschehen? Man kann doch nicht die Vergangenheit aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwinden lassen!“
Vom Flur her hörte man weiter die überschwängliche Verlesung der Produktionszahlen zu neuen Pershings und zu atomar bestückten Jagdbombern sowie zu den in Erdbunkern rund um London versteckten Atomminen, die gezündet würden, sobald der Feind sich der Stadt nähern würde. Selbst mir, der ich mich in einem sicheren Land lebend dünkte, wurde Angst und Bange, als ich die endlose und voller Freude vorgetragenen Zahlen zur weiteren Aufrüstung gegen den Ostfeind vernahm.
„Präsident Reagans Idee, dieser Rüstungswahn“, sagte Winston. „Die Eiserne Lady ist seine zweite Hand, seine Vollzieherin in Übersee.“
Jetzt erst erkannte ich das strenge Frauengesicht, dass von allen Plakaten in dieser grauen Stadt auf die Menschen herunterschaute und deren Blicke jedermann unerbittlich verfolgten – es war Margaret Thatcher. Sie hatte den Falklandkrieg geführt und gegen Argentinien gewonnen. Biertrunken hatte ihr das Volk gedankt.
Sie war die Stellvertreterin der USA in Europa und im Rest der Welt. Sie war Reagans Sprachrohr in der NATO und seine Vollstreckerin in den absolut notwendigen Auslandskriegen, um die Macht der imperial Mächtigen zu zementieren. Aber auch nach innen musste ein unbändiger und unablässiger Krieg geführt werden. Sie fuhr einen harten Vernichtungskurs gegen die Gewerkschaften, gegen Arbeitnehmer und Sozialisten. Sie hebelte deren verbürgte Rechte aus. Sie hatte die britische Industrie nach Reagans Vorbild an China versilbert, um dort billig produzieren zu lassen, und um mit dem eingenommenen Silberschatz den Finanzsektor zu füttern.
„China wird unsere Werkbank! Und wir beherrschen die Weltfinanzen“, pflegte Mrs. Thatcher zu sagen.
„Die Konservativen werden eines Tages jammern, dass sie ihre Industrie ins Ausland verscherbelt haben, nur um jetzt kurzfristig Profit zu machen und das Finanzkarussell zu beschleunigen. Sie wollen mit wenig Aufwand schnelle Casinogewinne einfahren“, sagte Winston halblaut.
„Alles für die »Londoner City«? Alles für die »Bank of London«?“
Er antwortete nicht, wahrscheinlich hatte er genickt, wie ich in diesem abgedunkelten Zimmer vermutete.
Thatcher und ihre Tories hatten dem Staat das Recht genommen, die Finanzindustrie zu regulieren. Mit ihren einschneidenden Maßnahmen läuteten sie den Beginn des ungezügelten Casinokapitalismus ein. Sie privatisierten die Staatsunternehmen und reduzierten den Staat auf einen Erfüllungsgehilfen der Finanzoligarchen. Seither waren nur noch vier Ministerien zum Regieren nötig. Ihre Aufgaben waren bescheiden: Krieg führen, Liebe unterminieren, Chaos fördern, die Massen verdummen, sie auf Trab und knapp halten. Mehr war zum Regieren nicht nötig.
Das Wahrheitsministerium, abgekürzt und in der Neusprache »Miniwahr« genannt, befasste sich vornehmlich mit der Neuschreibung der Geschichte sowie mit dem Nachrichtenwesen, der Propaganda, dem Freizeit- und Erziehungswesen und mit allen Kultur- und Kunstangelegenheiten. Winston war in Abteilung IV beschäftigt, die aus mehreren tausend Mitarbeitern bestand und sich der permanenten Geschichtsrevision widmete.
„Was machst du da genau?“, fragte ich.
„Du wirst es am besten begreifen, wenn du mich an meinen Arbeitsplatz begleitest. Aber um nicht aufzufallen, musst du dazu eine Parteiuniform der Tories tragen. Sobald du sie anhast, können wir aus dem dunklen Zimmer heraus. Wenn dich der Televisor dann zufällig erfassen sollte, wirst du zumindest nicht automatisch gemeldet und einbestellt. Bei einer Einbestellung würdest du als NZG identifiziert und wir würden vor Gericht enden. Das wäre für uns beide das Ende.“
„NZG? Was heißt das?“, fragte ich.
„Nichtzugehöriger.“ Winston reichte mir in der Dunkelheit eine Tory-Trainingshose, damit ich sie gegen meine Jeans wechseln konnte. Als ich die Hose wie auch die Trainingsjacke angezogen hatte, fuhr ich mit der Hand über meine linke Brusthälfte und spürte den Aufnäher.
„Welche Farbe hat mein Punkt?“
„Natürlich Rot, damit du im Ministerium nicht auffällst“, sagte Winston.
Ich zog meine neue Trainingsjacke stramm.
„Fertig angezogen?“
„Ich bin bereit“, sagte ich. Wir gingen in die beleuchteten Zimmer hinüber.
Ich wusste es schon, aber Winston warnte mich erneut und eindringlich: Der Televisor war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerät, das sämtliche Geräusche und Bewegungen registrierte und an eine zentrale Parteidienststelle meldete, wo die Parameter in einem Rechenzentrum ausgewertet wurden. Auffälligkeiten wurden mit der Einschaltung der Gedankenpolizei quittiert. Ob man auffällig geworden war und gerade zu einem bestimmten Zeitpunkt überwacht wurde, war gewissermaßen Glücksache. Doch man war instinktiv darauf eingestellt, jederzeit vom Televisor ins Visier genommen und ausgespäht zu werden.
Die Gedankenpolizei bestand aus einer Spezialeinheit von Informatikern, deren besondere Gabe es war, aus dem maschinellen Who-is-Who politische Raster herauszufiltern, um Gedankenabweichler erkennen zu können.
Ein kurzer Blitzgedanke durchzuckte mich. Ich erinnerte mich an Horst Herolds in den 70er-Jahren entwickelte und erstmals 1979 erfolgreich gegen die RAF angewandte Rasterfahndung in der BRD.
Dann kehrten meine Gedanken zurück nach London. Gedankenabweichler in den Reihen des Herrschaftsapparates konnten nicht geduldet werden. Innerhalb der Partei wurde ein Gedankenverbrechen mit der gesellschaftlichen Zurückstufung in das Heer der Masse geahndet. Innerhalb der Ministerien wurden Gedankenverbrechen mit der Vaporisierung der Gedankenverbrecher bestraft. Salzsäure, Verdunstung oder einfache Verdampfung waren die vorherrschenden Mittel der Wahl, um Gedankenverbrecher zu eliminieren.
Von ihnen durfte nichts zurückbleiben, kein Vermächtnis, kein überliefertes Wort, kein Erinnerungsgegenstand, keine Urkunde, weder Gehaltsbescheinigungen noch irgendwelche Kleidungsstücke.
„Wenn wir erwischt werden, werden wir aus der Geschichte der Menschheit für immer verschwinden. Nichts von uns wird übrig bleiben. Niemand wird sich an uns erinnern können. Willst du das Risiko wirklich eingehen?“
Ich schaute Winston an, und dann sah ich auf das einen Kilometer entfernte, wuchtig und weiß aus der düsteren Landschaft emporragende Wahrheitsministerium.
„Bin bereit“, sagte ich und nickte entschieden, wie man nickt, wenn man sich selbst überzeugen und überwinden will.
Das also, dachte ich mit einer Art diffusem Abscheu, ist jenes London, von dem ich als Schüler geschwärmt hatte, weil hier die Beatles im September 1969 über den Zebrastreifen der Abbey Road gegangen waren und ihren Song dabei gesungen hatten:
Something in the way she moves
attracts me like no other lover
Something in the way she woos me
I don't want to leave her now
You know I believe and how
Somewhere in her smile she knows
that I don't need no other lover
Auch Winston Smith war in seinen Kindheitserinnerungen gefangen und versuchte nachzuforschen, ob London immer so ausgesehen hatte. Die ständige Neubearbeitung der Vergangenheit, durchgeführt von tausenden zur strengsten Verschwiegenheit verpflichteten Ministeriumsbeamten, der Austausch von alten gegen neue Fotos in den Dokumenten der staatlichen Archive, die Neubeschreibungen der Zustände in alten Tages- und Wochenzeitungen – das alles hatte in Winstons Gedächtnis bereits einige verunsichernde Lücken hinterlassen.
Manchmal wusste er selbst nicht mehr, ob dem, was er an Vergangenheit korrigierte, nun bereits die brandneue oder schon die mehrfach bearbeitete oder vielleicht noch die ursprüngliche Version der Wirklichkeit zugrunde lag. Er kam zusehends durcheinander.
Hatten da immer diese langen Reihen heruntergekommen aussehender Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert gestanden? Waren die zerbombten Ruinen, auf deren Trümmer Unkraut wucherte, Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs oder doch der Beweis neuer Kriegshandlungen, in die Großbritannien auf ewig verstrickt schien, als sei es eine gottgewollte Selbstverständlichkeit?
Wir beeilten uns, um nicht zu spät an Winstons Arbeitsplatz zu kommen. Was bedeuteten die in der Ferne zu hörenden Detonationen? Waren es aktuelle Bombeneinschläge oder kamen die Einschlagsgeräusche bloß aus den Lautsprechern an den viktorianisch verzierten Straßenlaternen? Aber Winston schwieg vor sich hin und erinnerte sich nicht wirklich, während das Wahrheitsministerium in seiner übergroßen Dimension immer näher rückte.
Wir hatten jetzt nur noch eine Strecke von vielleicht zweihundert Metern bis zum Eingang vor uns.
„Wird man mich einlassen?“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man ohne irgendeine elektronische Erkennung in das Zentrum der Macht gelangen konnte.
„Der rote Punkt ist fälschungssicher. Er besteht aus einem besonderen, einem geheim gehaltenen Farbspektrum, das nur ein spezielles optisches Spektrometer erkennen kann.“
Ich wunderte mich, wie weit entwickelt dieses heruntergekommene Land war. Im internationalen Vergleich des Bruttoinlandsproduktes rangierte es auf Platz Sieben hinter der DDR.
„Was, wenn man meinen Ausweis sehen will?“, fragte ich.
„Wir kommen ohne persönliche Kontrolle hinein. Bleibe einfach an meiner Seite und frage mich harmlose Dinge, wie zum Beispiel, ob ich dir aktuelle Rüstungszahlen oder die Berichtszahlen über die in der letzten Schlacht gefallenen feindlichen Soldaten nennen kann. Das sind die üblichen Unterhaltungen, und wir fallen nicht auf, wenn wir entschlossen und wie gute alte Kollegen durch marschieren.“
„Was wäre meine Funktion an deinem Arbeitsplatz?“
„Du wirst von mir als mein neuer Kollege angelernt, ganz einfach.“
Die Sonne fiel an diesem Morgen auf die unzähligen Fenster des Wahrheitsministeriums, deren Glas die Strahlen erbarmungslos zurück in die staubdurchsetzte Luft schleuderte. Die von der Sonne abgewandten seitlichen Fensterschlitze sahen aus wie Schießscharten einer Festung an der Atlantikwestfront 1942. Mein Herz schlug wild und ich fühlte Schweißperlen, die sich an meinem Haaransatz bildeten. Diese riesige Pyramide aus Schießscharten war uneinnehmbar; sie war ein Monument der neuen, der momentan absoluten Wahrheit:
Wer die Macht zur Gestaltung der Gegenwart hat, hat die Macht über die Wahrheit. Wer über die Gegenwart verfügt, hat die Macht zur Veränderung der Vergangenheit und damit die Macht zur Gestaltung der Zukunft. Das jedenfalls war das Theorem, das Winston aus dem Parteiprogramm zu verstehen glaubte.
Die Tories sagten, das Inselreich Großbritannien habe schon immer den verbündeten USA als riesiger Flugzeugträger gegen den Ostfeind gedient. Winston Smith aber wusste, dass es früher einmal andere Kräftekonstellationen gegeben hatte. Aber wo war dieses Wissen verankert? Nur in seinem eigenen Bewusstsein, das früher oder später samt seinem Körper unweigerlich in Staub zerfallen und von reflektierten Schießscharten-Sonnenstrahlen durchlöchert würde.
Wenn die Massen die von der Partei verbreiteten Lügen glaubten, wenn alle Schriftdokumente, Lehr- und Tagebücher, Romane, Zeitungen und Zeitschriften, Filme, Bilder und Hörspiele umgeschrieben wären und gleich lauteten, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.
Im Parteiprogramm stand unzweideutig etwas, was Voraussetzung des sogenannten Zwiedenkens war. Es war einfacher formuliert als Winston es je zu formulieren in der Lage gewesen wäre: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ Somit war festgelegt, dass das gegenwärtig Wahre wahr blieb bis in alle Ewigkeit. So einfach war das. Es war nichts weiter nötig als eine nicht abreißende Kette von Siegen über das eigene Gedächtnis, eine Art sanfter Gehirnwäsche, indem frühere Erinnerungen von der kriegerischen Macht der Gegenwart verdrängt wurden. »Wirklichkeitskontrolle« nannten sie es; in der Neusprache hieß es »Zwiedenken«.
Ich konnte Winston natürlich nicht an seinem Arbeitsplatz zu diesen mir so interessant erscheinenden Themen »Neusprech« und »Zwiedenken« interviewen. Hinter seinem Schreibtisch hing ein Televisor, der alles beobachten konnte. Ich wäre den Aufpassern mit meiner Fragerei direkt ins Netz gegangen.
„Setzen Sie sich bitte“, sagte Winston und siezte mich, weil wir nun offiziell Kollegen waren und es den Mitarbeitern untereinander verboten war, sich zu duzen. Das Duzen konnte persönliches Vertrauen schaffen und war somit eine Gefahr für die Partei.
„Womit gedenken Sie Ihre Arbeit zu beginnen?“, fragte ich in einem möglichst glaubwürdigen und gestelzten Englisch.
„Ich führe Sie als Erstes in die Systematik unserer Arbeitsweise ein.“ Er deutete an die Seitenwände neben seinem Schreibtisch, wo ich drei mit Klappgittern geschützte Schlitze in unterschiedlicher Größe sah. „Hier sehen Sie unsere wichtigsten Papierkörbe. Wir nennen sie Gedächtnislöcher. Sie existieren überall im gesamten Ministeriumsgebäude, auch auf den Fluren und in den Aufzügen.“
„Was dürfte ich darin entsorgen?“
„Wenn man weiß, dass ein Dokument zur Vernichtung bestimmt ist oder man sieht inoffizielle Papiere, getarnt als Abfallpapiere, herumliegen, ist es unsere Pflicht, das Schutzgitter des nächstbesten Gedächtnisloches hochzuklappen und das Papier dem darin herrschenden Luftsog zu überlassen.“
„Ein Luftsog soll etwas vernichten?“, fragte ich ahnungslos.
„Der Luftstrom wirbelt das Stück Papier fort zu unseren hochmodernen Verbrennungsöfen, die im Tiefgeschoss acht Etagen unter der Erdoberfläche arbeiten und an die Energieversorgung des Gebäudes angebunden sind.“
Winston griff nun in eines der Rohrpostfächer, in denen die für ihn vorgesehenen Arbeitsaufträge landeten. Er zog eine Ausgabe der Times vom 17.3.1984 hervor, an der ein Zettel heftete. Darauf stand: BS Rede Fehlbericht Industrie China rechtstellt.
Winston sah zu mir und sagte: „Reine Routine.“ Der Arbeitsauftrag, den er erhalten hatte, bezog sich auf einen Artikel, in dem eine Rede von Big Sister (BS) Margaret Thatcher zur Auslagerung von britischer Industrie zwecks Zerschlagung der Gewerkschaften und wegen der Gewinnung finanzieller Vorteile für die Bank of England abgedruckt war. Der Artikel musste umgeschrieben oder, wie die offizielle Phraseologie lautete, richtig gestellt werden.
So ging aus dem Artikel vom 17. März hervor, dass Big Sister in ihrer Rede am Vortag prophezeit hatte, die Gewerkschaften würden bis zum Ende des Empires eine nationale Gefahr darstellen und auf der anderen Seite würden die lebensnotwendigen, systemrelevanten Finanzeliten durch die Auslagerung einiger Industriezweige nicht genügend Geld generieren können, um neue Finanzprodukte wie gebündelte Immobilienzertifikate und Wetten auf Kreditversicherungen auf den Weg zu bringen. Man müsste noch mehr Kernindustrie und auch die Zulieferindustrie nach Asien auslagern.
In Wirklichkeit jedoch lagen die Gewerkschaften bereits am Boden und die Arbeitnehmerschaft wie auch die Labour-Party hatten kapituliert, wobei Labours Führungselite inzwischen vollständig von amerikanischen Maulwürfen unterwandert war. Dem musste Winston Smith nun Rechnung tragen. Also schrieb er, dass Big Sister in den Gewerkschaften keine Gefahr sah, da diese sich zu Recht als überflüssig begriffen und freiwillig auflösten.
Natürlich sah die Große Schwester in dem neu geschriebenen Artikel voraus, dass die Finanzindustrie clever genug sei, um unendliche Liquiditätsmittel flüssig zu machen, und dass man keineswegs auf den letzten Ausverkauf der Zulieferindustrie angewiesen sei, aber dass dies durchaus überlegenswert wäre, wenn man global als größter Finanzplayer neben der Wallstreet agieren wolle. Winstons Neuschreibartikel endete mit „Wie klug von Margaret, der nationalen Führerin!“
Der Televisor stieß einen Trommelfell zerreißenden schrillen Pfeifton aus, der zirka zehn lange Sekunden anhielt.
Ich schreckte hoch, riss die Augen auf, griff nach meinem Wecker, stellte ihn mit zittriger Hand aus und rieb mir völlig verwundert die Augen. Es war Punkt sieben Uhr.
Puhh, einen solchen Albtraum hätte ich mir nicht – nicht freiwillig! – träumen lassen. George Orwell hatte mich in seiner Totalität in den Bann gezogen; ihm hatte ich diese traumatische Reise zu seiner Romanfigur Winston Smith zu verdanken.
Die Dusche erlöste mich aus meinem verschwitzten Zustand, verschaffte mir Erfrischung und positive Gedanken. Vor mich hin sinnierend schüttelte ich entschieden den Kopf, und meine halblangen Haare flogen mir nass um die Ohren. Niemals würden in unserem demokratischen Land solch exzentrische Zustände der Überwachung herrschen wie in Orwells Ozeanien und seiner Hauptstadt London. Unsere Demokratie, unsere Institutionen, unsere Zivilgesellschaft würde niemals die Durchdringung und Verletzung unserer Privatsphäre hinnehmen. Niemals würden wir gezwungener Maßen oder gar freiwillig die Daten unseres intimsten Lebens einer staatlichen oder privatkapitalistischen Überwachungsorgie preisgeben. Niemals!
Ich musste gerade jetzt an unseren fünfundzwanzigjährigen Nachbarn Stefan denken. Er hatte sich, wie er mir in der Saunarunde berichtet hatte, vor einigen Monaten arbeitslos melden müssen. Da er als Jungschauspieler keine der Arbeitsamtskriterien erfüllte, fing ihn das Netz des Sozialamtes auf. Er musste zwar ein umfangreiches Formular von vier Seiten ausfüllen, aber keine weiteren Belege anfügen. Er bekam den zum Leben notwendigen Unterhaltssatz ohne weiteres ausbezahlt.
„Und was, wenn du nun Vermögen hättest, vielleicht Hausbesitzer wärst?“
„Danach wurde ja gefragt; ich habe es wahrheitsgemäß ausgefüllt, nämlich, dass ich über kein weiteres Vermögen verfüge.“
„Keine Belege?“
„Was soll ich denn belegen, wenn ich nichts habe?“, hatte Stefan geantwortet. „Das Finanzamt und auch meine Bank wissen das doch.“
„Aber es gilt ja das Bank- und das Steuergeheimnis. Wie will denn das Sozialamt die Sache überprüfen?“
„Na hör mal! Unser Staat muss doch seinen Bürgern auch irgendwo glauben! Wer betrügt, kann auffliegen und dann gibt’s ‘ne saftige Strafe. Aber ansonsten leben wir doch nicht in einer Überwachungsrepublik! Noch immer und für immer gilt das Steuergeheimnis. Und auch das Bankgeheimnis ist ein essentielles bürgerliches Recht!“
Ja, dachte ich, da hatte Stefan absolut Recht: Niemals könnten solche fundamentalen Bürgerrechte ausgehebelt, ausgehöhlt und zu einem durchlöcherten Schweizer Käse gemacht werden! Niemals!
Und es gab noch eine Menge anderer Niemals.
Niemals – niemals nach 1945! – würde unser Land oder einer unserer engsten Verbündeten Krieg führen und Millionen Tote in Kauf nehmen. Niemals würde irgendjemand in unserem Land versuchen, die Vergangenheit umzuschreiben und die Greuel der Naziverbrecher beschönigen. Niemals würde irgendwer in diesen unseren Herrschaftsgefilden extra Chaos produzieren, um von den Versäumnissen oder den wahren bösen Absichten der neuen Herrschenden abzulenken.
Niemals würde man uns Angst mit mutwillig erzeugtem Terror einflößen, um uns gehorsam zu halten. Niemals würde unsere Demokratie zur Farce degradiert und niemals würden die Bürgerrechte ausgehöhlt werden. Niemals würden technische Produkte entwickelt, die uns in unserem Haushalt belauschen und mit Privatfirmen oder staatlichen Diensten gekoppelt wären.
Niemals würden wir freiwillig solche Überwachungsgeräte in unser Heim hereinlassen, selbst nicht unter dem Vorwand, dass sie unseren Alltag erleichtern. Eine totalitäre Überwachung durch Geheimdienste und andere geheime staatliche Institutionen wäre undenkbar.
Niemals würden Konzerne unser Konsumverhalten bis ins Detail ausforschen und uns offen oder verdeckt steuern können. Unsere Gewerkschaften würden sich niemals entmachten und die SPD würde sich nicht wie die Labour-Party von überseeischen Einflüsterern unterwandern lassen, niemals! Nein, nein, nein – 1984 war in der Bundesrepublik undenkbar. Völlig undenkbar.