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1985 & die Generation Golf

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Lutz kam aus Berlin zu Besuch. Aus dem pubertären Jungen war ein sechsundzwanzigjähriger Mann geworden. Früher hatten die siebeneinhalb Jahre, die zwischen uns lagen, eine enorme Distanz bedeutet. Jetzt waren die paar lächerlichen Jährchen bedeutungslos. Wir hatten uns seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte sich stark verändert, war schlank, hochgewachsen, trug Dreitagebart, schicke Klamotten und fuhr einen Golf.

„Ah, Generation G.!“, sagte ich, und in meiner Stimme schwang wohl etwas Mehrdeutiges, vielleicht sogar Skepsis mit.

„Nein, ich gehöre nicht zur Generation Golf“, erwiderte Lutz so bestimmt, dass ich beruhigt war.

Wir standen an seinem silbergrauen fahrbaren Untersatz, und ich seufzte ein erleichtertes, hörbares „Uff, gut so!“

„Zu ihr gehören die zwischen 1965 und 1975 Geborenen. Nina zum Beispiel gehört eher dazu.“

„Eine ziemlich verwöhnte Generation“, antwortete ich beiläufig, wobei mir die Erwähnung von Nina im Hinterkopf blieb. Lutz war einmal Ninas, fast acht Jahre älterer, beschützender Freund gewesen. Beinahe hätte er sich damals in seine kleine Nachbarin verliebt, doch dazu war sie zu jung. Immerhin hatte er ihre Not bemerkt. Schließlich hatte Lutz in seiner Pubertät ebenso mit seiner Mutter über Kreuz gelegen, hatte den geschiedenen Vater vermisst und verflucht und war ausgebüxt.

Ich lotste ihn jetzt samt seines altbewährten Seesacks, den ich noch aus San Francisco kannte, ins Haus, wo er Emma und die Kinder herzlich begrüßte.

Später saß ich alleine mit ihm am Kamin, während an diesem Abend Emma den Kindern aus einem unserer vielen Kinderbücher vorlas und die Bilder erklärte. Diesmal waren es weder Bauernhof- noch Tierbilder. Es war auch nicht das erst vor vier Wochen noch höchstbeliebte Weihnachtsbilderbuch. Ich hatte auf dem Heimweg von meinem Arbeitsplatz an der Frankfurter Uni bei der Kollektiv-Buchhandlung in der Goethestraße ein brandaktuelles Bilderbuch gekauft. In meinen Augen ein fortschrittliches und zeitgemäßes Bilderbuch, kein altbackenes. Es war von Erhard Dietl und hieß »Die Olchis. So schön ist es im Kindergarten«.

Aber Emma hatte gemeint, das Buch sei noch nichts für unsere beiden, sie lese lieber aus dem romantischen Winterbilderbuch mit Rodeln und Schneeballschlacht und Schneemann vor.

„Gute Idee“, antwortete ich, und das war es auch. Dennoch war ich ein wenig enttäuscht.

Emma sah es mir wahrscheinlich an, denn sie sagte: „Die Olchis und der Kindergarten – das ist ein bisschen vorgegriffen, ein wenig zu früh, aber gut gemeint. Vielleicht ist es etwas im nächsten Jahr für Karola. Was wir aber demnächst unbedingt machen sollten: Karola, ebenso wie Luca, im Kindergarten anmelden. Da bestehen lange Wartelisten, wie mir Gitti sagte. Zwei Jahre Anmeldefreist oder so. Dürfen wir nicht vergessen!“

Jetzt hörten Lutz und ich am Kamin das Prasseln und Knistern des brennenden Holzes, wie damals in Berlin.

„Hast du etwas von ihr gehört?“, fragte ich.

„Von wem?“ Lutz sah mich mit seinen braunen großen Augen fragend an.

„Von Nina. Entschuldigung, tut mir leid, sorry, sorry, ich müsste wissen, dass zu deiner Schulzeit Gedankenlesen noch nicht im Fächerkanon vertreten war.“

„Ich würde jetzt gerne als Parapsychologe über ein Medium mit Nina in Kontakt treten. Denn ich habe seit zwei Jahren nichts mehr von ihr gehört. Du könntest mein Medium sein.“

„Ich?“

„Na klar, du hattest mich doch gebeten, von Doro – von der ich dich und Emma grüßen soll – die Aufzeichnungen über Nina mitzubringen. Ich habe den verschlossenen Umschlag noch im Auto. Soll ich ihn holen, Mr. Medium?“

„Nein, danke, lass mal, morgen reicht auch noch. Du wirst nach der langen Fahrt müde sein. Lass uns lieber ins Bett gehen. Wir schauen uns das, was Doro mitgegeben hat, ein andermal an.“

Aber Lutz war gewissenhaft und holte Doros Umschlag doch noch aus seinem Golf. Ich legte ihn zur Seite. Die Sache konnte warten.

Ich lag im Bett und natürlich ging mir die Geschichte von Nina noch einmal durch den Kopf.

Nina war seit ihrem vierzehnten Lebensjahr immer wieder mit Drogen in Berührung gekommen. Zuerst war es Cannabis, dann kamen Unmengen chemischer Aufputschmittel dazu, später LSD. Und mit der Babystrich-Prostitution war Heroin ins Spiel gekommen. Jetzt musste Nina gewiss schon zwanzig sein – wenn sie denn noch am Leben war. Die Unterlagen, die meine frühere langjährige Berliner Freundin Doro mit Lutz für mich auf den Weg gebracht hatte, enthielten die Protokolle aus der Bahnhof-Zoo-Zeit. Damals, Anfang der Achtziger, war Doro in ihrem Sozialpraktikum mit Nina in Kontakt gekommen.

Am nächsten Vormittag, als Lutz noch schlief, blätterte ich in den Skripten herum und mein Auge fiel auf den Namen »Narconon« und auf das Jahr 1982. Meiner Erinnerung nach war Narconon damals ein von einer radikal-autokratischen Sekte gesteuertes Therapiehaus gewesen, mit Hang zur autoritären Unterdrückung der individuellen Persönlichkeit und mit leidenschaftlichem Hang zum Führerprinzip. Ihr Führer, der US-amerikanische Science-Fiktion- und Pulp-Magazin-Autor L. Ron Hubbard, wurde dort wie ein Halbgott gehandelt. Er hatte die Sekte aus Interesse für Okkultismus und Magie gegründet. Träger der Westberliner suchttherapeutischen Einrichtung war sein Verein, die Scientology Church.

Nina hatte Doro damals von ihrem Kampf um einen therapeutischen Drogenplatz berichtet. Es war das Gespräch mit einer Drogenberaterin, die Nina wohlgesonnen war.

Ich las: „Die Drogenberaterin sagte, es gäbe in ganz Berlin keine freien Therapieplätze. Erst atmete ich auf, weil ich eigentlich einen ziemlichen Bammel vor diesen Therapien hatte. Sie waren unheimlich hart, erzählte man auf der Szene. Die ersten Monate sollten schlimmer als im Gefängnis sein. Bei einigen musste man sich sogar eine Glatze schneiden lassen. Wahrscheinlich sollte man auf diese Weise den ernsthaften Willen zum Neubeginn beweisen.

Ich war mir sicher, dass ich das nicht bringen könnte, wenn ich wie Kojak rumlaufen musste. Meine langen Haare waren mir heilig; dahinter konnte ich mein Gesicht verstecken. Haare abschneiden oder mir die Pulsadern aufschneiden, das war für mich dasselbe. Die Drogenberaterin riet mir von Narconon ab, als ich ihr erzählte, dass einige Fixer schon bei Narconon waren und meinten, der Laden sei voll in Ordnung. Sobald man eine Vorauszahlung geleistet hatte, wurde man bedingungslos aufgenommen, so wie man war, in all den Fixerklamotten und sogar mit eigenen Psychedelic-Rock-Schallplatten.“

In Doros Aufzeichnungen fand sich der Hinweis, dass die Drogenberaterin genau aus diesem Grund zu Nina gesagt hatte: „Denk mal gründlich darüber nach, warum so viele Fixer dieses Zentrum dufte finden! Ich kenne nämlich niemanden, der dort erfolgreich therapiert worden wäre.“

„Was soll ich denn tun, wenn ich sonst nirgendwo aufgenommen werde?“, hatte Nina weinend gefragt. Da erhielt sie die Adresse von Narconon.

„Ich werde jetzt absolut clean, Mama!“, sagte Nina zu Hause. „Ich gehe für einige Monate oder vielleicht auch für ein ganzes Jahr zu Narconon.“

Ihre Mutter glaubte ihr nach den vielen erfolglosen Entzugsversuchen kein Wort, erkundigte sich aber ausführlich über diesen Verein. Nina war voll auf den Therapietrip abgefahren und in Hochstimmung. Diesmal würde es klappen. Sie hatte keinen Freier mehr gemacht und war im Moment ohne Heroin. Sie wollte entziehen, bevor sie zu Narconon ging.

„Ich wollte dort nicht erst ins Turkey-Zimmer, wo man mit dem Entzug tagelang kämpft. Ich wollte einen Vorsprung vor den anderen Neuen haben, um zu beweisen, dass ich den echten Willen hatte, clean zu werden.“

Am nächsten Morgen schlug der Entzug voll zu. Es war so schlimm wie bei den vielen anderen Entzugsversuchen, vielleicht sogar noch krasser, wie Nina Doro berichtet hatte. Aber sie dachte trotzdem, dass sie es schaffen würde.

„Wenn ich meinte, die Schmerzen würden mich umbringen, hielt ich dagegen: Nein, es ist das Gift, das meinen Körper endlich verlässt. Du wirst besser leben als vorher, und nie wieder wird irgendein Gift in deinen Körper gelangen!“

Am dritten Entzugstag war Nina nur am Träumen. Sie träumte wunderschöne Dinge, träumte von einem besseren Leben, von einer eigenen Wohnung, in der das Wichtigste das Schlafzimmer war. Überall standen Zimmerpalmen, und hinter ihrem Bett war eine Bildtapete, die eine Wüsten-Oase mit riesigen Sanddünen in Abendstimmung zeigte. Kamele waren zu sehen und Beduinen, die mit ihren weißen Kopftüchern total relaxed im Kreis saßen, Shisha rauchten und Tee tranken.

Auf einer Seite des Schlafzimmers hatte sie unter dem Fenster der Dachschräge eine gemütliche Sitzecke eingerichtet, wie man sie aus Indien oder aus Tausend-und-einer-Nacht kannte. Eine Menge buntbestickter Kissen lag um einen niedrigen runden Tisch herum. Da sah sich Nina im Traum abends mit ihrem Freund Helle sitzen; es herrschte eine entspannende Ruhe, und sie waren zufrieden, weil es weder Hektik noch Probleme gab.

„Am darauffolgenden Tag ging es mir schon so gut, dass ich mein Zimmer verlassen konnte. Da fand ich noch zwanzig Mark in meiner Jeansjacke, die mich irgendwie in Gedanken gefangen nahmen. Es war ja genau die Hälfte von dem, was man für einen Schuss H benötigte. Und plötzlich überkam mich der Gedanke, dass es doch eine Art Abschiedsgeschenk sei, wenn ich mir einen letzten Druck besorgen könne, bevor ich morgen zu Narconon gehe.“

Nina wollte noch einmal einen Bummel rund um die Gedächtniskirche und ums KaDeWe machen, in der Nähe ihres alten Bahnhof-Zoo-Terrains. Bei Narconon gab es keinen Freigang und wenn, dann nur in Begleitung. Jetzt nur noch einmal einen schönen Bummel unter H genießen, nur noch einen einzigen Schuss, dachte sie. Doch wie konnte sie die restlichen zwanzig Mark auftreiben? Einen Freier im Bahnhof aufreißen? Da konnte sie ihrem Freund Helle begegnen, der ihr die Hölle heiß machen würde, nachdem sie nun so viele Tage den Entzug durchgehalten hatte.

Als sie in der U-Bahn saß, musste sie an den Autostrich denken. Es sollte doch ein Leichtes sein, wenn sie emotional abschaltete. Aber sie musste sicher sein, dass sie an keinen Zuhälter geriet, denn die tarnten sich oft als Freier. War man bei ihnen erst einmal ins Auto gestiegen, war man verloren. Ninas Freundin Claire, die früher auf den Babystrich gegangen war, hatte ihr erzählt, dass sie mal für vier Tage von so einem Typen gefangen gehalten und gefoltert worden war.

Die Zuhälter wollten ihr Terrain frei von Fixerinnen halten, weil sie die Preise für den Profi-Strich verdarben. Die Profi-Nutten waren genauso rabiat wie ihre Zuhälter und zerkratzten einer Fixerin schon mal so das Gesicht, dass es wochenlang wie Hackfleisch aussah. Nina stieg am U-Bahnhof Kurfürstenstraße aus und dachte an die Ratschläge ihrer Leidensgefährtinnen Claire und Tina: Keine jungen Sportwagentypen, keine Ami-Schlitten und Typen, die schon auf hundert Metern wie Zuhälter aussahen.

„Ich achtete also auf Kindersitze hinten im Auto und auf ältere Männer mit Bauch und konservativer Kleidung. Denn die wollten gewiss nur mal eine Abwechslung von ihrer kinderüberforderten und asexuellen Mutti und hatten mehr Angst als wir Mädchen. Schon nach kurzer Zeit hielt ein beiger Ford, allerdings ohne Kindersitz, dafür ein netter, etwas fülliger Typ, der mir ehrlich erschien. Ich wollte es schnell hinter mich bringen, und er war auch sehr unkompliziert. Er wollte mich unbedingt wiedersehen, aber nun fahre er erst mal mit seiner Frau und den drei Kindern nach Österreich in den Urlaub.“

„Hast du dir dann gleich Stoff besorgt?“, hatte Doro in ihrem Interview-Protokoll gefragt.

„Ich ließ mir Zeit. Ich stand ja körperlich nicht mehr unter Druck. Ich fuhr in aller Ruhe mit der nächsten U-Bahn zur Technischen Uni, wo ich sicher war, einen der Stammdealer anzutreffen. Ich bin ein bisschen rumgeflippt, habe mit ein paar Szene-Typen gequatscht und bin mit einem Hund von einem aus der Szene eine halbe Stunde Gassi gegangen. Tiere sind immer noch die besseren Menschen, dachte ich; sie sind in ihren Gefühlen ehrlich und verstellen sich nicht; sie geben die Liebe, die man ihnen gibt, hundert pro zurück.“

„Und dann hast du Dope gekauft oder hast du es dir noch einmal überlegt?“

„Natürlich wäre es besser gewesen, ich hätte mein Hirn eingeschaltet. Aber ich war so total happy und wollte echt noch einen schönen H-Bummel über den Kudamm machen. Also kaufte ich beim nächstbesten Bekannten ein halbes Dope für 40 Mark, ging zur Damentoilette und setzte mir feierlich den letzten Schuss vorm endgültigen Abschied aus der Szene.“

„War dein anschließender Abschiedsbummel über den Kurfürstendamm wirklich ein so tolles Ereignis?“

„Er fand nicht statt, weil ich drei Stunden danach auf der Toilette aufwachte. Ich hatte nicht bedacht, dass man nach einem mehrtägigen Entzug nicht gleich wieder mit der vollen Dosis einsteigen darf. Und so hat mich das Dope voll weg gehauen. Als ich später nach Hause kam, hat meine Mutter natürlich gemerkt, was mit mir los war. Sie hat mich angeschrien, warum ich noch nicht bei Narconon sei. Ich hätte es ihr doch versprochen. Ich rastete sofort aus, weil ich mich durchschaut und ertappt fühlte und weil nur mein Schreien meine gegen mich selbst gerichtete Aggression überdecken konnte.

»Pack sofort deine Sachen«, hat meine Mutter gebrüllt. »Du gehst noch heute Abend zu Narconon. Ich habe dich dort bereits angekündigt.«

Aber jetzt wollte ich auch wirklich selbst gehen. So verließen wir also zerstritten die Wohnung und fuhren mit einem Taxi nach Zehlendorf, wo die Einrichtung ihren Sitz hatte.

Die Narconon-Leute stellten mir keine Fragen. Das Wichtigste für sie war, dass meine Mutter ihnen versprach, die 1.900 D-Mark Vorauszahlung für den ersten Monat am nächsten Tag in bar vorbeizubringen. Ihre Bank würde ihr einen Kleinkredit geben, und sie bettelte darum, dass man mich dabehalten solle. Die Aufnahme-Jüngelchen waren einverstanden.“

„Und wie war die Therapie?“

„Ich teilte das Zimmer mit einer zehn Jahre älteren Frau, die schon ein bisschen kirre war. Sie lachte über die Therapien und die sogenannten Therapeuten und bekam als Strafe dafür keine einzige Sitzung. Das fand ich natürlich paradox. Normal hätte sie Extra-Sitzungen benötigt, dachte ich mir. Aber ich kannte das ja alles noch nicht und schwieg.

Zwei Typen holten mich am nächsten Tag zu meiner ersten Session ab. Dazu wurde ich mit einem dieser jungschen Typen, einem Ex-Fixer, in einen Raum eingeschlossen, wo der mir nun völlig blödsinnige Befehle erteilte. Das einzige Wort, das ich benutzen durfte, war »Ja«. Ansonsten musste ich schweigen und den Befehlen bedingungslos gehorchen, auch wenn ich sie absolut unsinnig fand.

Der Typ befahl mir zehn Kniebeugen zu machen, danach sollte ich von einer Wand zur anderen gehen, sie jeweils mit einer Hand berühren, kehrt machen und dann das ganze Programm bis zum Umfallen von vorne. Als es mir irgendwann zu blöd wurde, sagte ich: »Was soll der ganze Quatsch. Lass mich einfach in Ruhe, ich will auf mein Zimmer. Ihr seid ja alle völlig verrückt.«

Aber der Typ lächelte nur und brachte mich nach einer Weile tatsächlich dazu, weiterzumachen. Ich sollte dann auch Inventar berühren und statt Kniebeugen einen Expander zehn Mal ziehen, bis ich wirklich nicht mehr konnte und mich vor Erschöpfung auf den Boden warf und einen Heulkrampf bekam.

Jetzt sollte ich rufen »Ich bin frei! Ich bin frei!«

Der Typ lächelte weiter, und als ich mich beruhigt hatte, befahl er mir weiterzumachen, was ich wie in Trance auch tat und dabei schon sein aufdringliches irres Lächeln übernommen hatte. Irgendwann spürte ich nichts mehr, rein gar nichts mehr. Nach mehr als fünf Stunden war Schluss, und ich glaube, dass ich es auch keine Sekunde länger ausgehalten hätte.

»Ich habe eine erholsame Überraschung für dich«, sagte der therapeutische Komiker und führte mich in ein Nebenzimmer. Dort stand auf einem Tisch ein merkwürdiges Gerät mit einer Nadel, die zwischen zwei Blechbüchsen hin und her pendeln konnte. Ich musste die Büchsen anfassen, und der Typ fragte, ob ich mich wohl fühle.

Ich bejahte und betonte, wie entspannt ich jetzt sei und wie ich alles sehr viel intensiver erleben würde.

Mein komischer Therapeut starrte gebannt auf die Nadel. »Es hat sich nicht bewegt, das spricht für dich. Du sagst also die Wahrheit. Das heißt, dass die Session ein Erfolg war.“

Das merkwürdige Gerät war so etwas wie ein Lügendetektor, ein Kultgerät der Scientologen, das sie immer wieder zum Einsatz brachten, um angebliche Lügen aufzudecken. Ein wahres Einschüchterungsinstrument. Jedenfalls war ich beruhigt, dass ich die Session erfolgreich hinter mir hatte und sie nicht wiederholen musste. Das Pendel, das mich in der kommenden Nacht im Traum verfolgte, hatte nicht ausgeschlagen! Danach fragte mich dann auch meine Zimmergenossin, und als ich ihr von meinem Erfolg und dem Pendel berichtete, bekam sie einen genauso irren Lachanfall, wie mein Therapeut jedes Mal ein völlig irres Lächeln im Gesicht hatte.“

Als ich die Sichtung von Doros Unterlagen an dieser Stelle unterbrach, weil Lutz zum Frühstück herunterkam, musste ich unwillkürlich wieder einmal an George Orwells »1984« denken, an die dort beschriebenen sinnlosen und quälenden Gymnastikübungen zur angeblichen Aufmunterung des Geistes der Ministeriumsmitarbeiter, was tatsächlich weniger der Aufmunterung als der Abstumpfung und Verblödung diente. Dazu diese unerträglichen ideologischen Tageslosungen, durchmischt mit Slogans von Freiheit und Glück. Irre, einfach nur irre!

*

Am 1. Januar des neuen Jahres startete das erste private Satelliten-Fernsehprogramm »SAT 1«. Es finanzierte sich, anders als die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ARD und ZDF, ausschließlich aus Werbeeinnahmen. So wurden die Filme nun ständig von eingeblendeten Werbespots unterbrochen. Emma und ich sahen irgendeinen mistigen Hollywoodfilm. Es war ein Grauen. So oft konnte kein Mensch pinkeln, wie für Oetkers Suppen und Puddingpulver oder für eine Hustenpille aus dem Haus des Pharmakonzerns Bayer geworben wurde.

„Mit SAT 1 hat das Großkapital wieder ein Sprachrohr mehr“, sagte ich beim Abendessen.

„Howgh, Treffer theoretisch gelandet, aber praktisch gesehen: U-Boot taucht ab und fährt weiter“, antwortete Emma.

Großes Kapital zieht großes Kapital an, dachte ich. „Großkapital ist wie ein Magnet“, hatte einer unserer jungen Professoren im volkswirtschaftlichen Teil meines Studiums erläutert und auf Marxens Theorie von der Akkumulation des Kapitals und der Monopolbildung verwiesen. Jetzt vereinigten sich zwei Giganten zu Supermonopolen; die zwei größten Stahlunternehmen der Bundesrepublik, Krupp Stahl und Klöckner, schlossen sich zu einem Unternehmen mit 43.000 Mitarbeitern zusammen.

„Hätten sich auch Oetker und der Pharmakonzern Bayer zusammengeschlossen, würden all die Suppen und Soßen wahrscheinlich nicht viel anders schmecken“, sagte ich. „Da ist doch überall Chemie drin.“

„Howgh, wieder mal Treffer gelandet, und praktisch gesehen bedeutet es für uns: Suppen selber zubereiten und kein Fertigzeugs auf den Tisch“, antwortete Emma.

Mitte Januar wurde erstmals seit Bestehen der BRD im Ruhrgebiet Smog-Alarm der Stufe III ausgerufen. Es bedeutete ein absolutes Fahrverbot für Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotoren. Der Krupp-Husten, der seinen Namen dem Krupp-Stahl-Konzern aus dem smoggebeutelten Essen verdankte, ließ grüßen.

In London begrüßte die Welt das »Baby Cotton«. Zum ersten Mal wurde ein Kind auf Bestellung von einer Leihmutter, Kim Cotton, ausgetragen. Die Samen stammten im Rahmen einer künstlichen Befruchtung vom Auftraggeber. Nach der Geburt wurde das Baby gegen eine Zahlung von umgerechnet 24.760 D-Mark an die Auftraggeber übergeben. Das oberste Gericht Großbritanniens gestattete dies. Rund um die Welt wurde daraufhin diskutiert. Der Fall löste auch in der Bundesrepublik heftige Diskussionen aus. Vier Jahre später wurde das Embryonenschutzgesetz verabschiedet, das die Leihmutterschaft verbietet.

Ein anderes Leihgeschäft war inzwischen groß ins Rollen gekommen – in Videotheken florierte das Geschäft mit dem Verleih von Filmen auf Videokassetten. Nun standen 3.664 Kinos mit 125 Millionen Besuchern nicht weniger als 4.850 Videotheken mit 128 Millionen entliehenen Videos gegenüber. Es dominierte der Verleih mit einem Preis zwischen zwei und fünf Mark pro Film, während Kaufkassetten noch die Ausnahme blieben.

Und eine weitere schnuckelige Leihgabe kam ins Gerede. Die Bundesregierung bestätigte erstmals offiziell die Existenz nuklearer Kleinkampfmittel der US-Armee auf deutschem Boden, neben den Big Bombs, den Atom-Eiern, welche die US-amerikanische Luftwaffe dem rheinland-pfälzischen Örtchen Büchel ins Nest gelegt hatte. Auf diese Leihgabe konnte man wahrlich verzichten, dagegen war »Baby Cotton« ein echtes Gottesgeschenk.

Mein Freund Hörbi besuchte mich an meinem Uni-Arbeitsplatz. Als ich mit ihm beim Tee das leidige Atomwaffenthema erörterte, fragte er: „Seit wann so pessimistisch?“

„Seit ich Vater bin. Da wird man noch unduldsamer als vorher.“

„Lass dir den Optimismus nicht verderben. Dein Humor hat dich bisher doch gut durchs politische Leben gebracht.“

Da fiel mir ein Spruch meines verstorbenen Karnevalsonkels mit dem irgendwie sehr blöden und historisch verpönten Namen »Adolf« ein – ich glaube, Onkel Adolf hatte unter seinem Namen nach dem Krieg arg gelitten. Onkel Adolfs Spruch musste ich Hörbi gleich unter die Nase reiben.

Der Pessimist sagt: „Schlimmer geht’s nicht!“

Der Optimist antwortet: „Oh doch!“

„Es gibt aber auch echt Gutes zu berichten“, meinte Hörbi. „Und das lässt einen wirklich etwas optimistischer in die Welt gucken.“

„Nämlich?“

„Nämlich, dass das Saarland gerade als erstes Bundesland den Umwelt- und den Datenschutz in seine Landesverfassung aufgenommen hat. Und dass der Bundestag vorgestern alle Urteile des früheren NS-Volksgerichtshofs endlich für nichtig erklärt hat.“

Rasante Zeiten - 1985 etc.

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