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Umweltchaos, Spionage & Fluchthelfer
ОглавлениеAm 3. Dezember starben in der indischen Stadt Bhopal über 2.000 Menschen an den Folgen einer Giftkatastrophe. Das Ausströmen von hochgiftigen Gasen aus einem undichten Ventil einer Pflanzenschutzmittel-Fabrik war die Ursache. Die Wirkung war verheerend, mehrere tausend Menschen kostete die Katastrophe das Augenlicht. Fast eine ganze Region wurde blind. Eine menschliche Katastrophe und ein Umweltdesaster ohne gleichen.
Emma und ich – und auch viele unserer Nachbarn, gleich welcher Partei sie gewogen waren – wollten und konnten nicht länger blind gegenüber der neuen Qualität von Umweltbelastungen bleiben. Wir Jungeltern wurden superkritisch.
„Ich glaube, dass man in dem Moment, wo man Kinder hat, wesentlich aufmerksamer in Sachen Gesundheit und Umweltbelastung ist“, sagte Emma, als Doris sie eines Tages darauf ansprach, weshalb alle jungen Mütter plötzlich so viel Wert auf gesunde Umweltbedingungen legten. Das habe früher doch nicht so stark im Focus gestanden.
„Die Umweltbelastungen nehmen rapide zu“, sagte Emma.
„Die Sünden der Vergangenheit werden und wurden von der natürlichen Umwelt lange resorbiert und geschluckt“, ergänzte ich. „Wenn aber gewisse Grenzwerte überschritten sind, ist Sense!“ Meine Einstellung der Wachstumseuphorie gegenüber war deutlich kritischer geworden. Beide Gesellschaftssysteme, Kapitalismus wie Sozialismus, litten aus meiner Sicht unter den gleichen falschen Wachstumsprämissen.
Meine neue wissenschaftliche Ausrichtung auf Aspekte des Umweltschutzes war nur logisch. Ich sichtete und orderte Umweltliteratur am Institut für Sozialforschung, errichtete eine institutsinterne Katalogisierung und forschte bundesweit nach ökologischen Untersuchungen, die in politologischer wie soziologischer Hinsicht von Relevanz waren. Die Zeit jedoch war wohl noch zu früh, und Forschungen, gar Forschungsergebnisse, waren dünn gesät. Aber es gärte. Auch in mir.
Mitte Dezember trafen mich zwei DDR-Ereignisse kurz hintereinander. Als erstes besuchten uns Ronny, der Frankfurter Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, und seine 1981 aus der DDR geflüchtete Freundin Josi.
Das zweite Ereignis trat etwas später ein, denn Tamara, meine gute Freundin aus Ostberlin, Maschinenbauingenieurin und inzwischen Funktionärin des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, FDGB, in der DDR, kündigte ihren Besuch im Frankfurter DGB-Haus an und fragte um Übernachtung bei uns nach.
Ronny – das erste Ereignis – war ein alter Klassenkamerad, noch aus Zeiten der Realschule; er war eine Klasse unter mir gewesen. Trotz seines konservativ-angehauchten Berufsstandes liebäugelte er mit den Frankfurter Hausbesetzern und verstand sich als bürgerlicher Rebell. Er konzentrierte sich mandantenmäßig auf linke Betriebe wie kleine und mittelgroße Verlage, Cafés und Kneipen, Buchhandlungen, Kinderläden, selbstverwaltete Betriebe, alternative Taxiunternehmen, ehemalige Kommunen, die nun Landwirtschaft und Viehzucht betrieben und solche Dinge.
Darüber hatte er, wie ich im September anlässlich einer Datenschutz-Konferenz im Hessischen Landtag erfahren hatte, Kontakt zu einem der linksradikalen Hausbesetzer gefunden, der Joschka hieß. Nun erzählte mir Ronny von dieser Bekanntschaft, da er ihn inzwischen als Taxifahrer und Grünen-Abgeordneter steuerlich berate. Wir kamen auf Fischers Putztruppe, auf Frankfurts radikale Spontis, zu sprechen, die ich politisch nicht ausstehen konnte.
Sie waren totale Antikommunisten. Und diese – auch noch „links“ verkleidete – Propaganda-Ideologie empfand ich gemäß der Einsicht von Thomas Mann als eine »Grundtorheit unserer Epoche«. Denn die ursprüngliche kommunistische Idee von Karl Marx war absolut in Ordnung. Es war die Idee einer entfremdungsfreien Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Sie war nicht nur verlockend – sie war eine alte historische, ja paradiesische Idee der Menschheitsgeschichte. Alle Religionen, alle fortschrittlichen Philosophien orientierten sich mehr oder minder an solchen Vorstellungen von einer freien, selbstbestimmten Gesellschaft, in der nicht Wenige über Viele bestimmen, sondern alle gemeinsam in demokratischem Konsens das Sagen haben.
Aus meiner politischen Sicht beschädigten die Westend-Schlägertrupps rund um Fischer und Cohn-Bendit diese Idee und beförderten zugleich den Überwachungs- und Polizeistaat, kitzelten mit ihrer linksradikalen Kinderkrankheit die reaktionäre Gegengewalt geradezu heraus.
Überdies waren sie – ähnlich wie die RAF – rabiaten Gewalttätigkeiten gegenüber Sachen, wie gegenüber Personen nicht abgeneigt. Auch waren sie über den Terroristen Hans-Joachim Klein dicht verwoben mit den Terrorbanden der Roten Zellen, die ich im Verdacht hatte, eine Funktion ähnlich der von US- und italienischen Geheimdiensten gegründeten Roten Brigaden einzunehmen. Das verheerende Terrorwirken beider Organisationen nutzte nur den reaktionären Obrigkeiten.
„Weißt du, was ich so toll finde?“, fragte Ronnys Freundin Josi und sah mich an, wie jemand, der gerade das Licht am Ende des Tunnels entdeckt hatte.
„Was?“
„Dass man hier frei demonstrieren kann, ohne Angst haben zu müssen, dass man eingesperrt wird. Guck mal, was der Joschka Fischer alles angestellt hat und jetzt ist er angesehener Landtagsabgeordneter.“ Josi sah bedeutungsschwer in die Luft. „So etwas ist in der DDR nicht möglich. Ich bin froh, dass ich da rausgekommen bin.“
„Wie bist du eigentlich da rausgekommen?“, fragte ich, ohne auf ihre merkwürdigen Erkenntnisse einzugehen.
„Na ja, darüber redet man nicht.“
„Bist du gegen Ost-Agenten ausgetauscht worden?“, fragte ich lachend, „oder warum machst du da so ein Geheimnis draus?“
Sie sah mich entgeistert an. Offensichtlich hielt sie mich für bekloppt.
„Oder hat dich die Bundesregierung einfach nur freigekauft?“
„So wichtig bin ich wohl nicht!“, sagte Josi.
„Dann sag doch mal: Bist du irgendwie offiziell rüber gekommen? Oder eher inoffiziell und ganz abenteuerlich durch einen Tunnel? Ich verrate nichts weiter, Hand aufs Herz!“, beteuerte ich, musste aber doch breit grinsen.
„Du nimmst mich nicht ernst“, sagte Josi. „Du kannst das alles gar nicht nachvollziehen.“
„Was denn nachvollziehen?“
„Na ja, wie einem zumute ist, wenn man es da drüben nicht mehr aushält und in den Westen will, aber einfach nicht kann.“
„Verrate mir wenigstens, ob du einen Ausreiseantrag gestellt hast.“
„So etwas ist doch bei den Kommunisten völlig aussichtslos. Die lassen dich doch nicht einfach ausreisen.“
„Du hast es nicht versucht?“
„Wenn ich es versucht hätte, wäre ich auf einer schwarzen Liste gelandet; man hätte mich unter besondere Beobachtung gestellt und alle Fluchtmöglichkeiten wären mir auf immer verstellt gewesen.“
„Weißt du das hundertprozentig? Hast du das mit der schwarzen Liste von anderen gehört?“
„Nein, aber es ist doch logisch.“
„Warst du in einem besonderen Berufsbereich beschäftigt, vielleicht in einem Sicherheitsbereich?“
„Nein, ich war nur Verkäuferin in einem HO-Laden in Dresden. Trotzdem hätten die mich nicht ausreisen lassen. Sonst hätte ja jeder kommen können.“
„Ging es dir denn schlecht?“
„Was heißt schlecht! Es geht um die ganz persönliche Freiheit! Hier geht es mir doch viel besser! Hier kann ich kaufen, was ich will. Nichts ist limitiert; nichts gibt’s nur saisonal. Orangen und Bananen das ganze Jahr über! Hier kann ich mich über alles offen informieren, so viele Zeitschriften und Bücher. Ich kann reisen, wohin ich will. Ich kann alle möglichen Berufe ausüben. Ich bin doch genauso Deutsche wie Emma und du! Hier ist alles frei. Das habe ich vermisst.“
Mir war klar, dass Josi dem Schaufensterkapitalismus auf den Leim gegangen war. Sie war absolut auf dem Konsumtrip, der hier seit Mitte der Siebziger auf dem Durchmarsch war. Konsumwünsche zu wecken, die sich vielleicht wie ein in Aussicht stehender Lottogewinn erfüllen könnten – das war die triumphierende Waffe des Kapitalismus. Selbst viele ehemalige Freunde aus der 68er-Umbruchzeit, die sich damals gegen die erdrückende Glitzerwelt des Konsums gewehrt hatten, waren ihr jetzt zum Opfer gefallen. Konnte ich es Josi verübeln, wenn sie – in der ärmeren Nachbarrepublik lebend – etwas von der großen weiten Welt der ungezügelten Waren-, Werbe- und Überflusswirtschaft abhaben wollte?
„Bist du also rüber geschleust worden?“
Josi schaute mich böse an. Ich sah sie fragend an, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was an der Frage falsch sein sollte.
Josi sah hilfesuchend zu Ronny, und jetzt schaltete er sich ein: „Weißt du, Kara“ – als einer der Wenigen nannte er mich noch bei meinem alten Jugendspitznamen – „das mit der Flucht war für Josi nicht einfach. Es hat eine Menge Geld gekostet. Und man legt da ein Gelübde ab, um zukünftige Flüchtlinge nicht zu gefährden. Und das Gelübde heißt: »Kein Wort über den Fluchtweg und die Fluchthelfer, wenn du in Freiheit bist!« Nur den westdeutschen Verfassungsschützern im Aufnahmelager darf man dazu Erklärungen abgeben. Ansonsten keinem Menschen gegenüber. Wer nicht schweigen kann, muss mit Konsequenzen rechnen.“
„Konsequenzen?“
„Schleuser, die ihre Freiheit riskieren und in Bautzen landen können, kennen natürlich keinen Spaß, wenn du verstehst, was ich meine!“, sagte Ronny.
„Du meinst, die haben hier ihre Helfershelfer und die …“
„Und die wissen, wie man Plappermäulern den Mund stopft!“
Emma kam aus dem Kinderzimmer und fragte, ob wir etwas essen wollten.
„Unsere Gäste würden sich nach so viel Geheimwissenschaft gewiss über etwas Kulinarisches freuen“, sagte ich, und unser Besuch lächelte zufrieden.
Emma stellte Geschirr vor mir ab. „Willst du vorher noch kurz den Kindern etwas vorlesen?“
Ich ging rüber ins Spiel- und Schlafzimmer, wo mich unsere Karola schon mit erwartungsvollen großen Kinderaugen erwartete: „Papa lesen.“
Obwohl der dreimonatige Luca den Inhalt eines selbst einfachen Kinderbilderbuches noch nicht erfassen konnte, nahm ich beide Kids links und rechts neben mich und las ihnen gemeinsam etwas vor und erklärte dazu die Bilder.
„Das ist ein Bauernhof. Das ist der Bauer. Das ist eine Kuh. Sie macht Muh. Muh-Muh. Die Kuh geht auf die Weide und frisst Gras. Das Gras ist grün. Im Bauch der Kuh wird daraus Milch. Die Milch ist weiß. Der Bauer nimmt die Milch der Kuh und füllt sie in Flaschen. Papa und Mama können die Flaschen im Lebensmittelgeschäft kaufen. Zum Frühstück essen Mama, Papa, Karola und ihr Bruder Luca Müsli mit Milch von der Kuh.“
Das alles entsprach zwar nur der halben Wahrheit, aber konnte man den beiden Kleinen auf Anhieb die ganze große allgemeingültige Wahrheit erklären? Alle weltweiten Zusammenhänge in Sachen Milchkühen, Landwirten und Ladenpreise mussten langsam aufgebaut werden. Vom Einfachen zum Komplizierten. Das war so ähnlich wie die Sache mit der Überwachung – ein Thema, das mich jetzt erreichte, als ich das Kinderzimmer verließ und die Kinder selig schlafend zurückgelassen hatte.
Zum einen ging es um die einfache akustische Kleinkind-Überwachung mittels eines völlig neuen Gerätes, das sich Babyphon nannte. Es war gerade erst vor einem halben Jahr auf den Markt gekommen.
Wir hatten also eines der ersten analog funkenden Babyphone, allerdings mit nur acht möglichen Kanälen, was bedeutete, dass die krächzenden Signale des Mixers, des Radios oder des Fernsehers der Nachbarn häufig mit empfangen wurden.
Die Tonqualität unserer modernen hausinternen Abhör-Errungenschaft war also nicht besonders berauschend, dafür rauschte das Gerät umso mehr. Unser Babyphon war unidirektional, das heißt, das Gerät am Bett der Kinder sendete, und das Teil, das wir jetzt bei uns im Esszimmer aufstellten, empfing die Geräusche aus dem Kinderzimmer. Manchmal waren es nur Pupser.
Zum andern – und dies war die bedrückendere Dimension – ging es an jenem Abend um die schon historischen Abhöraffären in unserer jungen bundesdeutschen Vergangenheit und um die altbekannten Überwachungsgesetze. Als ich an unserem Esstisch Platz nahm – Emma hatte uns ihren selbst gemachten Kartoffelsalat und von der mit Lollo befreundeten Rindswurst-Unternehmerin jeweils ein Paar Gref Völsings hingestellt – lag Ronny gerade mit seiner sächsischen Josi über Kreuz. Sie hatte behauptet, anders als in der DDR, sei es im freien Teil Deutschlands unmöglich, dass staatliche Stellen das grundgesetzlich garantierte Briefgeheimnis über Bord werfen könnten. Sie bestritt, dass auch hier Bürger abgehört oder ihre Post mitgelesen werden könnte. Das sei verboten. Das habe sie im Grundgesetz nachgelesen.
„Man hat aber das Grundgesetz abgeändert“, wandte Ronny ein. „Es stimmt so nicht mehr, wie du es gelesen hast.“
Josi spießte ein Paar Rindswürste auf und legte sie sich auf ihren Teller. Ich reichte ihr die Schüssel mit Kartoffelsalat und das Glas mit Senf.
„Das ist ja der leckere Bautz’ner Senf!“, rief sie begeistert aus. Dann mit Entrüstung in der Stimme: „Wie kommt denn der hierher?“
„Ich nehme an, dass die aufgeflogenen und in Bautzen einsitzenden Fluchthelfer einen unterirdischen Warenverkehr zum Florieren gebracht haben. Devisenbeschaffung für ihre Befreiung“, sagte ich lachend. Doch ich merkte gleich, dass Josi auf solche Scherze nicht gut zu sprechen war.
Im Übrigen ahnte ich damals mit keinem Jota, dass in jenen Tagen ein Oberst der Staatssicherheit mit Namen Schalck-Golodkowski fast genau solch einen »unterirdischen Warenverkehr« zwecks Devisenbeschaffung betrieb.
„Eigentlich sollte man Sachen aus dem Osten boykottieren“, sagte sie mit trotziger Entschiedenheit in der Stimme.
„Das schadet doch nur denen, die es nicht wie du in den Westen geschafft haben“, meinte Emma. „Wenn der DDR die Devisen fehlen, fehlen drüben die Dinge, die man nur gegen Devisen auf dem freien Weltmarkt einkaufen kann, zum Beispiel Bananen und Orangen.“
Josi ging nicht darauf ein. „Die meisten sind doch Systemläuse, die dort bleiben wollen. Die profitieren doch vom System als Bonzen und Bürokraten.“
„Na, dann hat doch das dortige System offensichtlich für ein paar Wenige auch Vorzüge“, sagte ich und ahnte zugleich, dass meine süffisant gemeinte Anmerkung völlig ins Leere lief.
„Aber noch einmal zurück zu deiner Bemerkung wegen des Brief- und Postgeheimnisses, das im Grundgesetz garantiert wird“, sagte Ronny. „Es wurde bereits am 30. Mai 1968 faktisch abgeschafft.“
Und ich ergänzte: „Auch in der DDR-Verfassung steht übrigens bis heute, dass das Post- und Fernmeldegeheimnis strikt gewahrt und unverletzlich sei.“
„Ein schöner Verfassungstext und eine ungeschönte Verfassungswirklichkeit stimmen nicht immer überein.“ Ronny sah zu seiner Liebsten und schenkte ihr einen Apfelwein ein.
„Na siehste! Man weiß doch, wie dreist Mielkes »Horch- und Guck« die Bevölkerung ausspioniert.“ Dafür, dass sich Josi eigentlich vom Bautz’ner Senf aus Boykottgründen fernhalten wollte, strich sie ihn ziemlich dick auf ihre Rindswurst.
„Genauso dreist gehen aber auch die Dienste in der BRD vor. Man hat mit einem einzigen Gesetz das Grundgesetz gründlich ausgehebelt“, beharrte Ronny auf seinem Wissen, dass er uns dann zu unserem politischen Abendmahl lang und breit auftischte.
Wie also sah das Gesetz im Einzelnen aus? Das wollte ich mir gerne noch einmal von Ronny in Erinnerung rufen lassen. Damals, als wir gegen die Notstandsgesetze und das G 10-Gesetz demonstrierten, hatte ich mich zwar damit befasst – aber das war nun siebzehn Jahre her.
Das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post und Fernmeldegeheimnisses, Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz, wie es offiziell hieß, bestand aus drei Teilen. Der erste Teil, Artikel 1, umfasste den politischen Kern des Gesetzes und regelte die Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses zu nachrichtendienstlichen Zwecken. Unterschieden wurden Einzelüberwachungen und Allgemeinüberwachungen, ohne allerdings diese Begriffe im Gesetzestext selbst zu verwenden. Der zweite Teil, Artikel 2, regelte die Fernmeldeüberwachung im Strafverfahren. Eine Regelung der Postüberwachung war bereits im geltenden Strafprozessrecht vorhanden. Der dritte Teil, Artikel 3, enthielt den vom Grundgesetz geforderten Hinweis, dass dieses Gesetz das Grundrecht nach Artikel 10 Grundgesetz einschränkte.
„Hallo!“, rief Josi über den Tisch, „bei euch wurde also erst sehr spät, ab Ende der Sechziger Jahre, abgehört!“
„Erstens stimmt das nicht“, antwortete ihr Freund, „und zweitens wäre das keine Entschuldigung dafür, dass immerhin eines der wichtigsten Grundrechte außer Kraft gesetzt wurde.“
Mir fiel jetzt wieder ein, wie man die Westdeutschen geschickter Weise schon lange vor der Verabschiedung des G 10-Gesetzes inoffiziell bespitzelt hatte.
„Josi, es ist so“, sagte ich, „dass schon gleich nach der Gründung der Bundesrepublik die Siegermächte USA, Frankreich und Großbritannien den von ihnen aufgebauten westdeutschen Sicherheitsbehörden erlaubten, unter ihren alliierten Fittichen und unter ihrer technischen, logistischen und personellen Mithilfe zu schnüffeln.“
„Gewiss nur in Ausnahmefällen!“, warf Josi ein. „Ausnahmen, wenn Gefahr im Verzug war! Du redest eure Demokratie schlecht!“
„Unsere Demokratie!“, sagte ich und betonte das Pronomen. „Du gehörst ja jetzt dazu! Du gehörst zum Westen, oder?“
Dann ging ich zum Bücherregal und kramte eine Zeitschrift hervor, die die Bundeszentrale für Politische Bildung herausgab, Das Parlament. Ich blätterte sie auf und suchte nach einer bestimmten Zahlenangabe, die ich vor kurzem wahrgenommen hatte.
„Um Gefahren, die zwar nicht vorhanden, aber möglich waren, rechtzeitig zu erkennen oder auszuschließen, war nach Auffassung der westdeutschen Geheimdienste eine allgemeine Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs etwa mit Osteuropa, teilweise auch mit Westeuropa und natürlich gerade auch innerhalb der Bundesrepublik notwendig“, erklärte ich und strich nun meinerseits eine gehörige Portion Bautz’ner Senf auf die Rindswurst – und dachte dabei still und leise: Alles für die Devisen der DDR.
„Hm, und was sagt uns das?“, fragte Josi.
„Dass es sich hierbei nicht nur um Maßnahmen in einer spezifischen Gefahren- oder Ausnahmesituation handelt, sondern um das tagtägliche Routinegeschäft der Nachrichtendienste, das sagt uns das! Das machen allein schon die Zahlen deutlich, die der Präsident des Bundesnachrichtendienstes in einer Besprechung mit Vertretern der Bundestagsfraktionen im Bundeskanzleramt nannte.“
Ich hatte die Stelle mit den Zahlen gefunden und las vor: „Allein bei den Amerikanern fielen aufgrund der täglich durchgeführten allgemeinen Überwachung ca. 26.000 Kontrollfälle und etwa 12.000 Auswertungsfälle pro Monat an.“
„Na und?“, sagte Josi lapidar.
„Nix na und ..! Das heißt schließlich auch, dass die Betroffenen überhaupt kein Recht auf richterliche Überprüfung haben, da Geheimdienste ihre Praxis nicht offen legen müssen“, sagte Ronny. „Da scheinen sich doch Ost wie West irgendwie zu gleichen. Keiner traut seinen Bürgern. Ich möchte nicht wissen, was der Verfassungsschutz alles über mich in seinen Akten widerrechtlich und obendrein wahrscheinlich noch grundfalsch festgehalten hat. Schließlich paktiere ich ja als Steuerberater mit bösen subversiven Kräften wie ehemaligen Hippiekommunen, grünen Dorfläden und rosa-roten Buchhandlungen.“
*
Das andere, zweite DDR-Ereignis schneite in Person von Tamara wie ein Wirbelsturm herein. Ich hatte sie erwartet und ihr gerade die Tür geöffnet. Ihre langen dunklen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug DDR-Jeans und einen hellblauen Rolli, der ihre blauen Augen betonte. Die Begrüßungszeremonie war herzlich und nahm die Form zwischen Freunden an, die das Wiedersehen wirklich tief zu schätzen wussten. Freunde, denen klar war, dass sie sich niemals oft sehen würden, wenn es dann aber so weit war, dann so intensiv, als wäre es das letzte Mal.
„Wie lange kannst du bleiben?“, fragte ich.
„Das DGB-Symposium geht über drei Tage.“
„Wirst du auch Zeit haben, dir mal mit mir Frankfurt anzuschauen?“
„Aber sicher. Meine FDGB-Delegation hat zwar eine Einladung vom Landesvorstand der IG Metall zu einer gemeinsamen Rundtour durch den Rhein-Main-Bezirk, aber ...“
„Hier heißt es Rhein-Main-Region“, musste ich unnötigerweise richtigstellen, um mich sogleich für diese Richtigstellung zu entschuldigen. „Ach was“, fügte ich schnell hinzu, „es ist völlig egal, ob Bezirk oder Region. Der Begriff Bezirk kam mir eben nur etwas fremd vor. Aber es ist echt total blöd von mir …“
„Alles gut“, beschwichtigte mich Tamara. „Bei uns heißt halt alles Bezirk.“
Wir mussten über diese ausgesprochene Unwichtigkeit herzlich lachen. Dann erzählten wir uns über unsere Kinder, über unsere Arbeit, über die Zukunft, über unsere Erwartungen.
„Wie geht es eurem Jungen?“, fragte Emma.
„Mike ist jetzt zwanzig Monate, und er ist diesen Mai in die Kinderkrippe gekommen. Das erste Halbjahr war ich bei ihm zu Hause. Das zweite Halbjahr blieb Vitali bei unserem Kleinen.“
„So etwas wie die Kinderkrippe kennen wir hier eigentlich nicht. Bist du mit dieser Art Kinderbetreuung zufrieden? Fühlt Mike sich wohl? Ich denke, vielleicht ist so eine Krippe zu früh für ein Kleinkind.“ Emma sah erwartungsvoll zu Tamara.
„Für uns berufstätige Eltern und hauptsächlich für uns Frauen löst die Krippe ein dickes Problem. Wir wollen gleichberechtigt mit den Männern unser Geld verdienen und die Kleinen sollen zugleich geborgen und integriert in einer gleichaltrigen Gemeinschaft aufwachsen. Und das leistet die Betreuungseinrichtung sehr gut.“
„Aber liegt der Ursprung nicht ganz woanders? Ist es nicht so, dass es einerseits für die Staatswirtschaft und andererseits für die finanzielle Situation der Familien wichtig ist, dass ihr Frauen in der DDR arbeitet?“
„Na mal ehrlich: Wärt ihr Frauen hier nicht auch froh, wenn ihr unbeschwert arbeiten gehen könntet? Natürlich nur, sofern man will oder sofern es die Haushaltskasse nötig hat. Nur habt ihr ja hier im Westen gar keine Wahl, weil es keine Kinderkrippen gibt.“
„Man muss es hier privat organisieren, was zugegebenermaßen sehr schwierig ist“, sagte Emma.
Tammi wiegte zustimmend ihren Kopf. „Deshalb wurden bei uns die Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder früh und umfassend schon in den Anfangszeiten der DDR ausgebaut. Im letzten Jahr betrug die Versorgung von Krippenkindern im Durchschnitt 80 Prozent, in den Großstädten lag sie bei fast 100 Prozent. Kindergartenplätze waren für 94 Prozent und Hortplätze für 81 Prozent der Kinder vorhanden.“
„Davon können wir nur träumen. Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel im stern gelesen und mir die bundesdeutschen Zahlen für unsere Saunarunde rausgeschrieben. Eine Katastrophe“, sagte ich. „Demzufolge gibt es bei uns gerade mal für zwei Prozent der Kinder einen privaten Krippenplatz, für immerhin 78 Prozent einen Kindergartenplatz und für nur vier Prozent der Schulkinder einen Hortplatz.“
Wir unterhielten uns dann über die Kosten und die Öffnungszeiten in beiden Staaten. In der DDR wurde die Finanzierung beispielsweise vom Staat übernommen. Die Betreuung war dadurch für die Eltern kostenfrei. Lediglich für die Verpflegung mussten sie zahlen. Tamara berichtete, dass ein Mittagessen für ein Krippenkind 1,40 DDR-Mark kostete, das für ein Kindergartenkind 35 Pfennige. In der BRD mussten die Eltern für beide Leistungen tiefer in die Tasche greifen. Zwischen 80 und 160 DM kostete im Monat die Betreuung des Nachwuchses und zwischen drei und vier DM ein Mittagessen für die Zöglinge.
„Bei uns sind außerdem alle Einrichtungen für die Kinderbetreuung zwischen 6:00 Uhr und 19:00 Uhr geöffnet, also sehr lange!“, erzählte Tamara weiter von den Verhältnissen in der Deutschen demokratischen Republik.
Emma war erstaunt und hielt westliche Bedingungen dagegen. „Hier schließen die Kindergärten meist mittags, einige wenige manchmal auch nachmittags – das soll sich in nächster Zeit aber zum Besseren ändern. Öffnungszeiten bis zum Abend sind hier allerdings unvorstellbar.“
„Sag‘ mal, Tammi, bist du jetzt so ‘ne waschechte Funktionärin mit all den Privilegien, die man als staatstragende Person genießt?“ Ich war gespannt, wie sie auf meine provokante Frage antworten würde.
„Staatstragend sind alle Bürger in der DDR“, entgegnete sie, „aber leider dürfen nicht alle reisen wie ich. Das ist schon ein großer Mist!“
„Ich bin froh, dass wir offen reden können, und so kenne ich dich ja auch – dass du offen deine Meinung sagst. Glaubst du also, dass es besser wäre, die Grenze wäre durchlässiger? Wären dann die DDR-Bürger zufriedener?“