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Gib mir mal ‘ne Bottle Bier

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Nach dem ersten Saunagang saßen wir um unseren Esstisch herum und tranken erst einmal aus Emmas Samowar, den sie auf Frankfurts Trödelmarkt am Main erstanden hatte. Tee mit Glühweingeschmack, der aber kein Glühwein war. Nun ja, dem Trend der Zeit entsprechend: mehr Schein als Sein, aber gewiss nicht ungesund, irgendwie, oder so oder vielleicht. Aromatisierte Teesorten waren »in«.

Dann kamen noch Gitti, wie immer stark parfümiert, und Bernd, entsprechend passend zu seiner Herzdame duftend, hinzu. Sie wohnten im selben Dreifamilienhaus wie Moni und Gunnar. Unsere Saunarunde war nun komplett.

Bis auf Doris, die zehn Jahre älter und Christian, der zehn Jahre jünger war, waren wir alle im etwa gleichen Alter zwischen 30 und 35 Jahre alt. Meistens machten wir Jungs gemeinsam einen Saunagang, und danach gingen die Mädels in die verschwitzte Bude. Wir unterhielten uns entweder über unsere Jobs oder über Politik und Wirtschaft. Die Frauen erzählten sich Neuigkeiten aus Kindergärten, Schulen und der Mode. Klassische Rollenaufteilung, klassisches Rollengeschwätz. Aber immer unterhaltsam. Das Revolutionsfieber lag Jahrzehnte hinter uns. Und doch glühte da irgendwo noch irgendetwas sanft in der linken Herzkammer und hielt die Aortenklappe in Bewegung.

Christian, unser Jungschauspieler auf diversen Tingel-Tangel-Bühnen, fand, die Politik sei ein einziges Schauspiel, und CDU und CSU hätten zugestandener Weise die weltallerbesten Darsteller. Gerade vor ein paar Tagen nämlich war CDU-Charmeur Rainer Barzel vom Amt des Bundestagspräsidenten mit Sauerbiermiene zurückgetreten, nachdem der Verdacht aufgekommen war, er stehe im schmierigen Zusammenhang mit der Flick-Parteispendenaffäre. Natürlich spielte er einen auf völlig unbeteiligt und wusste von nichts, auch wenn die sich Sachlage selbst für Otto Normalverbraucher sehr eindeutig darstellte.

„Barzels Sauerbiermiene ist wahrscheinlich auch nur gespielt“, meinte ich und wurde mir sofort bewusst, dass ich hätte schweigen sollen, als Gunnar mit einer ebensolch bierernsten Miene das Wort ergriff.

Schließlich war er selbsternannter Bierfachmann und somit auch Bierhistoriker. „Vorneweg: »Das« Sauerbier gibt es nicht“, sprang er sofort auf Barzels Sauerbiermiene an. „Mit dem Begriff Sauerbier werden eine ganze Vielzahl unterschiedlichster Biere zusammengefasst.“

Höflich und unschuldig, wie er war, fragte Bernd überflüssiger Weise nach: „Welche Vielzahl meinst du? Welche Brauerei-Stile sind das, wo kommen sie her – und vor allem: Warum schmecken manche Biere sauer?“

Jetzt mischte auch noch Doris mit, obwohl sie kaum Bier, stattdessen aber viel Rotwein trank: „Genau! Früher war Bier irgendwie mehr sauer.“ Eine absolute Steilvorlage für Bier-Gunnar, der als Vollkostvegetarier zugleich überzeugter Biertrinker war, wovon sein Bierbäuchlein zeugte.

„Bier ist gesund und besteht zu 100 Prozent aus vegetarischen Bestandteilen“, warf ich opportunistisch dazwischen, um nicht als Spielverderber blöd da zu stehen.

Gunnar sah mich ein klein wenig misstrauisch an, wie ich fand; schließlich wusste er, dass ich kein passionierter Biertrinker war. Dann sah er zu Doris, um ihr in seiner unnachahmlich souveränen Art zu antworten: „Man muss davon ausgehen, dass vor der Einführung des bis heute gängigen Konservierungsverfahrens flüssiger Lebensmittel durch Louis Pasteur – kurz: vor der Pasteurisierung – alle Biere mehr oder weniger säuerlich schmeckten.“

„Hä? Pasteurisiertes Bier?“, sagte Doris. „Klingt auch nicht gerade nach Natur pur!“

Und plötzlich wurde mir bewusst, dass all die spannenden, weltbewegenden WG-Diskussionen der früheren Jahre unwiederbringlich vorüber waren. Sie waren den gesättigten Unterhaltungen bürgerlicher Belanglosigkeit gewichen.

„Infektionen mit Milchsäure- oder anderen Bakterien oder bestimmten Hefen, wie der Brettanomyces, die für einen ganz eigenen Sauer-Touch im Bier sorgen, waren früher kaum zu verhindern“, fuhr Gunnar seinen Vortrag fort. „Je nach Brauerei, Temperatur, Jahreszeit, also je nach Spiel des Schicksals, tat das dem Geschmack des Bieres mehr oder weniger Abbruch. Die Redewendung, etwas verkaufe sich »wie sauer Bier«, hat jedenfalls belegbare, historische Wurzeln.“

»Howgh«. Der Häuptling der Bildungsbürger hatte gesprochen. Emma, Gitti, Irmel und Arndt zollten so etwas wie höflich-verhaltenen Beifall. Und auch ich nickte etwas widerwillig, was man jedoch auch als sachte zustimmend werten konnte. Vom Thema selbst hatte ich keine Ahnung und fand es auch nicht besonders aufregend. Zehn Jahre später sah ich das anders, was ich jetzt von mir selbst nicht wissen konnte. Im Augenblick jedenfalls langweilte mich die Thematik.

Mich beschäftigte im Moment mehr, weshalb die Amis mit großer Mehrheit doof genug waren, den doofen rechtskonservativen Republikaner und hauptberuflichen Wild-West-Schauspieler Ronald Reagan erneut zu ihrem Wildwestpräsidenten zu wählen. Noch einmal vier lange Jahre diesen durchtriebenen Luftikus, diesen Geldverschleuderer, diesen weltweit größten Staatsschuldenmacher, diesen ungenierten Rüstungsfanatiker. Ein Mann, der reiner Statist für die Superreichen war und der seinen zig Millionen armen Mitbürgern noch nicht einmal ein funktionierendes und bezahlbares Gesundheitssystem gönnte.

Meine Gedanken in Ehren, aber Gunnar war im theoretischen Bier-Rausch und nicht zu bremsen. „Als Brauer ab Ende des 19.Jahrhunderts in der Lage waren, die unbeabsichtigte Säuerung zu verhindern, taten sie das in Deutschland auch. Saure Biere waren hierzulande schnell auf dem Rückzug, selbst das letzte seiner Art, die Berliner Weiße, war bis Mitte des 20.Jahrhunderts fast ausgerottet. In anderen Teilen der Welt aber hielten sich Sauerbiere – allen voran in Belgien. In Belgien haben saure Biere Tradition.“

Gunnar sah seine Moni auffordernd an. Und sein Weibchen war bereit zu springen: „Soll ich ein paar Flaschen holen?“

Für Emma und mich war es spannend, noch einmal so ein quicklebendiges Patriarchat in der Epoche der allgemeinen Emanzipation zu erleben. Eine Art Zeitreise in die Ära unserer Großeltern und Eltern. Ich hätte darauf wetten können, dass jede andere Frau aus unserer Saunarunde, statt sich so weiblich beflissen auf den Sprung zu machen, eher ihren Mann zum Bier holen heimgeschickt hätte.

Gunnar aber wies ihr mit einer knappen Kopfbewegung den Weg und fuhr dozierend fort: „Die besten, die edelsten Biere unseres bierkulturell beeindruckenden Nachbarlandes schmecken sauer. Das Lambic etwa gilt als der vielleicht anspruchsvollste und komplexeste Bierstil der Welt. Im Grunde sprechen wir hier von einem spontan vergorenen Weizenbier, wobei aber eine Besonderheit in Abgrenzung zum deutschen Weizenbier darin liegt, dass der belgische Brauer hier »Rohfrucht«, also unvermälzten Weizen, verwendet.“

Arndt, der an Diabetes litt, wandte sich an Tobias: „Sag mal, Tobi, gibt es aus diabetischer Sicht eigentlich Einwände gegen den Bierkonsum?“

Bevor Tobi seine Mediziner-Antwort in die Runde werfen konnte, fuhr Gunnar unbekümmert in seinem Bier-Referat fort, da auch Stefan etwas gefragt hatte, nämlich inwieweit saures Bier mit der Braumethode zusammenhängt.

„Nach dem Brauen werden Lambics traditionell in ein Kühlschiff gegossen, eine große, flache Wanne meist im Dachgeschoss der Brauerei, in der der eben noch kochende Sud möglichst schnell abkühlen sollte, ehe er in den Gär-Tank gefüllt wird.“

Meine Gedanken schweiften wieder einmal ab. Plötzlich drängte sich mir wie aus dem Nichts die Frage auf, wie ich meine kleine Familie ernähren wollte, wenn mein befristeter Arbeitsvertrag an der Uni ausgelaufen war. Ich wehrte den Gedanken krampfhaft ab. Ich wollte daran nicht denken, nicht jetzt, nicht hier, nicht in dieser.

„Früher hatten auch deutsche Brauereien Kühlschiffe, allerdings wurden die durch Plattenkühler ersetzt, weil die Gefahr, dass die Würze sich, wenn sie da so offen herum steht, Infektionen durch Bakterien oder wilde Hefen einfängt, hoch ist“, riss mich Gunnar aus meinen Gedanken.

„Igitt!“, rief Doris aus. „Bakterien! Infektionen!“

„Genau das will der Lambic-Brauer!“, fuhr Gunnar fort. „Der Brauer setzt auf Spontangärung, darauf also, dass seine Würze ohne das menschliche Zutun von Hefe durch ihn anfängt zu gären. Oft stehen dafür in den Kühlschiffen belgischer Traditionsbrauereien die Fenster offen, Moos und Spinnweben an der Decke werden niemals entfernt. Denn überall darin verstecken sich genau jene »wilde Hefen«, die den Geschmack der Biere dieses Hauses prägen. Danach gärt Lambic über Wochen in offenen Gärbottichen, ehe eine teils Jahre dauernde Lagerzeit beginnt.“

Noch einmal stieß Doris ein lautes Igitt aus.

Gunnar hatte den Wettbewerb zwischen unserer männlichen Experten-Spezies vorerst gewonnen, aber schon rüstete Tobi zu einem sanften bildungsbürgerlich-medizinischen Gegenangriff.

„Mal zurück zu deiner Frage, Arndt. Was ich dir als Diabetiker raten kann, ist eine gewisse Zurückhaltung.“

Wir konnten nicht ahnen, dass es gerade jener wunde Punkt war, an dem Arndt schon zwei Jahre später im Alter von nur 37 Jahren versterben würde.

Arndt sah Tobias fragend an, und Tobias, immer der ernste Arzt, sah Arndt mit Ausrufezeichen in den Augen an. „Bereits ab einem Blutalkoholspiegel von 0,45 Promille ist die Zuckerfreisetzung gestört. Weiblichen Diabetikerinnen wird deshalb empfohlen, nicht mehr als 10 g Alkohol täglich zu trinken. Das entspricht etwa einem achtel Liter trockenem Wein oder 250 ml Bier. Bei Männern mit Diabetes liegt diese Menge doppelt so hoch. Auch wenn die Empfehlungen sich auf den Tag beziehen, sollte Alkohol, ganz gleich ob mit Diabetes oder ohne diese Erkrankung, nicht täglich dazugehören.“

„Nicht täglich?“, entrüstete sich Gunnar. „Mir bekommt es außerordentlich gut.“

„Es entwickelt sich leicht ein Gewohnheitseffekt, das Gewicht steigt, die Leber kann geschädigt und der Appetit gesteigert werden. Gerade bei Typ-2-Diabetes, wie es Arndt hat, ist es wichtig, Kalorien im Blick zu halten, damit das Gewicht nicht steigt. Alkohol kann den Fettstoffwechsel stören, den Fettabbau erschweren und somit Übergewicht fördern. Also ein Gläschen sollte am besten wohldosiert und mit Genuss getrunken werden.“

„Was heißt überhaupt Typ-2-Diabetes?“, fragte Doris.

„Diabetes mellitus oder auf gut Deutsch Zuckerkrankheit ist eine chronische Störung des Stoffwechsels, bei der die Blutzuckerkonzentration zeitweise oder ständig erhöht ist.“ Endlich war Tobias in seinem Element.

Seine Frau schaute Emma an: „Gehen wir mal kurz in die Küche?“ Die beiden verschwanden. Ich hatte den Eindruck, dass Anne das medizinische Fachchinesisch nicht mehr hören konnte. Mich interessierte es. Gesund leben, tja, man hatte ja Kinder, die man gesund großziehen wollte. All die neuartigen und sich überstürzenden Umweltprobleme waren schon schlimm genug, sagte ich mir und musste an meinen neuen Aufgabenbereich am Uni-Institut denken. Ich sollte eine Umweltbibliothek aufbauen und dabei insbesondere vergleichende soziologische wie umweltmedizinische Untersuchungen berücksichtigen. Gehörte da nicht Ernährung dazu?

„Im Allgemeinen werden unter dem Begriff Diabetes verschiedene Krankheitsformen zusammengefasst. Am weitesten verbreitet sind Typ-1-Diabetes und Typ-2-Diabetes. Typ-2-Diabetes wurde früher auch als Altersdiabetes bezeichnet, weil er meist bei älteren Menschen auftrat. Heute sind aber zunehmend Jüngere, zum Teil sogar Kinder und Jugendliche von einem Diabetes mellitus betroffen.“

„Ja, so alt bin ich gar nicht, muss mich aber schon mit einer sogenannten Alterskrankheit rumschlagen“, sagte Arndt lachend.

„Was bei dir, lieber Arndt, gottseidank nicht zutrifft: Übergewicht und Bewegungsmangel. Denn sie erhöhen das Risiko, an Diabetes zu erkranken. In der Regel entwickelt sich Typ-2-Diabetes langsam. Häufig vergehen bis zur Entdeckung fünf bis zehn Jahre, in denen die Erkrankung bereits erhebliche Schäden anrichten kann. Ursache der Diabetes-Erkrankung ist in der Regel sowohl eine zu geringe Produktion des Hormons Insulin als auch ein zu geringes Ansprechen der Körperzellen auf Insulin.“

„Ist unser Arndt in Gefahr?“, fragte Doris.

„Nein, nein, ich spreche hier nur von den allgemeinen Risikofaktoren. Bei Arndt haben wir alles im Griff.“

Aber es war nicht so, wie wir alle dachten und wie Arndt gewiss hoffte.

Wenn es mal nicht um Bier, Gesundheit, Politik und Wirtschaft ging, war Religion im Spiel. Dann lag der unterhaltsame Spielball bei Gott und der Welt. Insbesondere in diesen Tagen, da die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi von zwei Mitgliedern ihrer Leibwache erschossen worden war – ebenso wie ihr vor 36 Jahren von einem Hindu-Nationalisten ermordeter Vater war sie Verfechterin der absoluten Gewaltlosigkeit gewesen.

„Die Täter gehören der Religionsgemeinschaft der Sikhs an“, berichtete Gunnar sein Zeitungswissen aus dem SPIEGEL. „Gandhi hat deren Nationalheiligtum, den Goldenen Tempel in Amritsar, am 5. Juni von Regierungstruppen erstürmen lassen.“

„Na, dann war sie wohl gar nicht so gewaltfrei wie sie getan hat“, sagte Tobias, und Christian meinte: „Alles ziemlich plumpe Schauspieler.“

„Dass du so dein eigenes Berufsnest beschmutzen kannst“, warf Gunnar in gespielter Empörung ein. Und mit der »Nestbeschmutzung« landete der Ball erneut in der Politik, hatten doch gerade wieder einmal einige CSU-Granden den Sozialdemokraten Nestbeschmutzung vorgeworfen, weil diese in der Flick-Affäre auf schonungsloser Aufklärung bestanden.

„Wobei die Sozis mit »schonungslos« gewiss nicht meinen, dass man auch die Zuwendungen von Unternehmen an sie selbst unter die Lupe nehmen solle“, sagte Tobias.

Die politischen Saunaverhältnisse waren in unserer Frankfurter Nachbarschaft durchaus pluralistisch durchmischt. Tobias war den Christdemokraten zugetan, seine Frau schwankte zwischen CDU und FDP. Moni und Gunnar waren „Kleineres-Übel-Wähler“, was im Klartext bedeutete, dass sie treu zur SPD hielten, egal ob diese den Aufrüstungsbefehlen aus Washington gehorchte oder nicht.

Gitti und Bernd waren bekennende Wechselwähler. Was ihnen aber niemand so recht abnahm, außer mir. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass beide keiner dogmatischen Partei-Haltung frönten, sondern sich nach den aktuellen und lokalen Gegebenheiten richteten.

„Nun lasst doch mal die Sau raus“, forderte sie Christian auf, „und macht nicht so ’ne Show. Wer kriegt bei der nächsten Wahl eure Stimmen?“

„Schon mal was vom Wahlgeheimnis gehört?“, konterte Bernd. „Aber im Ernst: Ich weiß nicht, was meine Frau wählt, ich zumindest mache es von den jeweiligen Umständen abhängig. Es kann schon mal sein, dass ich auf kommunaler Ebene CDU oder SPD wähle, je nach Kandidaten, und auf Bundesebene eben GRÜNE, also vielleicht, wer weiß, kommt ganz drauf an!“

Ähnlich äußerte sich Gitti, die demnächst im Paul-Ehrlich-Institut, dem Bundesamt für Sera und Impfstoffe, anfangen würde. Sie war inzwischen unsere Expertin in Sachen AIDS, dem hochaktuellen Gesundheits- und Sex- beziehungsweise Anti-Sex-Thema. Sie informierte uns bereits jetzt über ihr Lieblings- und zukünftiges Arbeitsgebiet, über die neuesten Erkenntnisse aus der Impfindustrie und aus dem staatlichen Zulassungs- und Kontrollapparat.

„Meine Parteipräferenz? Was ich wähle? Was weiß ich!“, sagte sie. „Es kommt ganz auf die aktuellen Angebote der Parteien an. Und was sie gegen AIDS zu tun gedenken.“

Von AIDS, der unheilbaren, unweigerlich tödlich verlaufenden Krankheit, über die Ansteckungs- und Übertragungsgefahren bis hin zur Frage, ob wir eigentlich unsere Kinder schon hatten taufen lassen, bedurfte es keiner großen Gedankensprünge.

„Nein, Karola und Luca sind noch nicht getauft“, sagte Emma. „Wir hätten es euch schon gesagt. Aber wir haben es vor. Wahrscheinlich um die Osterzeit herum. Wenn das Wetter mitspielt, machen wir ein Gartenfest.“

„Seid ihr noch in der Kirche?“, fragte Doris.

„Nein“, antworteten Emma und ich wie aus einem Mund.

Ich war bereits zwei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag zum Amtsgericht gegangen, um mich erleichtert von der obersten Heuchler-Instanz zu verabschieden. Der Eintritt in die Gemeinde erfolgte stets automatisch, doch der Austritt machte einen amtsgerichtlichen Staatsakt – manchmal samt Begründung – nötig. Die Austrittsurkunde hing ich mir damals gerahmt in mein WG-Zimmer. 1968 hatte das ungenügende Engagement der Kirchenhäuptlinge gegen den Vietnamkrieg meine anti-kirchliche Haltung beflügelt. Besonders galt das für dieses eine Bild mit dem Militärpfarrer, der jenen hässlichen Langstreckenbomber mit Weihwasser besprühte. Gleichwohl lernte ich später viele ehrliche Christen in der Friedensbewegung schätzen.

„Man will ja seine Kinder nicht zu Sonderlingen machen“, sagte Emma, und ich stimmte ihr zu.

„Wenn alle zum Religionsunterricht gehen, nur deine Tochter hat eine einsame Freistunde, dann muss sich das Kind ja ausgeschlossen fühlen“, sagte ich. „Die Kinder können ja später entscheiden, ob sie der Kirche angehören wollen oder nicht.“

„Ich wurde stockkatholisch erzogen und kenne die Doppelmoral dieser Brüder und Schwestern in- und auswendig“, sagte Gitti. „Aber ich bin immer noch in diesem Verein, weil ich denke, dass man seinen Kindern später keinen Gefallen tut, wenn bei der Kommunion alle Eltern gläubig neben ihren Kindern auf der Kirchenbank sitzen, aber deine Kids wissen, dass du zu der Sache nicht wirklich stehst.“

„Was willst du damit sagen?“ Anne sah Gitti skeptisch, fast misstrauisch, an.

„Ich will damit sagen, dass ich glaube, dass man die Kirche auch verändern kann. Dass man dabei bleiben sollte, wenn man sie verändern will. Dass es genug Potential in der Kirche gibt, um der Aufrichtigkeit und der Umsetzung christlicher Werte gerecht zu werden.“

Anne schüttelte unmerkbar den Kopf und murmelte vor sich hin: „Na, dann mal viel Erfolg mit all den alten schmierigen Männern.“

„Ja, es sind schwierige Männer. Aber eines Tages werden …“ Gittis Satz brach unvollendet ab und niemand machte sie auf ihren Hörfehler aufmerksam.

Denn jetzt kam Moni mit sechs Botteln belgischem Bier zurück. Doch bevor wir die Flaschen köpften, starteten wir in die zweite Saunarunde, und erst danach aßen wir die Salate und Hähnchenschenkel und ließen uns das belgische Bier schmecken, wobei Doris dieses Mal kein Igitt, sondern einen wirklich undefinierbaren und doch irgendwie zufrieden-glucksenden Sufflaut hervorstieß.

Rasante Zeiten - 1985 etc.

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