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Der Amts-Choleriker & der Uhrmacher

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Ich parkte gegenüber vom Zoo in einer Seitenstraße. Ich hatte großes Glück; es war ein Dauerparkplatz und gebührenfrei. Die Parkplätze vor dem Umweltzentrum waren belegt. Auf dem für mich reservierten Parkplatz stand ein fremdes Auto. Das war bisher noch nicht vorgekommen. Ich nahm es gelassen, hatte ja Ersatz gefunden. Ich ging als erstes ins Sekretariat und begrüßte Frau Wenzel. Sie war meine rechte und linke Hand, die wie immer alle Hände voll zu tun hatte. Wenn sie einmal krank werden oder jemals die GTU für immer verlassen sollte, müsste ich mir in der plastischen Chirurgie der Unfallklinik mindestens fünf Zusatzarme und Hände annähen lassen.

„Guten Morgen, Herr Koenig! Ihr Besuch, Herr Braun, ist bereits da und wartet in der Bibliothek.“

„War der Termin nicht für später ausgemacht? Erst in einer Stunde?“, fragte ich halblaut, obwohl mich Herr Braun in unserer entfernt liegenden, gemütlichen Bücherstube nicht hören konnte.

„Ja, er hat sich eben verfrüht, wie er sagte.“

„Haben Sie ihm einen Kaff …“

„Kaffee und Tee, aber er wollte nichts, auch kein Wasser!“

„War er freundlich zu Ihnen?“

„Geht so.“

Wenn die supernette, charmante und stets höfliche Frau Wenzel „Geht so“ sagte, bedeutete dies nichts Gutes. Der Mann musste stoffelig aufgetreten sein.

Ich legte meinen Aktenkoffer bei Frau Wenzel ab; schon wollte ich hinüber zur Bibliothek gehen, als ich innehielt und fragte: „Wissen Sie, wer auf meinem Parkplatz steht?“

„Na, wer schon?“ Frau Wenzel sah mich Augen rollend an und zeigte Richtung Leseraum.

„Hat er wenigstens gefragt?“

„Für solche Art selbstherrlicher Männer ist es selbstverständlich, dass sie überall parken dürfen.“

Ich ging hinüber zu unserem Gast. Auf alle Fälle galt es jetzt, gute Stimmung zu machen und freundlich zu sein, egal was komme. Trotz der angestrebten und auch vom Landesarbeitsamt versprochenen Verbesserung des Klimas, war es wieder eskaliert. Nach der Ausräumung der Dienstaufsichtsbeschwerde beim LAA hatte sich Frau Söhnlein für eine kurze Zeit verbindlich gezeigt und absprachegemäß gehandelt. So war uns endlich ein ord­nungsgemäßes Arbeiten in Sachen Beantragungen, Buchhaltung und Teilnehmeranfragen möglich. Sie überwies die Kurskosten zügig und vertragsgerecht. Sie ließ uns nicht mehr wochenlang auf eine Antwort warten, wenn wir eine dringliche Anfrage hatten. Zwischenzeitlich aber hatte sie sich wieder unmögliche Dinge erlaubt. Wir hatten gehofft, dass die Schikanen ein endgültiges Ende hätten, aber seit Neuestem stieg die Anzahl der Knüppel rasant, die uns die Zahlmeisterin zwischen die Beine und sogar in den Unterrichtsbetrieb warf. Es war nur noch unerträglich.

Plötzlich sollten wir die einzelnen Qualifikationsnachweise unserer akademischen Dozenten samt Lebensläufen jedem Neuantrag auf Bewilligung eines Kurses beifügen. Immer wieder aufs Neue, obwohl dem Amt sämtliche Angaben bereits vorlagen. Zudem sollten wir keine Auswahlverfahren zwecks Zulassung zu den Kursen durchführen. Das bedeutete, dass viele Interessenten, die sich zur Teilnahme lediglich brieflich informiert und entschieden hatten, in der späteren Praxis unseres polytechnischen, naturwissenschaftlichen und interdisziplinären Unterrichts überfordert sein konnten und abbrechen mussten. Eine wirklich unwirtschaftliches, kontraproduktives Verfahren.

Abbrecher waren vielleicht kurzfristig gut für das Amt, denn es musste nicht mehr zahlen. Für die Volkswirtschaft waren Abbrecher allerdings schlecht, denn die entstandenen Kosten bis zum Abbruch verpufften. Und für uns und die Betriebswirtschaft waren Abbrecher sowieso schlecht. Schließlich stand und fiel die Kalkulation eines Kurses mit der Anzahl der Absolventen, wobei wir inzwischen – neue Schikane – keine „Puffer“-Absolventen mehr aufnehmen durften.

Und natürlich schraubte Frau Söhnlein wieder an der Kursgebühren-Stellschraube, obwohl man mir in der Besprechung beim Landesarbeitsamt eine feste Stundensatz-Zusage gemacht hatte. Plötzlich meinte Frau Söhnlein, das gelte doch nur für einen Kurs, nicht für die Folgekurse. Also begann wieder die eklige Feilscherei, mit dem man nicht nur meine Arbeitskraft, sondern – viel schlimmer – die Arbeit der Dozenten an den qualitativen Unterrichtserfordernissen, die das Amt zugleich mit Strenge einforderte, bis zur Unmöglichkeit einschränkte. Frau Söhnlein überflutete uns mit einer schikanösen Bürokratisierungswelle.

Aber sie schränkte auch unseren curricularen Handlungsspielraum ein. Wie sollten wir beispielsweise Laborunterricht erteilen, wenn sie keine Mittel für Labormaterialien in die Kursgebühren einkalkulieren wollte? Sollten sich die Teilnehmer bloß im Labor aufhalten und in die leeren Reagenzgläser schauen?

Ich hatte bei Herrn Lewin wegen dieser Misslichkeiten angerufen. Auch wegen der Auswahlverfahren hatte ich nachgefragt. „Wir sind ein freier Bildungsträger und bieten unsere Weiterbildungsangebote nur als Paket mit den Vorkursen an, weil in diesen Schnupperkursen die potentiellen Teilnehmer die reale Unterrichtsstruktur wie auch die qualitativen Anforderungen erleben können. Darf man uns diese Auswahlkurse einfach untersagen?“

„Natürlich nicht, Herr Koenig. Das ist ganz alleine Ihre Angelegenheit. Das ist wieder einmal so eine Handstreichaktion der Frau Söhnlein. Insbesondere sind diese fünftägigen Schnupperkurse nicht nur sinnvoll für beide Seiten, für Teilnehmer wie Bildungsträger, sie schließen zudem mit einem Zertifikat ab, dass mindestens den Stellenwert jeder anderen einwöchigen Berufsfortbildung hat. Schreiben Sie das der Söhnlein und sagen Sie, dass man Ihnen nicht in Ihr Bildungsmodell hineinreden darf.“

„Dann wächst aber die Stimmung gegen uns. Sie wird tödlich beleidigt sein. Und damit ist uns nicht geholfen. Sie sitzt auf dem Geld. Sie verwaltet die Kasse.“

„Es ist aber nicht ihre Kasse und nicht ihr Geld!“

„Trotzdem. Könnten Sie uns nicht eine Art neutrale Stellungnahme zu den Auswahlverfahren und auch zu den umstrittenen Kursgebühren in Bezug auf die Labormaterialien schreiben?“

„Gut. Dann fordern Sie das bei mir schriftlich an.“

Ich hatte es getan und Lewins Stellungnahme mit all den guten Gründen für die Schnupperkurse und die Laborangelegenheit erhalten. Ich hatte eine Kopie an Frau Söhnlein gesandt mit der Bitte, sie möge die Entscheidung zu den Auswahlverfahren überdenken. Das war nun bereits vor sechs Wochen geschehen, und noch immer lag uns keine Reaktion vor. Vielleicht sollte ich Herrn Braun vorsichtig darauf ansprechen.

Er saß mit mürrischem Blick in der Bibliothek und ein ebenso mürrisches „Guten Morgen“ erreichte meine Ohren.

„Ich rede nicht gerne um den heißen Brei herum und möchte gleich zur Sache kommen, Herr Koenig.“

„Ich mag es, wenn man direkt und ohne Umwege miteinander das bespricht, was einem am Herzen liegt. Deshalb freue ich mich sehr, dass Sie sich heute Zeit für unsere Bildungseinrichtung genommen haben.“

„Meine Zeit ist allerdings begrenzt. Sie wissen, wie viele Bildungsträger mein Haus zu beaufsichtigen hat.“

Ich schluckte. Er hatte tatsächlich beaufsichtigen gesagt.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie eine Menge Arbeit zu bewältigen haben. Wo immer wir können, möchten wir eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen uns und Ihrem Haus. Eine gedeihliche Zusammenarbeit verhindert Reibungsverluste und spart viel Zeit.“

„Danke für Ihre guten Ratschläge, aber die habe ich nicht nötig. Es gibt ein Problem!“ Braun plusterte sich richtiggehend auf, setzte sich breitbeiniger als zuvor in den Lesesaalsessel, aber immerhin furzte er nicht.

„Ich habe gehört, dass Ihre Vorkurse eigentlich völlig unnötig sind.“

„Oh, wir haben uns dazu viele Gedanken gemacht, nachdem wir in den Anfängen unserer Kurse die Erfahrung machen mussten, dass sich viele Interessenten völlig falsche Vorstellungen von den hier durchgeführten anwendungsbezogenen Umweltkursen machten.“

„Frau Söhnlein ist der Meinung, dass diese Vorkurse nicht zu den Hauptlehrgängen gehören und nicht finanzierbar sind.“

„Der fünftägige Vorkurs handelt ein Thema ab, dass später im Hauptkurs zugunsten eines anderen Themas wegfällt. Insofern ist der Vorkurs wie ein Einführungskurs zu sehen und ist Bestandteil des Lehrgangs. Das Vorkursthema wird auch im Abschlusszeugnis dokumentiert.“

Herr Braun rutschte während meiner Begründung unruhig auf dem Sessel hin und her. Schließlich sagte er in scharfer Tonlage, quasi abschließend: „Wenn Frau Söhnlein, die das ja sachlich zu prüfen hat, zu der Auffassung gelangt, dass diese Vorkurse nicht Bestandteil des Lehrgangs sind, dann ist das eben so.“

Ich blieb ruhig, schließlich wusste ich die besten Argumente auf meiner Seite. „Ich hatte es so verstanden, dass Frau Söhnlein die Finanzierungsgrundlagen prüft, jedoch nicht die arbeitsmarktliche Erfordernis und die dazu notwendigen qualitativen Standards. Dafür ist doch der Fachvermittlungsdienst zuständig, oder irre ich mich?“

Das brachte mein Gegenüber völlig aus der Fassung. Denn ich wagte es, die Kompetenzen seines Hause so aufzuzählen, wie sie eigentlich sein sollten. Er sprang aus dem Sessel auf und sagte mit sich fast überschlagender Stimme: „Nein, hier hat Frau Söhnlein das letzte Wort. Basta! Keine Diskussion mehr.“

Er war rot angelaufen, und ich sah seine Halsschlagader pochen. Mir war schlagartig klar, was Lewin gemeint hatte, als er mich vor ihm gewarnt hatte: „Vorsicht! Choleriker!“

„Sie haben Recht, Herr Braun“, sagte ich in beruhigendem Tonfall, „vielleicht findet sich ja später eine Lösung; man muss nichts übers Knie brechen.“

Braun stürzte zur Tür, ich glaubte eine Schnappatmung zu vernehmen, dann blieb er wie angewurzelt stehen und sagte: „Außerdem würde ich mir gerne die Lernbedingungen in diesem Haus anschauen!“

In diesem Haus! Eine distanziertere Bemerkung hätte er sich nicht einfallen lassen können. Der Mann war uns feindlich gesinnt, das war mir klar. Ich dachte an einen Spruch, den ich mal bei meinem Vater gehört hatte: Umarme deinen Feind, dann kann er dich nicht mit seinen Händen erwürgen.

„Es ist aber gerade Unterricht. Haben Sie noch etwas Zeit bis zur ersten Pause? Das wäre in fünfzehn Minuten?“

„Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich terminlich stark gebunden bin. Es gibt mehr als nur die GTU in meinem Arbeitsamtsbezirk, glauben Sie mir!“

„Nun, dann lassen Sie uns am Rest einer Unterrichtsstunde teilnehmen.“ Ich ging voran und klopfte an die Tür des großen Seminarraumes, in dem Dr. Lutz Schimmelreith, der Leiter für alle GTU-Kurse, gerade zum Thema Abwassertechnik dozierte. Ich stellte Herrn Braun kurz vor, ebenso sein Anliegen.

„Herr Braun möchte gerne einmal einen Unterrichtsraum und unsere Unterrichtsform gesehen, beziehungsweise erlebt haben“, sagte ich, sah zu Lutz, den ich jetzt siezte: „Lassen Sie sich bitte nicht stören, der Unterricht kann gerne weitergehen.“

Viele Teilnehmer schauten etwas verwundert, was man ihnen nicht verübeln konnte, und auch Lutz sah mich mit erstauntem Blick an. Ich vertraute darauf, dass er die Situation intuitiv verstand. Und so war es auch. Er fuhr souverän in seinem Lehrstoff fort, während Braun unvermittelt einen Zollstock aus seiner Jacketttasche holte und die Raumhöhe maß. Dann ging er die Raumlänge messenden Schritten ab; es folgte auf der Rückseite die Raumbreite; er zählte lautlos die Anzahl der Seminarteilnehmer und ging sodann zur Tür, um mir halblaut und doch etwas zu schroff mitzuteilen, dass er für seinen Teil fertig sei. Ich wandte mich an die Teilnehmer und Lutz, entschuldigte noch einmal die Störung und verabschiedete mich. Braun sagte kein Wort zum Abschied.

Auf dem Flur holte er einen altmodischen Taschenrechner hervor und tippte seine Zahlen hinein. Dann sah er mich triumphierend an und sagte: „Die erforderlichen Raumkubikmeter pro Teilnehmer sind unterschritten. Sie können diesen Raum nicht mehr nutzen. Wir geben Ihnen drei Monate Zeit, eine Änderung der Verhältnisse anzugehen. Weiteres teile ich Ihnen schriftlich mit.“

„Sagen Sie mir bitte vorab, wo das Problem konkret liegt. Die Teilnehmer haben genügend Platz, sogar mehr als man in den öffentlichen Unterrichtsräumen einer Volkshochschule bereit hält. Die Belüftung ist durch­gehend und ausreichend möglich, wie es der TÜV fordert, und es wird stets auf Luftzufuhr geachtet.“

„Es liegt an der Deckenhöhe. Sie ist rund 5 cm zu niedrig. Erforderlich sind 270 cm, sie beträgt jedoch nur 265,5 cm.“

„Das wird doch mindestens ausgeglichen durch die übergroße Raumbreite, Herr Braun. Wäre das nicht gegenzurechnen?“

„Nein, da kann ich Ihnen leider nicht folgen. Also, Sie hören dann von mir! Auf Wiedersehen!“ – und weg war er. Als ich ihn so triumphal weglaufen sah, fiel mir spontan der Name eines Brüder-Grimm-Märchens ein: »Rumpelstilzchen«.

*

Mit Lutz, dem Kursleiter, verstand ich mich sehr gut. Schon beim Bewerbungsgespräch vor drei Jahren hatte mich seine natürlich-sympathische Ausstrahlung beeindruckt. Er erschien aufgeschlossen und fachlich durch und durch kompetent. Dieser Eindruck hatte sich nicht nur erhalten, sondern verstärkt. Zwar bedauerte ich, dass er in absehbarer Zeit nur noch für sein Jungunternehmen, das Umweltinstitut Offenbach, und nicht mehr für die GTU arbeiten würde, aber ich hatte volles Verständnis für diesen Schritt, schließlich hatte auch ich diesen Weg in die Selbständigkeit getan und bisher nicht bereut. Wir pflegten eine fast schon freundschaftliche Kollegialität, hatten uns gegenseitig bereits mehrmals samt unseren Familien eingeladen und erzählten uns auch in den Mittagspausen private Dinge.

Als Herr Braun gegangen war, unterrichtete ich Frau Wenzel und Lutz über die merkwürdige, fast beängstigende Begegnung mit diesem Beamten.

„Was kann denn groß passieren, wenn es bloß um eine angeblich mangelnde Raumhöhe von 4,5 cm geht? Da müssten wir erst einmal überprüfen, wo und wer das vorschreibt“, sagte Lutz in einem so zuversichtlichen Ton, dass ich innerlich aufatmete. Mich hatte die Begegnung doch recht nervös gemacht, obwohl ich sonst nicht zur Panik neigte. Doch Brauns Verhalten, sein erbarmungsloser Blick, sein Nicht-im-Geringsten-einlenken-wollen, hatten mich verunsichert.

„Wenn das jedoch tatsächlich ein Punkt wäre, mit dem uns das Gespann Braun-Söhnlein dauerhaft ärgern könnte, müsste man wahrscheinlich über die Grenzen hinaus denken …“, sagte Frau Wenzel.

„Über die Grenzen hinaus denken?“ Ich sah sie fragend an.

Sie blickte nachdenklich zu Lutz, zu mir, dann wieder zu Lutz, bis ihr Blick zum Fenster schweifte. Endlich sagte sie: „Vielleicht sollten wir umziehen. Die Kurse sind so erfolgreich, die Bewerberlage so blendend und stabil, die Finanzen ausreichend und die Miete hier recht teuer. Erweiterte Raumkapazitäten könnten uns nicht schaden.“ Sie setzte ein gewinnendes Lächeln auf, legte eine Kunstpause ein und sah mich dann auffordernd an. „Ich denk‘ an jenes Haus von diesem Herrn Nabel-Schoen, das Sie einmal als Betriebsstätte in Betracht gezogen hatten. Würden wir dort nicht besser dastehen und hätten wesentlich mehr Räume – übrigens auch für mehr Kurse? Und endlich separate Büroräume für die Dozenten, die sich nicht mehr zu zweit oder zu dritt ein Büro teilen müssten? Vielleicht ist die Friesstraße noch zu haben. Ich bin vor einem halben Jahr zufällig dort vorbeigekommen und es machte mir einen leerstehenden Eindruck.“

„Das ist gewiss eine Option, aber warten wir erst einmal das Schreiben des Herrn Braun ab“, wandte Lutz ein.

Ich stimmte ihm zu und bat Frau Wenzel, dennoch schon einmal ausfindig zu machen, ob der Leerstand in der Friesstraße definitiv sei.

Lutz und ich gingen anschließend zum Italiener zum Mittagessen. Hier schüttete er mir sein Herz aus, eine private Angelegenheit, es ging um seinen Adoptivsohn Kai, siebzehn Jahre alt. Seit seinem zwölften Lebensjahr war er auffällig, trank seit geraumer Zeit heimlich Alkohol, rauchte Shit und nahm LSD. Kurzum: Kai war ein Problemkind und fühlte sich zurückgesetzt gegenüber dem leiblichen Sohn von Lutz. Es gab am laufenden Band Zoff zwischen den beiden Jugendlichen, die altersmäßig nur ein Jahr auseinander lagen.

Kai, so schilderte es Lutz völlig verzweifelt, den Tränen nahe, war dabei, die gesamte Familie zu zerstören.

„Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht und wie ich mich entscheiden soll. Was auch immer ich in Erwägung ziehe, führt in eine ausweglose Situation und wird mich und die Familie auf Dauer schrecklich belasten.“

Ich musste in diesem Moment an eine Geschichte denken, die wir in der Realschule als Fünfzehnjährige für eine Deutscharbeit als Erörterung bearbeiten sollten:

Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Uhrmacher, Ende vierzig, Vater von fünf Kindern, hat vom Pastor den Auftrag erhalten, die defekte Kirchturmuhr zu reparieren, was nur von außen mittels zwei Steigleitern geschehen kann. Der Vater bittet Johann, seinen ältesten Sohn, mit ihm hinaufzusteigen, da er jemanden braucht, der ihm die Werkzeuge reicht. Der Sohn hat dies schon sehr oft gemacht; er ist wie sein Vater Uhrmacher, ist schwindelfrei und hat an verschiedenen Rathäusern und Kirchen bereits selbständig oder mit seinem Vater in schwindelerregenden Höhen gearbeitet.

Die Arbeit in luftiger Höhe ist für die Kleinstadt ein besonderes Ereignis und so haben sich viele Mitbürger, Kaufleute und Händler, die rund um den Marktplatz wohnen oder ihre Geschäfte betreiben, eingefunden, um das Geschehen zu verfolgen. Die Uhr ist in 60 Meter Höhe angebracht, und man muss mit zwei Leitern arbeiten, wobei die untere immer nach oben mitgezogen werden muss. Der erfahrene Uhrmacher steigt die erste Leiter hinauf. Als er am Ende der oberen Leiter angekommen ist, wartet er ab, bis sein Sohn auf der unteren Sprosse steht und die darunter hängende Leiter heraufzieht, um sie ihm hochzureichen. Er wiederum hängt die Leiter unter höchster Konzentration und Kraftanstrengung, aber mit Ruhe und Geschick, in die oben angebrachten Halterungen ein.

Beide haben jetzt zwei Drittel der Strecke geschafft und befinden sich auf circa 40 Höhenmetern. Plötzlich sehen die Zuschauer auf dem Marktplatz, wie der Jüngere auf der Leiter unterhalb des Älteren auszurutschen scheint. Ein Aufschrei geht durch die Menge. Aber der junge Mann fängt sich wieder, klammert sich jetzt aber mit einer Hand am Hosenbein des Vaters fest. Die Leute hier unten hören nicht, was der Vater den Sohn fragt.

„Was ist los mit dir?“

„Vater, ich kann nicht mehr. Mir ist schwindlig und ich habe das Gefühl, gleich abzustürzen.“

Der Alte bleibt ruhig und sagt: „Schau nicht nach unten. Wir halten inne. Ruhe dich aus und atme tief ein und aus.“

„Um mich herum dreht sich alles, Vater, ich kann hier nicht stehen bleiben. Ich rutsche gleich ab.“

„Reiß dich zusammen und behalte einen klaren Kopf. Der Schwindel geht wieder vorbei.“ Er fühlt, wie sich sein Sohn an sein Bein klammert und spürt das schwere Gewicht seines fünfundzwanzigjährigen Sohnes. „Du darfst dich nicht an mich klammern. Halte dich an der Leiter fest und schau nicht nach unten!“, sagt er jetzt mit lauter, fester, bestimmter Stimme.

„Wohin ich auch schaue, alles dreht sich um mich herum“, schreit der Sohn verzweifelt seinem Vater zu.

„Warte noch einen Moment und denke, dass sich nichts wirklich dreht. Es ist alles nur wie eine Illusion. Es geht vorüber.“

Unten verharren die Zuschauer in angsterfüllter Stille. Sie hören nur die fernen Stimmen, ohne sie zu verstehen. Sie sehen nur, dass es nicht weitergeht mit Vater und Sohn.

Der Sohn klammert sich weiter an das Bein des Vaters. Er ergreift jetzt auch das zweite Bein seines Vaters. Das Gewicht wird immer schwerer, das an dem alten Uhrmacher zerrt. Der Vater spürt, wie seine Kraft erschlafft.

„Du reißt mich in die Tiefe!“, ruft der Vater dem Sohn zu. „Halte dich ganz fest an der Leiter. Aber lass mich los. Wir müssen hier warten, bis es dir besser geht.“

Der Vater überdenkt die Situation blitzschnell. Er kann das Gewicht seines Sohnes nicht mehr länger halten. Der Schwindelanfall wird nicht in einigen Minuten vorüber sein. Schon einige Sekunden geraten jetzt zu einer gefühlten Ewigkeit. Er wird seinen Sohn höchstens noch eine halbe Minute an sich geklammert ertragen können. Dann wird seine Kraft erschöpft sein und sie werden beide abstürzen. Sein Sohn wird ihn mit in die Tiefe reißen. Er muss handeln.

Der Vater denkt an seine vier anderen Kinder, die beiden jüngsten sind acht und vierzehn Jahre alt, die beiden älteren, 20 und 22 Jahre; sie haben noch keine Arbeit und helfen im Haushalt mit. Der Uhrmacher denkt an seine alte, kranke Mutter und an seine Frau, die ohne ihn weder ihre Schwiegermutter noch die Kinder ernähren kann. Wenn die Familie ihre beiden ältesten Männer verliert, ist es das größte Unglück überhaupt. Wenn nur einer von ihnen beiden hier oben überlebt, ist es sehr schlimm, aber der Überlebende kann zumindest noch für die Familie sorgen.

Was soll er tun? Der Sohn hat nun sein ganzes Gewicht an die Beine seines Vaters gehängt und sagt, dass sich immer noch alles um ihn herum dreht und er sich nicht halten kann. Der Vater entschließt sich zu einer übermenschlichen Entscheidung und schleudert mit einem Bein seinen Sohn von sich. Der Schrei des abstürzenden jungen Mannes wird übertönt vom vielstimmigen Aufschrei der unten stehenden Menge, die dem Geschehen ratlos zusieht.

Der Abgestürzte ist auf der Stelle tot und wird unter Wehklagen, aber auch mit Wutgeschrei geborgen. Die Menschen schauen nach oben und sehen, wie der alte Uhrmacher jetzt sehr langsam nach unten absteigt, wie er jeweils die Leitern bedachtsam mit nach unten nimmt. Als er unten ankommt, bricht er zusammen und ist nicht ansprechbar. Einige wollen ihn sofort lynchen, aber die Mehrheit schützt ihn und sagt, dass er einen fairen Prozess bekommen möge. Man wolle erst wissen, was sich da oben abgespielt habe.

Soweit also lautete der Text, den wir damals als Schüler erörtern und als „Richter“ beurteilen sollten: Wenn Sie als Richter über den alten Uhrmacher zu urteilen hätten, wie würde ihr Urteil ausfallen und wie würden Sie das Urteil begründen?

Als ich Lutz das Gleichnis erzählt hatte, sah er mich mit großen Augen an. „Du empfiehlst, ich solle Kai von mir abschütteln?“

„Ich kann dir nur meine Haltung verdeutlichen. In meinem ethischen Weltbild hat die Mehrheit Vorrang vor dem Einzelnen. Wenn ich vier Personen retten kann und dadurch einen Menschen verliere – und die schreckliche Alternative wäre alle fünf zu verlieren – dann würde ich mich für vier und gegen einen entscheiden. Und dann kommt es freilich auf die Situation an, wenn es um die Frage geht, wer das Opfer für die anderen sein muss.“

„Gut, dass ich nicht vor solch einer Frage stehe“, sagte Lutz.

„Sag das nicht. Man kann auch daran denken, jemanden nur auf Zeit »abzuschütteln« – wenn man dieses unschöne Wort benutzen will. Die Frage ist, wie viel dein Adoptivsohn zerstört und ob er euch tatsächlich in den Abgrund reißt. Vielleicht gibt es eine mildere Alternative, die es gestattet, dass ihr erst einmal Abstand voneinander gewinnt. Ich denke an eine therapeutische Wohngemeinschaft für Kai.“

Ich konnte nicht im Geringsten ahnen, dass mich dieses fürchterliche Gleichnis in zwanzig Jahren noch einmal im realen Leben einholen und ich vor einer ähnlichen Entscheidung stehen würde, ohne ihr entfliehen zu können.

Nein, das war kein Aprilscherz, und Emma hatte es richtig Angst eingejagt: Sie war mit dem vierjährigen Luca und seiner sechsjährigen Schwester mit dem Fahrrad unterwegs zum Kleingarten meines Vaters. Unterwegs wurden sie von einem gewaltig kläffenden Dackel verfolgt, der nicht auf die „Zurück!“-Rufe seines Herrchens hörte. Der Hund holte die drei ein und verbiss sich in das Bein von Luca. Es war ein Drama, Arztbesuch, Anzeige gegen den Hundebesitzer, trösten der Kinder und schließlich Rücknahme der Anzeige inklusive. Was konnte man tun, um die Angst vor Hunden und den Brass gegen Vierbeiner nicht weiter gedeihen zu lassen? Sich einen eigenen Hund anschaffen!

Emma machte sich schlau über Hunderassen und ihre Familienverträglichkeit. Sie landete in ihrer aufwendigen Recherchearbeit bei Neufundländern. Dann machte sie sich kundig bei der nächstgelegenen Hundeschule, sprach Hundebesitzer an, fragte nach Erfahrungen und besorgte schließlich all das Zubehör, das man brauchte, um einem Hündchen eine neues Zuhause einzurichten.

Wir bekamen ein wunderschönes, sechs Wochen altes, schwarzes Wollknäuel in der Größe jenes Dackels, der der Auslöser gewesen war. Das Wollknäuel war ein Weibchen und hieß Adele. Sie hatte bereits in ihrem Babyalter die Größe von Luca, mit dem sie sich ebenso wie mit Karo von der ersten Sekunde an toll verstand, denn sie tollten sofort toll herum. Jetzt hatten wir ein drittes Kind. Ab nun hieß es, in unseren Tagesablauf auch ein langes Gassi einzuplanen. Wir schüttelten schlagartig unsere Ängste und unseren Ekel vor Vierbeinern ab. Die eigeninitiierte psychologische Überrumpelungsarbeit war gelungen.

Am 14. April schüttelte der SPD-Vorstand aus Kostengründen sein Parteiblatt, das bisher wöchentlich erschienen war, ab, den Vorwärts. Nicht nur seitdem ging es nicht mehr vorwärts, sondern rapide rückwärts mit der guten alten ehemaligen Arbeitnehmerpartei.

Blühende Zeiten - 1989 etc.

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