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Mai 1989

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Achtzehn Tage später, es war der 2. Mai, begann die Volksrepublik Ungarn völlig unerwartet mit dem Abbau der Grenzbefestigungen zu Österreich. Das Zentralorgan des Kapitalismus, die BILD, jubelte lauthals. Ich realisierte die in Aussicht stehenden historischen Auswirkungen dieses Vorgangs nicht wirklich. Zu sehr war ich befangen von meiner Arbeit und dem wichtigtuerischen Auftritt jenes unsympathischen Herrn Braun. Als ich Emma von seinem theatralischen Auftritt und dazu von Frau Wenzels Idee berichtete, war sie von der Umzugs-Überlegung begeistert.

„Lass mich das mit dem Nabel-Schoen recherchieren. Ich kann gut verhandeln, wie du weißt. Falls das Gebäude echt noch leer steht, lässt er gewiss mit sich über den Mietpreis reden.“

Meine Frau war ein Naturtalent in Sachen Verkauf und Verhandeln. Sie übernahm die Sache. Somit war Frau Wenzel entlastet und Emma konnte ihr Talent beweisen. An diesem Abend kamen wir auf ein anderes Naturtalent zu sprechen. Meise hatte mich angerufen und von Jürgen Harksen und seinen Millionen-Anlage-Erfolgen berichtet.

„Willst du da nicht mal investieren? Dreihundert bis tausend Prozent Rendite, das ist doch phantastisch! Wo sonst kriegst du so etwas geboten? Ich habe keine müde Mark, sonst würde ich bei ihm investieren. Aber du! Du kannst doch etwas hinlegen. Probiere es doch einfach aus. Du weißt, dass ich nicht davon profitiere, wenn ich ihn dir empfehle. Ich rate es dir nur als Freund und weil ich Jürgen gut kenne. Du kannst ihm vertrauen.“

„Mein guter Meise“, hatte ich ihm geantwortet, „ich glaube an deinen guten Willen, aber ich glaube nicht an ein Tausend-Prozent-Versprechen eines Herrn Harksen, denn ich bin Realist und nicht hauptberuflicher Künstler wie du. Dreihundert bis tausend Prozent – das ist unrealistisch und unseriös. Irgendwann wird sich der Pferdefuß herausstellen. Die Börse boomt zwar tatsächlich, ich verfolge das sehr wohl – doch tausend Prozent zu garantieren, ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Komm, lass uns beide das Thema für immer begraben.“

Meise berichtete mir dennoch eine weitere geschlagene halbe Stunde von den glorreichen Ereignisfeldern des Herrn Harksen. Aber wie verhielt es sich in Wahrheit? Ich erfuhr es von Harksen selbst, allerdings erst einige Jahre später. Landeten anfangs nur vierstellige Anlagebeträge auf seinem Konto, so rief eines Tages ein Versicherungsmakler an und deutete seine Absicht an, eine größere Summe zu investieren.

Als sie einige Zeit später beisammen saßen, interessierte sich Harksen als Erstes für dessen diverse Versicherungsangebote, Hausrat, Haftpflicht, Rechtsschutz – all dies hatte Harksen ja nicht. Also ließ er sich ein Paket aufschwatzen, das im Monat rund tausend Mark kosten sollte. Dann tat er so, als wolle er gehen. Der Versicherungsmensch hielt ihn zurück: „Herr Harksen, wir waren doch wegen etwas anderem verabredet.“

„Ja, wie konnte ich das nur vergessen!“

Jetzt hatte er ihn an der Angel, denn durch seine Bereitschaft, das teure Versicherungspaket zu kaufen und den offensichtlichen Beweis des Desinteresses am eigenen Vorteil, hatte er das Vertrauen des Versicherungsmaklers gewonnen. „Ich habe gehört, dass Sie ein vertrauenswürdiger Geschäftsmann sind, dem man sein Geld zur Vermehrung überlassen kann. Man sagt ihnen ein goldenes Händchen nach.“

Keck und treuherzig hatte Harksen ihm in die Augen geblickt: „Das kann ich nicht abstreiten.“

Der Makler gab ihm einen Scheck, den er aus einem vorbereiteten Briefumschlag zog. „Fahren Sie eine gute Ernte ein.“

Harksen las die Ziffer – 75.000 Mark. Mit dieser gewaltigen Summe hatte er damals, in seinen Anfangszeiten, nicht gerechnet. Jetzt hieß es nur noch: kühlen Kopf bewahren und keine freudige Erregung zeigen. Mit dieser Summe hätte er auf einen Schlag alle seine Altkunden befriedigen können. Der Versicherungsagent wollte das Geld erst in einem Jahr wiederhaben. Nun hatte Harksen insgesamt 120.000 Mark auf seinem Anlage-Konto.

Das Geschäft mit der realen Börsenspekulation war somit beendet, stattdessen kam die Lawinenlogik zum Tragen: Bis der eine Kunde sein Geld zurückhaben wollte, so war sich Harksen sicher, käme ein anderer mit einem noch größeren Betrag. Und sie kamen, und alle glaubten die Geschichte vom großen Börsenmakler, die er ihnen vorspielte. Er war für sie der Gott der guten Geschäfte, zumal er immer wieder mal einen Teil der Einlagen mit Gewinn an sie ausgeschüttet hatte. Harksen sprach fließend Dänisch, er war an der Grenze aufgewachsen. Seine Legende gegenüber den Kunden war, dass er seine Gewinne an der dänischen Börse mache.

Eines Tages gab er bei seinen Kunden die Parole aus: „Macht ein Konto in Dänemark auf, an der dortigen Börse werden die Gewinne erwirtschaftet. Von dort könnt ihr sie selbst besser transferieren.“

Seine Kunden nahmen das Geld ohnehin lieber im Ausland entgegen, da konnten sie dem deutschen Fiskus ein Schnippchen schlagen. So flog Harksen mit drei Ge­schäftspartnern an einem sonnigen Mittwoch nach Kopenhagen. Die drei, Hans, Jens und Markus, waren in der Hamburger High Society bestens vernetzt und sollten – so Harksens Hintergedanken – sein Renommee als bedeutender Börsenmakler im nordischen Geldadel weitertragen.

Als Erstes eröffneten die drei mit Harksens Übersetzungshilfe ihre Konten bei der Danske Bank, anschließend gingen sie einen trinken. Jens, der ein schwerreicher Autohändler war, druckste erst etwas rum, bevor er mit seinem Anliegen herauskam: „Du, Jürgen, ich muss gestehen, ich habe noch nie eine Börse von innen gesehen. Kannst du uns nicht mal an die Stätte deines Wirkens mitnehmen?“

Jürgen Harksen lief es heiß und kalt den Rücken runter. Nun saß er in der Falle, denn natürlich hatte auch er noch nie die Börse in Kopenhagen von innen gesehen. Wie konnte er ihnen den Wunsch abschlagen? Jetzt hieß es nach vorne durchstarten. Er sagte es ihnen zu. Als sie am frühen Nachmittag ins Plaza-Hotel zurückkamen, gingen die drei auf ihre Zimmer, während er den Portier fragte, wo hier die Börse sei und wie man dort hineinkomme. Der Portier nannte ihm die Zeiten, zu denen die regelmäßigen Börsenführungen stattfänden.

Harksen ging mit dem Stadtplan in der Hand um ein paar Straßenecken zur Börse. Dort buchte er für sich und auf die Namen seiner drei Geschäftsfreunde Karten für die Besuchertour am nächsten Tag bei einem älteren Herrn, den er beiläufig in ein nettes Gespräch verwickelte.

Als Harksen am nächsten Tag mit seinen Freunden die Börse betrat, begrüßte ihn der ältere Herr wie einen alten Bekannten. Für die drei Geschäftsfreunde war damit klargestellt, dass ihr Jürgen hier ein und aus geht. Bevor sich andere Touristen zu der organisierten Führung einfanden, nahm er seine Freunde mit auf die Empore. Unterwegs auf den Treppen begegneten ihnen einige wichtig aussehende Herren, die Harksen voller Zuversicht auf einen Gegengruß begrüßte. Das klappte fast immer, denn die Dänen sind freundliche Menschen. Zudem hätte er tatsächlich einer ihrer Geschäftspartner sein können, den sie nur lange nicht gesehen hatten.

Während der Rundtour hielt Harksen seine Begleiter mit aktuellen Investmentgeschichten aus dem Wirtschaftsteil der Zeitungen bei Laune und registrierte beiläufig, dass sein Auftritt als Gruß-August seine Wirkung nicht verfehlte. Dann sah er plötzlich einen voluminösen Herren, der mit schwerer Aktentasche die Treppen herunterkam. Er wirkte noch wichtiger als alle vorherigen Wichtigtuer. Am Revers trug er ein Namensschild: Lars Peterson. „Mensch Lars, lange nicht gesehen“, grüßte ihn Harksen auf Dänisch. Der Angesprochene schaute einen Moment etwas verwirrt durch goldumrandete Brillengläser, machte aber gute Miene zum unbekannten Spiel und entgegnete nach einem kurzen Blick auf das Namensschild, das Harksen am Revers trug: „Jürgen! Toll, dich mal wieder zu sehen.“

Harksens Freunde, die kein Wort Dänisch verstanden, waren platt vor Staunen. Anschließend verwickelte er Herrn Peterson in ein unverfängliches Gespräch über die besten Restaurants und bekannte dänische Firmen. Hauptsache, es fielen bestimmte Firmennamen, etwa Dan Air oder Tjaereborg, damit seine Freunde glaubten, die beiden unterhielten sich über bereits getätigte oder zukünftige geschäftliche Transaktionen. Als Peterson sich verabschiedet hatte, klopften die Freunde Harksen auf die Schulter: „So weit wie du möchten wir es auch mal bringen.“

Jens hatte als Hamburgs bestgestellter Autohändler natürlich sein Renommierobjekt, das neueste Motorola-Handy, mit.

(Im Unterschied zu dem Modell, das mir Frau Wenzel zwei Jahre zuvor empfohlen hatte, kam es ohne störende 200mm-Antenne aus, und es hatte nur noch die bescheidenen Maße von 163 x 59 x 38 mm.)

Gerade hatte sich Harksen nach dem Preis erkundigt – „Ich habe 3.500 Dollar gezahlt“, antwortete Jens – als das Handy klingelte. Christina, die Frau von Jens war dran. Er dröhnte gleich darauf los: „Weißt du was! Wir sind in der Höhle des Löwen. Es stimmt alles. Wir haben es mit eigenen Augen gesehen. Jürgen ist als Börsenmakler groß im Geschäft.“

Später am Abend gingen alle vier in den Börsenkeller auf ein gutes Essen und einen Wein. Der Zufall wollte es, dass Harksens neuer »Freund« Lars mit seiner Frau ein paar Tische weiter saß. Man wechselte ein paar unverbindliche Worte und prostete sich anschließend von Tisch zu Tisch gelegentlich zu. Am nächsten Tag flog Harksen mit seinen drei Auserwählten nach Hamburg zurück. Jens sagte auf dem Rückflug: „Meine Frau, die soll mir nochmal was erzählen, dann kriegt sie was zu hören!“

Ohne dass Harksen mir das später erklären musste, war mir klar, dass dies ein großer Meilenstein in seiner Karriere als Hochstapler gewesen war. Im Grunde genommen war diese »Geschäftsreise« sein bestes Investment. Nun fingen die Hunderttausende erst richtig an zu fließen. Die misstrauischen Ehefrauen mit ihren warnenden Stimmen standen ab jetzt auf verlorenem Posten.

Blühende Zeiten - 1989 etc.

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