Читать книгу Blühende Zeiten - 1989 etc. - Stefan Koenig - Страница 3

Blühende Zeiten - 1989 etc.

Оглавление

Stefan Koenig

Blühende Zeiten

1989 etc.

Zeitreise-Roman

Band 6

In schwierigen Corona-Zeiten gefördert von der Hessischen Kulturstiftung

in Wiesbaden

Aus dem Deutschen

ins Deutsche übersetzt

von Jürgen Bodelle

Wir können das Buch selber schreiben

Es gibt genug freie Seiten

Für immer bunteste Zeiten

Ich weiß, für uns wird‘s so bleiben

Wir fliegen weg, denn wir leben hoch

Gewinnen alles und geh‘n k.o.

Wir brechen auf, lass die Leinen los

Die Welt ist klein und wir sind groß

Und für uns bleibt das so

Für immer jung und zeitlos

Wir fliegen weg, denn wir leben hoch

Die Welt ist klein und wir sind groß

Immer da, ohne Rückspiegel

Keine Fragen, einfach mitzieh‘n

Dir fallen die Augen zu, dann gib das Steuer her

Paar Stunden Richtung Süden und wir seh‘n das Meer

Unsre besten Fehler, ich lass‘ sie laminieren

Pack‘ sie in die Jeans, trag‘ sie nah bei mir

Lass uns rauf auf‘s Dach, da ist der Himmel näher

Ey, die Zeit ist knapp, zusammen haben wir mehr

Wir können das Buch selber schreiben

Es gibt genug freie Seiten

Für immer bunteste Zeiten

Ich weiß, für uns wird‘s so bleiben

(Aus: Mark Forster, Wir sind groß)

© 2020 by Stefan Koenig

Mail-Kontakt

zu Verlag und Autor:

juergen.bodelle@t-online.de

Postadresse:

Pegasus Bücher

Postfach 1111

D-35321 Laubach

Vorbemerkung

Blühende Zeiten und blühende Landschaften. Die Zeit zwischen 1989 und 1994. Ich hatte mir vorgenommen, jene fünf Jahre in diesem Band zu vereinen. Diese Vereinigung ging schief. Im Laufe des Recherchefortschritts wurde mir zusehends klar, dass alleine das Jahr 1989 mit so vielen Ereignissen vollgepackt war, dass die vorliegenden 432 Seiten leicht zu füllen wären, ginge ich auf alle spannenden Einzelheiten ein. In der Mitte meiner Arbeit angelangt, wurde mir bewusst, dass ich das Vereinigungsjahr 1990 zwar beginnen, aber sicherlich nicht beenden könnte – es sei denn, ich weitete den Seitenumfang aus. Das aber wollte ich nicht.

1989, das historische Jahr. Viele Überraschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen. Politikerworte, leere Worte, falsche Versprechungen, Hohlbirnen und Birne als Kanzler. Raffgier, Goldgräberstimmung, Besatzermentalität, die Heilsarmee der Wessis. Die blauäugigen, angeblich lebensunerfahrenen Ossis. Das Millionengrab im Osten und der blutende Westen. Verlockung und Verheißung und der Weg in die neue Abhängigkeit. Die Chance auf ein neues Deutschland und die vertanen Möglichkeiten. Alte Politik in neuen Schläuchen. Blendung und Erblindung.

Der Stichworte sind es viele, die uns einfallen, wenn wir über die Wendezeit und die Wendehälse nachdenken. Wollen wir heute noch viele Worte über all die Enttäuschungen verlieren? Ja, wir wollen. Und: Yes we can. We can change if we want! Aber wollen wir zurück in die Zeit von damals? Nicht wirklich. Jedoch in Gedanken. In Gedanken müssen wir zurück, müssen uns an jene Umbruchzeit erinnern, wenn wir aus Fehlern lernen wollen. Und wollen wir lernen? Na klar, wir wollen.

Geschichte ist nicht zum Umschreiben da, auch wenn es nach Orwellscher Vision Mächte gibt, die genau davon leben. Erinnerung dient vielmehr der humanen Vorausschau. Ohne einen realistischen Blick zurück, gibt es keinen realistischen Blick in eine lebenswerte, humane und ökologische Zukunft. Meine Zeitreise führt noch einmal quer durch jene Zeiten, die dem damals nahenden neuen Jahrtausend alte Probleme mit auf den Weg gaben. Probleme der Besitzverhältnisse und der sozialen Teilhabe. Probleme der Umwelt und der Mitmenschlichkeit. Probleme des Friedens, der Abrüstung und der Kriegführung der Eliten. Die Eliten selbst zogen dabei nicht in den Krieg, auch nicht ihre Söhne und Töchter. Die modernen Eliten lassen das einfache Volk ziehen, lassen die Bürger „mehr Verantwortung übernehmen“ – wie Krieg führen heutzutage genannt wird.

Viel geschah in den fünf Jahren nach der Wende und stellte die Weichen für die Zukunft. Viele Weichen führten ins Abseits. Einige Weichen weichten das Anliegen der DDR-Bürgerrechtsbewegung vollständig auf. Hardcore-Kapitalismus machte sich breit und die Gewerkschaften machten sich klein. Oder sie wurden klein gemacht. Hier entscheidet der Blickwinkel.

Verschiedene Blickwinkel erleichtern die Beurteilung der Lage. Manchmal dient die Vielfalt der Blickwinkel jedoch der Vernebelung. Lassen Sie, liebe Leserschaft, sich nicht verwirren. Sie haben ihren eigenen Kompass. Behalten Sie ihn im Auge.

Wenn ich mich erinnere und meine zahlreichen Dokumente aus jenen Zeiten zur Hand nehme und sichte, habe ich meinen ganz persönlichen Blick auf die Geschehnisse. Das ist normal und legitim. Niemals würde ich deshalb aber in Anspruch nehmen, den einzig richtigen Blickwinkel eingenommen zu haben. Als Autor stehe ich hingegen in der Pflicht, den Blick auf die historischen Begebenheiten so umfassend wie möglich frei zu geben.

Bedenken Sie bitte bei alledem, dass ich einen Roman schreibe. Einen hoffentlich lesbaren, unterhaltsamen, aufschlussreichen und spannenden Roman über jene Epoche. Wenn er Ihnen gefällt, bin ich für eine Weiterempfehlung dankbar. Schenken Sie zu den Geburtstagen ruhig wieder einmal ein Buch. Bücher sind in Existenznot. Zumal, wenn es Bücher sind, die dem Mainstream nicht nach dem Mund plappern. Die Verflachung der Buchthemen ist für mich ein Graus.

Ich bin so glücklich, wenn ich in unserer Gegenwartsliteratur hin und wieder einen Autor oder eine Autorin mit einem kritischen Blick entdecke. Noch besser, wenn dabei ein kritischer Text herauskommt. Völlig entgeistert bin und bleibe ich, wenn ich wieder einmal feststellen muss, wie unsäglich scheintot sich unsere Intellektuellen stellen oder wie mundtot sie sich machen ließen.

Wo gibt es noch große kritische Geister, die sich dem Wahnsinn der Aufrüstung und der katastrophalen sozialen Ungleichheit öffentlich entgegenstellen? Früher haben die bundesdeutschen Intellektuellen, Schriftsteller wie Wissenschaftler, Lehrende wie Künstler, die Friedensbewegung mitgetragen und mit befeuert. Früher sind sie aufgestanden. Früher haben sie sich gerührt.

Und heute? Wo sind sie geblieben?

Warum sind sie eingeschlafen?

Wer hat ihnen Schlafmittel verabreicht?

Früher, ja, früher war alles besser, oder? Nein, war es nicht. Damals war alles anders. Vieles war besser, vieles schlechter. Und was bewegte uns damals noch, neben den gravierenden Fragen der Menschheitsgeschichte?

Heino feierte sein erstes Comeback, nachdem er eine Zeitlang nicht mehr in den neuen Zeitgeist gepasst und „hoch überm Tale“ seine Zelte aufgeschlagen hatte. Schwarz-braun war zwar die Haselnuss, aber die schwarz-braune Zeit war endgültig passé. Dachte man.

Tausende blutjunger Mädchen litten unter unsterblichem Liebeskummer. Die Boygroup »Take That« machte sie wild. Massenhysterie drohte, wo die »Kelly Family« auftauchte. Nichts mehr ging ohne Claudia Schiffer. Trendy in den 1990er Jahren: der Walker, die Modedroge Ecstasy sowie Volvic und San Pellegrino.

-Die Klatschjournaille ließ sich über Harald Juhnkes Alkohol-Problem aus. Und während man früher im Smoking in die Oper ging, taten es nun auch Jeans und Pulli. Immer noch jagte Arnold Schwarzenegger als Terminator seine gegnerischen Kriegsmaschinen durch Gitter und Wände. Der Computer hatte das Kino erobert.

Und heute? Unsere Herrschaftseliten, die in Wahrheit keine wirklichen Eliten sind, haben mit ihren Medien die Gehirne der Menschen erobert.

Ist alles verloren? Nein!

Viel Lesespaß wünscht Ihnen

Stefan Koenig

Post Scriptum:

Wir haben Corona-Zeiten – und natürlich schreibe und sammle ich Informationen hierzu mit der Absicht, zu gegebener Zeit einen zeitgerechten Roman hierüber zu verfassen. Zeitgerecht, das heißt, der Zeit, in der wir heute leben, gerecht zu werden. Eine so zerrissene Zeit, solch zerrissene Umstände und eine solch zerrissene Gesellschaft hab‘ ich mein Lebtag nicht erlebt, würde Onkel Podger sagen … und er hatte wahrlich einige Jahre auf dem Buckel. Aber er hat die Gegenwart nicht mehr erlebt.

Darf ich Ihnen die Wahrheit sagen? Ja? Nun gut, mir hat noch nie so viel vorm Schreiben gegraut, wie vor diesem Thema. Wenn ich 2020 in Schriftform hinter mir habe, habe ich das Schlimmste geschafft … denke ich heute.

Wenn Sie dieses Buch lesen, müsste das Urteil im unmenschlichen und menschenrechtswidrigen Auslieferungsverfahren gegen den leidenden Helden Julian Assange gefallen sein. Ich drücke ihm die Daumen. Er verteidigt für uns alle die demokratischen Freiheitsrechte. Und bezahlt mit seiner Gesundheit – und hoffentlich nicht noch mit seinem Leben. Ihm widme ich den Text ganz am Ende dieses Buches.

Dieses Buch ist den ost- und westdeutschen

Oppositionellen aus der Wendezeit gewidmet.

Es ist jenen gewidmet,

die ihren sozialen Ideen und Hoffnungen

und der Wahrheit verpflichtet blieben

Nur wenige im Osten hatten mit

der erbarmungslosen Invasion

der Deutschen Mark gerechnet

Die, die wussten, was kommen würde,

wurden nicht gehört.

Ihre Alternativen

verhallten in der

Wüste des erweiterten

Wilden Westens

* Gewidmet auch meinen unerschütterlichen Unterstützerinnen *

* Alexandra & Anja *

„Die ganze Welt besteht aus Lug und Trug!“, rief Emma in die Runde. Meine Frau empörte sich über ein Spekulationsgeschäft, das wir beide abgeschlossen hatten. Wir hatten um die Gefahr des Totalverlustes gewusst. 3.000 Mark waren flöten, immerhin ein halber Familien-Urlaub. Noch vor drei Jahren wäre es unser gesamtes Gespartes gewesen. Nun waren wir mit unserem Unternehmer-Einkommen übermütig geworden.

Ich kramte ein beliebtes und zutreffendes Karl-Marx-Zitate aus meiner Erinnerung hervor: „Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. 10 Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.“

„Das Marx-Zitat hat aber wenig mit eurer Situation zu tun. Ihr seid ja die Geschädigten“, sagte mein Bruder. „Wenn du mit deinem Kapitaleinsatz Schaden anrichten würdest, indem du übermütig wirst …“

Ich ließ ihn nicht ausreden und räumte reumütig ein: „Ja, ja, sich auf ein Spekulationsgeschäft einzulassen, war ein Fehler. Immerhin sind wir nicht auf das »großzügige« 20.000-DM-Angebot eingegangen. Dem Broker zufolge hätten wir innerhalb von nur vier bis sechs Monaten eine Rendite von 300 Prozent erreicht.“

„Das erschien uns aber sehr unrealistisch“, warf meine Frau ein, und an meinen Bruder gewandt: „Sag‘ mal ehrlich, Günter, wie hättest du auf solch ein Angebot reagiert?“

Anfang Oktober letzten Jahres hatte mich in meinem Bildungsinstitut ein Anruf erreicht. „Herr Koenig, ein scheinbar wichtiger Mensch ist am Apparat. Es lässt sich nicht entlocken, was er konkret will. Er sagt, es sei existentiell, und er könne es nur mit dem Geschäftsführer persönlich bereden. Ein einmaliges Angebot.“

Ich hatte Frau Wenzel im Zentralsekretariat der GTU gebeten, stets nur dann durchzustellen, wenn es wirklich meine Entscheidungsebene und nicht vielleicht Dozenten oder Mitarbeiter aus der ökologischen Beratungssparte betraf. Seit nunmehr fast drei Jahren war die »Gesellschaft für Umweltschutz und Technologieberatung«, die ich Mitte 1986 gegründet hatte, aktiv und regional wie überregional bekannt.

„Na gut, dann stellen Sie ihn mir bitte durch.“

Der gute Mann am anderen Ende der Leitung war ein Börsenbroker. Damit hatte ich am wenigsten gerechnet. Er stellte sich mit Namen und Funktion vor, berichtete über sein Börsendasein, dessen hektische Geräusche im Hintergrund herauszuhören waren. Er klang durchaus seriös, gab Informationen, ohne dass ich mich übertölpelt oder als Börsen-Depp fühlen musste. Rückfragen beantwortete er glaubwürdig, und er machte ein Superangebot.

„Wenn Ihr Unternehmen aus seiner stillen Reserve 20.000 Mark in eine Getreideoption investiert, können Sie nach allen bisherigen Erfahrungen innerhalb der nächsten vier bis sechs Monate das Dreifache daraus machen.“

„Wir sind eine gemeinnützige Bildungs- und Beratungseinrichtung und Spekulationsgeschäfte sind völlig ausgeschlossen.“

„In diesem Fall biete ich es Ihnen als Privatmann an, was hier in meiner Abteilung allerdings ungern gesehen wird. Aber ich mache für Sie eine Ausnahme.“

Wie er darauf komme, weshalb er gerade die GTU und mich ausfindig gemacht habe, weshalb er nicht selber investiere, ob er es auch seinen Freunden empfehle, um sie glücklich zu machen … So ging es hin und her. Ich hatte natürlich arge Zweifel. Er versprach mir, die offiziell gehandelten Titel per Fax zuzusenden, was auch umgehend geschah. Charts, Tabellen, Kontostände, Gewinnausschüttungen – alles war dabei, irgendwie recht beeindruckend. Ich brauchte nur zu überweisen. Aber Emmas und meine privaten Rücklagen betrugen gerade mal die Hälfte der erforderlichen Summe. Ich machte ihm klar, dass ich niemals die gesamte Rücklage in ein Börsengeschäft, das ich nicht selbst steuern könne, einbringen würde.

„Sie können zu jedem Zeitpunkt aussteigen. Allerdings erfolgt die Auszahlung erst zum Fälligkeitszeitpunkt“, ließ mich der Broker wissen.

„Ich investiere nur einen Probebetrag in Höhe von 1.000 DM. Wie hoch wird der Gewinn nach vier Wochen sein?“

„Normalerweise handeln wir nicht mit einem solchen Minibetrag, aber weil Sie es sind …“

„Was heißt: »Weil Sie es sind«? Was genau, finden Sie denn an mir so außergewöhnlich, dass Sie mir Sonderkonditionen einräumen wollen? Das macht mich, ehrlich gesagt, etwas stutzig.“

Er erzählte mir dann, wie er auf die GTU aufmerksam geworden sei. Und es wäre doch offensichtlich, dass der technische und ökologische Umweltschutz ein Zukunftsprojekt sei, und ich als Gesellschafter und Geschäftsführer … bla bla bla. Das war haufenweise Honig ums Maul geschmiert. Aber es wirkte. Ich war bereit, weiter zuzuhören.

„Nach jetzigem Stand des Getreidepreises erhalten sie schon nach rund einem Monat das Dreifache.“

„Okay, dann lasse ich mich mal darauf ein.“

Gesagt getan. Natürlich stimmte ich mich am Abend mit Emma ab. Ein Monat verging, und dann kündigte ich die Börsen-Option per Fax, um den anvisierten Gewinn aus den 1.000 investierten Mark zu realisieren.

Der Broker meldete sich telefonisch: „Sie haben ein gutes Geschäft gemacht, gratuliere! Ihr Investment hat sich etwas mehr als verdreifacht. Ihr Konto steht bei 3.152,64 Mark!“

„Super. Und wie kommt das Geld auf mein Privatkonto?“

„Wir können es Ihnen sofort überweisen.“

„Gerne. Sie haben ja meine Bankverbindung.“

„Ja. Sie können natürlich auch gerne investiert bleiben. Das steht Ihnen offen. Wenn Sie das Investment mit 2.000 DM auffüllen, steht Ihr Getreidekonto bei rund 5.000 und wirft in den nächsten vier bis sechs Wochen 300 Prozent ab. Dann können wir Ihnen demnächst 15.000 auf Ihr Konto überweisen.“

Am Abend hatte ich mit meiner Frau darüber gesprochen; wir wollten den Versuch wagen. Und dann, kurz vor Weihnachten, als wir den Gewinn zu realisieren gedachten, kam der Aufwachmoment. Die Getreidepreise seien unerwartet stark gefallen, leider stehe unser Börsenkonto gerade bei minus 232,58 Mark und wir müssten entweder noch abwarten oder nachschießen. Da fiel es uns wie Schuppen von den Augen.

Und gerade jetzt, nur zwei Wochen nach der Börsen-Ernüchterung, kündigte sich mein alter WG-Kumpel Meise aus Hamburg zu Besuch an. Im Schlepptau ein Mann namens Jürgen Harksen.

„Er ist ein ausgemachter Anlageprofi“, flötete Meise in die Muschel. Wie konnte Meise, mein gutgläubiger Künstler und Comic-Zeichner, für den Finanzen und Betriebswirtschaft immer Fremdworte aus einer Lichtjahre entfernten Galaxie waren, alleine schon das Wort Anlageprofi in den Mund nehmen?

„Anlageprofis sind Profis in Sachen Beschiss“, sagte ich.

„Zuhören hat noch nie geschadet“, antwortete Meise. „Wir bleiben ja nicht lange. Ich will noch meine Schwester besuchen. Harksen hat halt echt gute Angebote.“

Wir erwarteten die beiden für die zweite Januarwoche. Emma und ich würden Harksen auf Herz und Nieren prüfen.

Heute, am Sonntag, dem 1. Januar des neuen Jahres, saßen wir in familiärer Runde zusammen und Günter antwortete auf Emmas Frage, wie er sich bei dem Broker-Angebot verhalten hätte, mit einem Achselzucken. „Mir hätte wohl niemand ein solches Angebot unterbreitet. Es ging offensichtlich darum, irgendwann an das große Unternehmensgeld heran zu kommen.“

„Das große Unternehmensgeld!“, wiederholte ich ironisch. „Wer weiß, wie lange alles überhaupt noch gut geht und was uns in diesem Jahr noch alles bevorsteht. 365 Tage können manchmal sehr lang sein.“

Von heute bis zum Mauerfall-Donnerstag, dem 9. November 1989, waren es nur 313 Tage, was zu diesem Zeitpunkt niemand aus unserer Runde ausrechnete, weil niemand auch nur das Geringste davon ahnte. Und beide Tage lagen so weit auseinander wie die ägyptische Hochkultur vom römischen Imperium. Kein Mensch dachte an die dramatischen Ereignisse, die das Jahr prägen sollten.

Gestern, am letzten Tag des Jahres, hatten Emma und ich meine Eltern zu Gast. Das war selbstverständlich. Schließlich wohnten sie ein Stockwerk über uns und freuten sich, weil sie nicht kochen mussten. Dazu hatten wir die Familie meines Bruders und meine Nichte samt Mann und Sohn eingeladen. Man hatte über die Zukunft gesprochen, wie das so oft an Silvesterabenden üblich ist. Wir hatten uns alles Gute gewünscht und gemeinsam Urlaubspläne geschmiedet.

Meine Frau hatte eigentlich einen Städtebesuch in der Schweiz mit einer Woche Urlaub am Genfer See geplant. Aber in Anbetracht der Schmälerung durch unseren börsennotierten Verlust, schminkten wir uns das luxuriöse Vorhaben ab.

„Ich hätte ja gerne mal Zimmer 317 im Hotel Beau-Rivage in Genf besucht“, sagte ich.

Emma, mein Bruder und meine Nichte Petra wussten sofort, dass ich auf den angeblichen Freitod des prominenten CDU-Politikers Uwe Barschel anspielte.

„Da hättest du weiß Gott keine Aufklärungsarbeit mehr betreiben können“, lachte Günter.

„Eher hättest du dich wieder mal in deinen Geheimdienstmärchen verrannt und Emma hätte sich den ganzen Urlaub über deine abstrusen Waffenschiebergeschichten anhören müssen.“

Wir alle lachten – auch Otto, mein Vater, der immer weniger mitbekam, worüber wir redeten. Mit seinen 80 Jahren war er nicht mehr der Fitteste. Noch vor fünf Jahren hatte er als Alterssportler bei Leichtathletik-Wettkämpfen mitgemacht und oft den ersten Platz belegt. Die Zeit war rum. Wir merkten es von Tag zu Tag mehr.

Nun gut, das Hotel Beau-Rivage und Zimmer 317 war nun für mich mangels gefüllter Reisekasse passé. Am nächsten Morgen, am ersten Tag des neuen Jahres, musste ich ernüchtert daran denken.

Was Uwe Barschels mysteriösen Tod in der Badewanne betraf, so sitzt an diesem Tag in Lübeck ein Oberstaatsanwalt über einem Stapel alter Zeitungsberichte und amtsinterner Notizen. Sein Name ist Heinrich Wille. Er schüttelt den Kopf, wenn er über all die Widersprüche nachdenkt, die sich vor seinem geistigen Auge auftun. Er kennt die Politik, kennt Politiker und politische und wirtschaftliche Zusammenhänge. Heinrich Wille ist ein politisch interessierter Mann. Hauptsächlich ärgert er sich an diesem Tag aber über die schlampige Arbeitsweise der schweizerischen Kollegen. Er macht Aufzeichnungen über die exemplarischen Versäumnisse der dortigen Ermittlungsbehörden und begutachtenden Stellen. Er fragt sich, wofür er das eigentlich macht, denn er hat mit dem Fall Barschel nichts zu tun. Doch irgendwie drängt es ihn, die Dinge, die er heute sieht, schriftlich festzuhalten.

Wille notiert, was ihm auf den ersten Blick an Defiziten auffällt:

 Mangelhafte kriminalistische Tatorterhebungen: keine Tatortfotos, kein Messen der Badewassertemperatur

 Zögerliche kriminalistische Folgeermittlungen: unzureichende Recherche nach dem Taxifahrer vom Flughafen zum Hotel, keine Überprüfung der unmittelbaren Vorgeschichte – Gran Canaria und Flug

 Rechtsmedizinische Versäumnisse: keine Dokumentation des Mageninhalts und Aufbewahrung zumindest nur eines geringen Teils davon; keine Sicherstellung nur einer geringen Menge Urin

 Fragmentarische Folgeuntersuchungen: »die Flecken auf dem Badeteppich sind keine Rotweinflecken«; weiße Flecken auf der Hose von Uwe Barschel: vermutlich Talkumspuren des Präparators der Genfer Gerichtsmedizin

 Keine Aufklärung über Barschels Rolle bei internationalen Waffengeschäften unter der Regie der CIA

 Keine Aufklärung über Barschels häufige Besuche in der DDR

Oberstaatsanwalt Heinrich Wille wundert sich, dass der deutsche Bundesanwalt die Sache Barschel nicht an sich zieht. Er ahnt am 1. Januar 1989 noch nicht, dass er bereits in zwei Jahren den Fall übernehmen und völlig neu aufrollen muss. Zwei Jahre, in denen sich Spuren verlaufen und verwischt werden können.

Blühende Zeiten - 1989 etc.

Подняться наверх