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Ein Suizid sollte reichen
ОглавлениеAm selben Neujahrstag wirft sich Veit, mein gleichaltriger Freund aus alten Jugendzeiten, vor einen S-Bahn-Zug. Ich habe ihn zuletzt vor circa fünfzehn Jahren getroffen. Damals ging es ihm scheinbar gut. Er hatte eine Freundin und war immer noch in Opposition zum kapitalistischen Schweinesystem. Noch einmal acht Jahre zuvor – es war 1966 – hatten wir als Gymnasiasten in der Schreinerei seines Vaters kleine Hoppe-Hoppe-Holzpferdchen gebastelt, um mit einer lieblichen Provo-Reiterarmee der rücksichtslosen Reiterstaffel der gehassten Bullen Paroli zu bieten. Und natürlich, um das brutale System lächerlich zu machen. Und um mit unseren guten Argumenten in die böse Presse zu kommen.
An dem Nachmittag, an dem er entschieden hatte, dass er seinem Leben ein Ende setzen würde, klingelt das Telefon. Gerade jetzt klingelt es, als Veit seine Jacke angezogen und seine Schlüssel vom Haken genommen hat Er nimmt an, dass es seine Eltern sind, die sich wegen seiner zunehmenden Depressionen Sorgen machen. Aber Veit will mit niemandem mehr reden. Nach all den verzweifelten Jahren ist er endlich so weit. Heute würde er einen Punkt hinter alles setzen. Da will er nicht das Risiko eingehen, von irgendwem oder durch irgendetwas abgehalten zu werden.
Bevor er seine Wohnung verlässt, klebt er ein Briefkuvert an die Wohnungstür. Am Neujahrsabend will er nämlich mit einer Clique ehemaliger Arbeitskollegen und Kolleginnen essen gehen und anschließend ins Schiller-Theater. Ich hatte ihm einmal erzählt, dass ich in meiner frühen Studentenzeit in Westberlin am Schiller-Theater als Komparse gearbeitet hatte. Seitdem, so hatte er mir vor Jahren telefonisch berichtet, sei er Fan des Schiller-Theaters geworden und besuche mindestens zwei Vorstellungen im Jahr. Wir hatten darüber herzlich gelacht.
Markus, Veits ehemaliger Bürokollege, würde ihn heute abholen. Veit will ihn nicht vor geschlossener Tür endlos warten lassen. Veit geht davon aus, dass er gegen achtzehn Uhr tot sein wird und findet es daher nicht mehr als höflich und rücksichtsvoll, seinen Kumpel darüber zu informieren, dass er nicht zu warten brauche.
„Für MARKUS“, steht auf dem Briefkuvert, das er mit Tesa an die Tür klebt. Innen steht: „Bitte warte nicht. Wenn du das hier liest, habe ich mich zu einem Entschluss durchgerungen, der mein Leben für immer beeinflusst. Lebe wohl!“
Er geht zu Fuß zum S-Bahnhof Bellevue. Das ist genau die Station, an der ich früher immer ausgestiegen war, um im Dr.-Duwe-Verlag mein Volontariat und später meine journalistische Arbeit an der dort herausgegebenen Publikation, »bundesdeutsche tabus«, anzutreten. Der Fußweg dorthin beträgt für Veit knapp fünfzehn Minuten, und er sagt sich, dass er auf gar keinen Fall wieder umdrehen darf.
Vor einigen Jahren hatte er sich schon einmal auf seinen »letzten Weg« begeben und dann auf halbem Weg kehrt gemacht. Dieses Mal musste er es durchziehen. Um zu verhindern, dass er im letzten Moment Muffensausen bekommt, macht er einen unbedeutenden Umweg und kauft bei einem kleinen russischen 24-Stunden-Kiosk eine Flasche Wodka. Da er normalerweise wenig Alkohol trinkt, rechnet er sich aus, dass ihm die Flasche ausreichend Mut verleihen würde, den Sprung in den S-Bahn-Schacht zu wagen. An der Kasse fragt sich Veit, ob der kahlköpfige Russe, der ihn kurz mustert, als er ihm das Wechselgeld herausgibt, sich an ihn erinnern wird. Wahrscheinlich steht morgen in der BILD: »Junger Mann springt alkoholisiert vor Zug. Er roch nach Wodka. Stundenlanger S-Bahn-Ausfall.«
Veit bekommt ein schlechtes Gewissen – wegen dem Ausfall der Verkehrsverbindung, wegen der Rettungskräfte, die seine Reste aufsammeln müssen, wegen der Passagiere, die seinen Sprung vielleicht hilflos mitansehen müssen, wegen des Zugführers, der ihn springen sieht und einen Schock erleidet. Aber Veit will nicht mehr zurück. Sein Leben ist nur noch eine Qual. Täglich denkt er an den Tod. Eine Lösung muss her. Eine Erlösung.
„Und erlöse mich von dem Leid und dem Übel und all der trügerischen Herrlichkeit“, betet er vor sich hin. Doch er glaubt nicht an einen Gott, der ihm ein solch erbärmliches Leben geschenkt hat. Dabei war alles einmal ganz anders gewesen. Daran denkt Veit jetzt nicht. Er konzentriert sich auf das für ihn Wesentliche. Er steigt die Stufen zur Fahrtrasse empor und schlendert ohne Fahrkarte auf den Bahnsteig.
Oben angekommen, sieht er auf der Uhr, dass die nächste Bahn Richtung Grenzübergang Friedrichstraße schon in zwei Minuten kommt. Das ist ihm zu schnell. Noch weitere acht Fahrgäste warten auf die S-Bahn. Er geht weiter weg von ihnen bis ans Ende des Bahnsteigs, wo der Führerstand der Bahn zum Halten kommen wird. Als die Bahn kommt, hält die Zugmaschine genau vor ihm, und der Zugführer und Veit schauen sich einen Moment eindringlich in die Augen.
Dieser Mann wird sich an mich erinnern, denkt Veit. Schließlich wird die nächste Bahn morgen in der Zeitung erwähnt werden – und ihm, Veit, zur Erlösung verholfen haben. Der Zugführer schaut noch einmal kurz zu Veit, dann rauscht die S-Bahn ab.
Ein Signal ertönt. Auf der Anzeigetafel erscheint plötzlich ein Text, der Veit in Erregung versetzt. Er hat gesehen, wie relativ langsam die Bahn in die Station eingefahren ist. Eigentlich müsste er am Anfang des Bahnsteigs springen, wo die Bahn einfährt, denn dort hat sie noch genügend Geschwindigkeit, um auf keinen Fall abrupt stoppen zu können. Zumindest ist es für ihn in seiner Vorstellung angenehmer, wenn sich alles in Sekundenbruchteilen abspielt.
Auf der Anzeigetafel aber steht jetzt: „Von der Bahnsteigkante zurücktreten! Der nachfolgende Zug macht keinen Halt und fährt bis Friedrichstraße durch!“
Ideal, denkt Veit, diese Bahn soll meine sein! Er steht immer noch am Bahnsteig-Ende in Richtung Ausfahrt. Da keine Zeitangabe auf der Tafel erscheint, muss er nach Gehör gehen. Veit muss schnell handeln, deshalb nimmt er jetzt einen großen Schluck Wodka aus der Flasche und geht strammen Schritts über den leeren Bahnsteig. In der Mitte der Station nimmt er einen noch größeren Schluck, Feuerwasser, denkt er. Und er spürt, wie ihm übel wird. Trotzdem beschließt er, Schluck für Schluck weiter zu trinken, bis er schließlich am Beginn der Zugeinfahrt angelangt ist. Die Flasche ist nun leer. Er stellt sie neben einen Abfallbehälter. Er schaut in das Gleisbett und verlässt sich auf sein Gehör. Der Wodka wirkt, sein Zeitgefühl schwindet.
Veit setzt sich auf die letzte Bank am Bahnsteig, wo der Zug bald einfahren wird. Noch ist kein Geräusch zu hören. Er weiß, dass es gleich so weit ist und schaut mit glasigem Blick auf die Uhr. Es ist 17:14 Uhr, vielleicht auch 17:18 Uhr; das Ziffernblatt verschwimmt etwas vor seinen Augen, es ist ihm egal. Wenn er die Bahn kommen hört und der Luftzug zu spüren ist, wird er vortreten und springen. Heute, am Neujahrstag, sind wenige Leute unterwegs; Veit sieht gerade ein Pärchen am anderen Ende der Bahnstation die Treppe heraufkommen.
Sein Blick fällt auf eine Litfaßsäule mitten auf dem Bahnsteig, sie erscheint ihm wie eine Telefonzelle. Er überlegt kurz, ob er doch noch seine Ex-Freundin anrufen soll. Erst vor sechs Wochen getrennt, telefonieren die beiden recht oft miteinander und sind nun »gute Freunde«, wie man so schön sagt, wenn man die ganze Wahrheit nicht besser auszudrücken vermag. Er verwirft den Gedanken sofort, weil er dann die Chance verpassen würde, von dem durchrauschenden Zug erfasst zu werden. Besser, ich unterlasse den Anruf, sagt er sich.
Veit steht auf, gleich wird es so weit sein. Er verspürt keine Panik; der Wodka hat seinen Zweck bisher erfüllt, er fühlt die Bestätigung dessen, was er die ganze Zeit über gewusst hatte – es ist so weit. Er ist bereit. Ohne Reue. Ohne Bedenken. Er müsste in wenigen Minuten nur noch ein paar Schritte tun. Während er hin und her geht, schließt er die Augen, stöhnt leise und öffnet sie schnell wieder. Er ist ein wenig benommen. Sobald sich der nahende Zug ankündigte, würde er nach vorne gehen, bedächtig und ohne Anzeichen irgendeiner Aufregung. Er würde dort warten, bis die Zugschnauze in der Kurve vor der langen Einfahrt zu sehen ist. Dann würde er einfach springen. Ein Sprung, das war‘s.
Veit hört das Rauschen des nahenden Zuges. Die S-Bahn kommt, nimmt die Kurve, rast auf ihn zu. Er geht bis an die Bahnsteigkante. Er ist sich absolut sicher, dass er das hier tun sollte. Veit schaut nicht mehr nach anderen Leuten, schaut nicht mehr nach links oder rechts oder zurück. Er wartet die Bruchteile von Sekunden, bis der Moment da ist, an dem er die Augen schließt und sich nach vorne fallen lässt. Doch im letzten Moment beschließt er, es mit einem Kopfsprung wie vom Drei-Meter-Brett zu machen.
Er springt.
Mit einem harten Schlag, ähnlich einem Bauchplatscher, landet Veit auf den Gleisen. Er spürt nichts, keinen Schmerz, keine Angst. Er hebt den Kopf etwas und blickt zur Seite, wo er den Zug direkt auf sich zurasen sieht, ganz nah. Er kneift die Augen fest zu und schreit, so laut er kann, während er auf den tödlichen Schlag wartet.
Er hört zu schreien auf, als die Bahn über ihn hinwegrast und der Schock ihn aus dem Wodkarausch wachrüttelt. Blitzschnell wird ihm klar, dass er noch nicht tot ist. Er riecht erhitztes Metall und ist noch zu einer Überlegung in der Lage. Er muss nur noch kurz den Kopf aufrichten, um von der Unterseite der über ihn hinwegschießenden Bahn erfasst zu werden.
Er will sich zwar aufrichten, kann es aber nicht. Er bemerkt, wie sich die Bahn verlangsamt und hört das Kreischen der Bremsen. Und dann kommt der Schmerz mitsamt einem starken Ohrensausen. Der Schmerz ist unmenschlich. Solch einen Schmerz hat Veit noch nie verspürt. Er versucht die Lippen zu bewegen, um etwas herauszuschreien, aber er kann nur flüstern: „Helft mir … Hilfe …“
Dann plötzlich verschwinden die Schmerzen wie von Zauberhand, und er spürt eine ungeheure, wohltuende Wärme, die ihn flutet und beruhigt. Er weiß, dass er jetzt endlich sterben wird und schließt erleichtert seine Augen. Es ist vollbracht, aus und vorbei. Endgültig. Gott sei Dank.
Um diese Zeit herum, zwischen fünf und sechs Uhr abends am Neujahrstag, verabschiedeten Emma und ich unsere Verwandten und wünschten ihnen noch einmal ein glückliches und gesundes neues Jahr. Meine Eltern gingen nach oben, Lollo musste meinen Vater stützen, weil er ihr wackelig vorkam. Emma und mir war es nicht aufgefallen.
„Sie ist überbesorgt“, meinte Emma.
„Er baut rapide ab“, sagte ich. Ich schaute nachdenklich aus dem Fenster. Die Außentemperatur betrug 3,8 Grad, wie unser Thermometer am äußeren Fenstersims anzeigte. Es war regnerisch, ein ungemütliches Wetter. Ich dachte nicht an Veit, der im Gleisbett seinen Tod sehnlich erwartete. Warum auch? Ich dachte nicht an früher, nicht an alte Freundschaften. Ich wusste nichts von Veits Schicksal, hatte jahrelang nichts von ihm gehört.
Meine Gedanken waren schon in der unmittelbaren Zukunft, bei der GTU; ich dachte an unternehmerische Ausbaumöglichkeiten, an neue Kursangebote und an das zukünftige Umweltzentrum, das ich schon in drei Monaten gründen würde. Eine Gästeliste und ein Kulturprogramm waren zu erstellen, und ich musste die Einladungen an die vorgesehen Redner zur Einweihung des Zentrums vorbereiten. Ich dachte an meinen morgigen nächsten Arbeitstag, denn ich hatte im Gegensatz zu meinen Mitarbeitern keine Weihnachtsferien. Aber ich würde mir die Arbeitszeit familienfreundlich einteilen.
Morgen würde ich erst nach einem ausgiebigen Frühstück ins Büro fahren. Die Fahrt durch die Stadt würde stressfrei sein. Keine langen Autoschlangen vor Ampeln, kein Wettbewerb darum, wer bereits bei Orange einen fulminanten Start hinlegen würde, um mit kreischenden Reifen eine Nasenlänge vor mir die Spur zu wechseln. Um sodann festzustellen, dass vor der kommenden Kreuzung genau auf dieser Spur bereits ein Auto steht, um schließlich noch einmal schnittig die Spur zu wechseln, um endlich an der nächsten Kreuzung mit langgezogener Fresse und angezogener Handbremse genau neben mir wieder zum Stehen zu kommen.
Wie es meine Art war, legte ich mir ausführlich meine Planung stichpunktartig zurecht. Ich würde gegen ein Uhr zum Mittagessen nach Hause fahren. Dann wieder zurück ins Büro und bis zum Nachmittagskaffee arbeiten. Danach werde ich Emma kurz im Haushalt helfen. Ich werde mit Karola und Luca spielen, sie später gegen neunzehn Uhr ins Bett bringen, ihnen etwas vorlesen, und wenn sie schlafen, werde ich mit meiner Frau die Kursplanungen für das kommende Jahr zu Papier bringen. Dazu werde ich aus dem Büro einen großen Papierkalender mitbringen, obwohl Pinkus, mein guter alter Klassenkamerad und Freund und jetziger EDV-Berater, meinte, wir könnten das viel praktischer auf dem Macintosh machen. Aber Emma und ich trauten uns noch nicht. Grafik, Tabellen und Diagramme – das waren für uns noch heilige Kühe, an die wir uns nicht heranwagten.
Ich nahm mir vor, in den nächsten Tagen die Eröffnung des Umweltzentrums Rhein-Main auch inhaltlich exakt vorzubereiten. Meine Rede musste ich endlich konzipieren. Nächste Woche würde ein neues Umweltunternehmen unter dem Dach der GTU in Angriff genommen. Vier Dozenten hatten sich selbständig gemacht und das Umweltinstitut Offenbach als GmbH gegründet. Sie wollen Planungsaufgaben, Gutachten und Laboranalysen für Kommunen, für Klein- und Mittelbetriebe anbieten.
„Wir werden eine tolle Kooperationsgemeinschaft bilden“, hatte ich zu Emma gesagt.
„Aber wie willst du die Lehrkräfte auf Dauer ersetzen? Die vier fallen ja weg.“
„Sie bleiben ja für ein halbes Jahr noch als GTU-Beschäftigte dem Unterricht erhalten. Damit haben sie einen leichteren Start in die Selbständigkeit und wir haben somit keine akuten Nachwuchssorgen. Denn Dozenten wachsen in unseren Akademikerkursen nach wie in einem ökologischen Treibhaus. Darum ist mir nicht bange.“