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Und ich düse, düse im Sauseschritt

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Salman Rushdie ist ein indisch-britischer Schriftsteller, und ich weiß, dass er zu den zeitgenössischen Vertretern der britischen Literatur gehört. Ich mochte seine Erzählungen nicht sonderlich.

„Literatur ist Geschmackssache, daran kann man nicht rütteln“, antwortete ich in der Saunarunde mit unseren Nachbarn, als Gunnar mich fragte, was ich von Rushdie halte.

„Ich meine doch nicht seine Literatur“, sagte Gunnar.

„Und ich meine nur seine Schreibe“, antwortete ich. „Irgendwie komme ich damit nicht klar. Seine Erzählungen schwanken zwischen einer Märchenwelt und unserer Wirklichkeit, sodass ich manchmal nicht weiß, worum es sich handelt. Sein Stil ist mir einfach zu anstrengend. Ich lese gerne, um mich zu entspannen. Wenn dabei etwas Wissen abfällt, umso besser. Rushdie ist da nichts für mich.“

„Ja, er vermischt Mythos und Fantasie mit dem realen Leben. Dieser sogenannte »magische Realismus« ist nicht jedermanns Sache, okay.“ Gunnar läuft der Schweiß über das Gesicht, und er schaut auf das Thermometer. „Wir haben hier drin 86 Grad, puh.“

Im Iran hat Ajatollah Khomeini alle Moslems zur Ermordung von Rushdie aufgerufen. Fatma heißt das auf Islamistisch, das klingt irgendwie sachlicher. Der Autor hätte mit seinem Roman „Die Satanischen Verse“ den Propheten Mohammed verunglimpft.

„Jetzt sind wir schon so weit, dass die religiösen Fanatiker im Ausland unsere Schriftsteller im Westen bedrohen und zum Abschuss freigeben. Wo wird das noch enden?“, empörte sich Tobias.

Auch mir war es zu heiß, und ich stieß die Sauna-Tür nach außen auf, um mich gleich unter der eiskalten Schwalldusche abzukühlen.

Tobias und seine Frau Anne waren stark christlich ausgerichtet, und natürlich lag er mit seiner Bemerkung richtig. Spontan dachte ich dennoch an jene radikalen Christen, die Abtreibungen für Teufelswerk hielten. Sie scheuten sich nicht davor, selbst vergewaltigten minderjährigen Mädchen und deren Abtreibungsärzten mit Tod und Teufel zu drohen. Sie fügten ihnen, ohne mit der Wimper zu zucken, seelischen und körperlichen Schmerz zu, weil nach ihrer fanatischen Auffassung der heranwachsende Fötus unbedingten Vorrang habe – selbst unter Bedingungen einer Vergewaltigung.

Ich hielt meine Meinung zurück, weil der Vergleich in diesem Fall hinkte. Es war freilich etwas ganz anderes, wenn ein Staatsführer seine weltweite Anhängerschar zu einem gezielten Mord aufrief.

„Salman Rushdie wird sich ein Leben lang verstecken müssen“, sagte ich. „Ein Leben in der persönlichen und materiellen Isolation. Schrecklich!“

„Schon gehört? In Ungarn verzichten die Kommunisten auf ihren Führungsanspruch. Freiwillig!“, wechselte Gunnar das Thema.

„Und die Volkskammer hat den ständig in der DDR lebenden Ausländern, den Mozambikanern, Vietnamesen und Kubanern das aktive und passive kommunale Wahlrecht eingeräumt“, sagte ich, da mir Tamara aus Ostberlin gerade einen Brief geschrieben hatte, in dem sie darauf hinwies. Ich verstand ihre Anspielung, denn wir hier in der BRD taten uns noch schwer mit der Integration, insbesondere mit der kommunalen Wahlbeteiligung unserer Gastarbeiter und ihrer Nachfolge-Generationen.

„Na, heute sind wir ja allumfassend über das wichtigste Weltgeschehen informiert“, lachte Gunnars Frau Moni. Und dann legte sie in ihrer unverwechselbaren mütterlichen Art nach und kam auf das Thema Kindererziehung zu sprechen.

Wie so oft ging es auch heute wieder einmal bei den Frauen um das Leistungsprinzip bei unseren Kids. Was durfte man von den Kleinen fordern, was war eine Überforderung? Sie diskutierten in der Küche, wo sie die Salate für unser gemeinsames Essen nach der Sauna vorbereiteten.

Bei uns Männern ging es um die Haare. Wir wussten ja noch, wie bescheuert damals der Kampf um die Haarlänge gewesen war. Aber unser Diabetologe Tobias, Jahrgang 1958, legte bei seinem siebenjährigen Jungen immer noch auf „gepflegte kurze Haare“ Wert – wie die Alten anno dazumal, über die ich mich als Sechzehnjähriger 1966 so schrecklich aufgeregt hatte.

„Und was hält Felix von gepflegten kurzen Haaren?“, fragte ich grinsend.

„Nichts. Er hört einfach nicht auf mich.“ Tobias zuckte mit den Schultern, um damit zu zeigen, dass er ratlos war.

Stefan, unser Jungschauspieler, mischte sich in die Diskussion ein. Aber war er eigentlich noch ein Jungschauspieler? Inzwischen war er immerhin 29 Jahre alt und seit sieben Jahren auf der Bühne. Wir waren gewohnt, dass Stefan kein Blatt vor den Mund nahm. „Felix hat alles, was er an materiellen Dingen braucht. Aber ein Kind benötigt mehr als nur das. Es muss sich entfalten und braucht dazu die angemessene Freiheit“, sagte er.

Ich verstand Stefans Hinweis als den Seitenhieb eines zehn Jahre Jüngeren gegen uns Alte. Insbesondere als einen Seitenhieb sowohl gegen Tobi als auch gegen Gunnar, der seinen siebenjährigen Sohn Philip enorm gängelte und in ein elterlich gestricktes Ordnungssystem zu pressen versuchte. Unwillkürlich kam mir Gunnars Schubladensystem, an dem sich sein Sohn Philip strikt zu orientieren hatte, in den Sinn.

Tobias sah Stefan verwundert an. „Wie meinst du das?“

„Erinnert euch mal an eure eigene Jugend“, erklärte Stefan. „Eltern wissen doch angeblich immer, was für ihre Kids gut und richtig ist. Gegen diese Übermacht von Wissen, Erfahrung und finanzieller Abhängigkeit können sich die Jungen nur durch irgendeine Art Flucht retten. Die Jugend muss mehr selbst entscheiden können.“

„Aber wie kann man den Fehler – durch unser erzieherisches Verhalten das Kind in die Opposition zu drängen – vermeiden?“, fragte eine leise Stimme. Sie gehörte zu Anne. Anne und Tobias hatten ihre behinderte Tochter Lydia vor einem Jahr verloren, als die Kleine, kaum vier Jahre alt, die Treppe hinuntergestürzt war. Ihr Sohn Philip war jetzt ihr Ein-und-Alles. Beaufsichtigungs- oder Erziehungsfehler wollten sie mit aller Macht vermeiden – so jedenfalls kam es mir vor. Ihr Verhalten äußerte sich in einer ständigen Beobachtung des Jungen, dabei beurteilten und bevormundeten sie ihn permanent. Das ließ dem Kleinen wenig Freiraum.

Emma stellte die Salatschüsseln auf den Tisch und fragte: „Was sind denn eigentlich die Anlässe, die zwischen uns und unseren Kids oft zu Streit führen? Es sind doch oftmals Nichtigkeiten: die Länge der Haare, die Kleidung, Radio-Lautstärke, Schönschreiben bei Hausaufgaben und solche Dinge. Was wir uns dabei immer fragen sollten, ist doch: Wie wichtig ist es für die Zukunft des Kindes, dass es die Haare kurz trägt? Dass es schön schreibt? Dass es sein Spielzeug nicht kaputt macht?“

Einen Moment herrschte Schweigen und man hörte nur das Klappern des Geschirrs, das Moni gerade auf dem Esstisch verteilte.

„Wenn es nicht wesentlich ist“, unterbrach Stefan die Stille, „sollten Eltern mit ihren Erwartungen einfach auch mal zurückstehen können. Liebe, Freiheit und Vertrauen sind die Stichworte.“

Emma ging zu unserem neuen Schallplattenspieler und legte Anette Humpes Single Codo von 1983 auf.


Seit zweitausend Jahren lebt die Erde ohne Liebe

Es regiert der Herr des Hasses“

Hässlich, ich bin so hässlich

So grässlich hässlich


Ich bin der Hass

Hassen, ganz hässlich hassen

Ich kann‘s nicht lassen

Ich bin der Hass


Attention, attention

Unknown flying object approaching the planet“


Identify unknown flying object“

Codo, der Dritte, aus der Sternenmitte

Bin ich der dritte von links

Unknown flying object identifies as Codo!“


Und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt

Und bring‘ die Liebe mit

Von meinem Himmelsritt

Denn die Liebe, Liebe, Liebe

Liebe, die macht viel Spaß

Viel mehr Spaß, als irgendwas


We do not need any love on this planet

Tötet Codo, vernichtet die Liebe“


Zielansprache Gamma Delta 731 über Raum“


Codo aus der Ferne, der leuchtenden Sterne

Ich düse so gerne durch‘s All


Und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt

Und bring‘ die Liebe mit

Von meinem Himmelsritt …


Objekt überwindet den Hassschirm“


Ätzend, ich bin so ätzend

Alles zersetzend, ich bin der Hass


Und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt

Und bring‘ die Liebe mit

Von meinem Himmelsritt

Denn die Liebe, Liebe, Liebe

Liebe, die macht viel Spaß

Viel mehr Spaß, als irgendwas

„Was die früher nur immer mit dem Hass am Hut hatten, so hasserfüllt war doch die Gesellschaft vor zehn oder zwanzig Jahren gar nicht!“, sagte Tobias.

„Du gehörst zu der Generation, die den Hass der Alten auf die Jungen nicht mehr kennt. Du hast den kleinbürgerlichen Hass auf die damalige Ideenwelt der Jugend, die von einem menschlichen Paradies träumte, nicht mehr miterlebt“, sagte Doris.

Mich wunderte, dass sich unsere Optikerin so prononciert über die Zeit des damaligen demokratischen Neuwagnisses äußerte. Sie war eher konservativ strukturiert und hatte sich stets aus allem, was auch nur im Ansatz politisch zu sein schien, herausgehalten. Doris hatte sich offenbar gewandelt und fand nichts mehr dabei, Stellung zu beziehen.

„Na ja, ist auch egal. Das mit der Liebe ist ja das Wesentliche, denn die macht viel mehr Spaß als irgendwas“, sagte ausgerechnet unser furztrockener Tobias mit einem derart sexy Grinsen im Gesicht, wie ich es bei ihm noch nie gesehen hatte. Es erinnerte mich an das gutbürgerliche Ehepaar, das in früherer Zeit über meinem Sou­terrainzimmer mit lustvollem Bettgestöhne mein Kopfkino als Sechzehnjähriger in Gang gesetzt hatte. Fast hätte dies meine damalige Sicht über die prüde Erwachsenenwelt ins Wanken gebracht.

Und heute brachte mich die Bemerkung von Tobias etwas aus der Balance. Aber da waren bereits die Gespräche der Frauen über das Leistungsprinzip im Gange. Man dürfe nicht den elterlichen ungezügelten Ehrgeiz auf das Kind übertragen, meinte Doris, die sich mit ihrem kinderlosen Singledasein offenbar abgefunden hatte. Jedenfalls hatte sie seit Monaten keinerlei Bemerkung mehr über partnertaugliche Männer fallen lassen.

„Den meisten von euch bedeutet schulischer Erfolg alles. Das ist ein Fehler“, sagte sie.

Moni fühlte sich betroffen und wehrte ab: „Du siehst das nur aus deiner Perspektive. Das ist einseitig.“

„Willst du damit sagen, dass ich als Mutter keiner Kinder, keine richtige Sichtweise haben kann?“

Wir mussten lachen, denn »Mutter keiner Kinder« – das war ein toller Ausdruck.

„Nein, nein“, wandte Moni ein, „aber ich denke, dass alles an der schulischen Bildung hängt. Sagen wir so: die ganze Zukunft eines Kindes hängt daran. Du kannst das nicht verstehen!“

„Das sehe ich wahrhaftig anders“, verteidigte sich Doris. Ihr Gesicht hatte eine Rötung angenommen, die nicht allein dem letzten Saunagang geschuldet sein konnte. Man spürte, dass sie sich als Nichtmutter nicht ernst genommen fühlte und Monis Aussage als Frontalangriff empfunden hatte. „Neben der Schule gibt es halt auch noch ein anderes Leben. Spiel, Umgang mit Freunden wie überhaupt den gesamten Bereich des Sozialverhaltens vernachlässigen manche Eltern und ordnen das alles dem schulischen Erfolg unter. Damit belohnen sie ihre Kinder einseitig für schulische Leistungen. Somit wird für das Kind der schulische Erfolg zum einzig erstrebenswerten Ziel, und ein Misserfolg in der Schule muss wie ein totales Versagen erlebt werden.“

„Was willst du damit andeuten? Die Schule soll zweitrangig sein?“, fragte Gunnar, wahrscheinlich um seine Moni zu verteidigen. Denn diesen Reflex hatte ich bei den beiden schon des Öfteren beobachtet.

„Ich will auf folgendes hinaus: Ein Kind, dessen Selbstwertgefühl weitgehend von Erfolg oder Misserfolg in einem einzigen Lebensbereich abhängig ist, steht unter dauerndem Prüfungsstress, und sein psychischer Zustand wird so labil sein wie seine Leistungen auf dem betreffenden Gebiet.“ Doris schaute sich hilfesuchend im Kreis um.

Emma nickte zustimmend und sagte: „Den Fehler der Einseitigkeit in der Erziehung können wir vermeiden, indem wir möglichst viele Aktivitäten unserer Kinder durch unser Interesse und unsere Teilnahme belohnen. Wir sollten keine Angst haben, dass die Schule dabei zu kurz kommt.“

„Die Hobbys der Kids sind selten der Grund für Schulversagen“, sagte Stefan, „weit häufiger ist es das Verbot der Hobbys durch die Eltern. Das ist jedenfalls meine bescheidene Erfahrung. Je vielseitiger ein Kind aktiv ist, desto schneller kann es sich auf neue Situationen einstellen und wird damit auch leichter mit schwierigen Situationen in der Schule fertig.“

„Du sprichst ganz sicher aus eigener Erfahrung“, sagte Gunnar und lächelte Stefan über die Salatschüssel hinweg an.

„Schon ein elterliches Lächeln kann sozial belohnen!“, lachte Stefan zurück. Wir beschlossen den Sauna­abend mit einem Umtrunk und wünschten uns eine gute Nacht.

In dieser Nacht zitterte eine Frau einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes entgegen. Sie konnte kaum ein Auge zumachen. Nur drei Kilometer Luftlinie von unserem Wohnort entfernt lag das Preungesheimer Frauengefängnis. Am Morgen des nächsten Tages erlebte diese Frau, die ihre beiden Töchter durch Mord verloren hatte, eine schreckliche Enttäuschung. Die Mutter der ermordeten Kinder hieß Monika Weimar. Man hatte sie in Fulda ein Jahr zuvor als Mörderin ihrer beiden Mädchen verurteilt. Aber sie hatte stets ihre Unschuld beteuert, wenngleich sie sich schuldig fühlte, weil sie die Mädchen an jenem verhängnisvollen Abend, dem 3. August 1986, ihrem unberechenbaren Mann zur Betreuung überlassen hatte. Ihre Ehe war damals bereits kaputt, eine Trennung stand bevor. Sie war ausgegangen und hatte sich einen schönen Abend gemacht. Unverzeihlich?

Jetzt, am Mittag des 17. Februar 1989, wurde sie in das Büro der Sicherheitsbeamtin gerufen. Sie teilte der Gefangenen mit, dass die Revision abgelehnt worden war. Die beiden schwersten Formfehler, die die Anwälte aufgeführt hatten, das Valium bei den Prozessterminen und die Gegenwart der Journalisten bei den Ortsterminen, hatte der Bundesgerichtshof nicht gelten lassen.

Frau Weimar fing an zu weinen und schrie: „Das kann nicht wahr sein!“ Ihre Hoffnungsgerüst – ein volles Jahr lang Stunde um Stunde gehegt – brach in diesen Sekunden zusammen. Kurz danach rief auch schon ihr Anwalt direkt aus Karlsruhe an. Er sprach mit einer Sozialarbeiterin. Sie ging sofort zu der Gefangenen, nachdem man diese in ihre Zelle zurückgebracht hatte, um sie zu trösten. Aber das konnte niemand mehr. Monika Weimar bekam daraufhin Beruhigungsmittel und schlief irgendwann ein.

Ein Jahr lang hatte sie darauf gehofft, dass ihr Prozess neu aufgerollt werden würde, damit sie endlich ihre Unschuld beweisen konnte. Das Urteil in erster Instanz wies allerlei grobe Ungereimtheiten auf. Nun hatte sie endgültig das Gefühl, dass die Welt sie und das ihr angetane Unrecht vergessen würde. Sie glaubte, dass sie auf unabsehbare Zeit hinter verschlossenen Türen würde leben müssen. Weiter so leben wie seit zweieinhalb Jahren.

Blühende Zeiten - 1989 etc.

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